Antisemitismus, die Legende der jüdischen Weltverschwörung und die Psychologie der Verschwörungsmentalität

Der vorliegende Beitrag leistet einen Überblick über die psychologische Forschung zu Verschwörungsglauben und speziell dem Konzept der Verschwörungsmentalität. Dieses wird in Beziehung gesetzt zu antisemitischen Weltbildern, speziell dem strukturellen Antisemitismus. Er zeichnet nach, inwiefern die manichäische Imagination übermächtiger Strippenzieher*innen sich sowohl im Antisemitismus als auch in personalisierender Kapitalismuskritik und modernen Verschwörungsmythen wiederfindet. So entspringen Verschwörungserzählungen und das Schimpfen auf moralisch verkommene Manager*innen einer ähnlichen Weltsicht wie das antisemitische Ressentiment, auch ohne explizite Referenz auf die Jüdinnen*Juden. Diese Haltung, so wird abschließend argumentiert, hat nur wenig mit einer ernstgemeinten Kritik an gesellschaftlichen Zuständen, dafür umso mehr mit der Aufkündigung von jeglichen gesellschaftlichen Vermittlungsprozessen zu tun und ebnet so den Weg zu Gewalt und Radikalisierung.

 

Im Rahmen der globalen Covid-19-Pandemie gab es innerhalb kürzester Zeit nach Ausbruch des Virus im chinesischen Wuhan eine Fülle an Verschwörungsnarrativen um das Virus. Das Virus sei in Laboren als Kampfstoff gezüchtet worden oder es existiere gar nicht, Covid-19 sei nicht schlimmer als eine Grippe und die geplante Impfung ein perfider Trick, um Menschen Mikrochips zu injizieren. In Anbetracht des Zusammenhangs solcher Verschwörungsglauben und problematischem Verhalten in der Pandemie (Horten von knappen Ressourcen, Verweigerung von Hygiene- und Distanzmaßnahmen; Imhoff/Lamberty 2020b), warnte die Weltgesundheitsorganisation bereits im Februar 2020, dass die Welt nicht nur eine Epidemie, sondern eine Infodemie, eine Fülle sich schnell verbreitender Falschmeldungen zu bekämpfen habe (WHO 2020). Ebenfalls sehr früh kristallisierte sich heraus, dass hinter den diversen behaupteten Verschwörungen sehr schnell die üblichen Verdächtigen vermutet wurden: Bill Gates, George Soros und eben ganz generell die Jüdinnen*Juden (Community Security Trust 2020). Warum landen so viele Verschwörungsnarrative unweigerlich bei „den Jüdinnen*Juden“? Welche Weltsicht steckt hinter dem Glauben an Verschwörungen und wieso ist Antisemitismus so häufig damit verquickt?

Verschwörungsmentalität als Weltbild

Zu nahezu jedem Ereignis von einiger Relevanz gibt es eine alternative Erklärung mit Verweis auf eine dahinterliegende Verschwörung. Ob es Pandemien, terroristische Attentate, die Erderwärmung oder der Tod prominenter Personen ist – stets gibt es Menschen, die die offizielle Version anzweifeln und stattdessen auf dunkle Mächte im Hintergrund verweisen. Das für Laien manchmal Verblüffende, in der Psychologie aber mittlerweile stabil Belegte daran ist: Es sind stets mehr oder weniger die gleichen Personen, die jedweder dieser Verschwörungsnarrative zustimmen (Bruder et al. 2013). Dies ist selbst dann der Fall, wenn diese sich logisch eigentlich ausschließen sollten („Prinzessin Di wurde vom britischen Geheimdienst umgebracht“ und „Prinzessin Di hat ihren Tod nur vorgetäuscht“;  Wood et al. 2012). Diese Befunde legen den Schluss nahe, dass sich hinter der Zustimmung zu bestimmten Verschwörungserzählungen nicht unbedingt eine spezifische Meinung zu einem konkreten Thema, sondern ein generelles Weltbild verbirgt, eine Verschwörungsmentalität (Imhoff/Bruder 2014). Erfasst wird diese Eigenschaft in der Forschung durch die Erfragung des Grades der Zustimmung zu mehreren Aussagen wie „Politiker und andere Führungspersönlichkeiten sind nur Marionetten der dahinterstehenden Mächte“ oder „Die meisten Menschen machen sich keine Vorstellung davon, wie sehr unser Leben bestimmt wird von im Geheimen geschmiedeten Plänen“.

Verschwörungsmentalität ist hier zu verstehen als eine bestimmte Geisteshaltung, in der sich Menschen graduell unterscheiden. Das heißt, es gibt nicht die eine Gruppe der Verschwörungsgläubigen und die andere der Skeptiker. Stattdessen gibt es viele Schattierungen von grau, die sich sehr kontinuierlich in der Bevölkerung verteilen (Imhoff 2015). Nur wenige haben ein geschlossenes Weltbild, wonach alles von dunklen Strippenzieher*innen bestimmt wird. Ebenso wenige aber lehnen die Möglichkeit komplett ab, dass geheime Organisationen ihre wahren Ziele verbergen. Die allermeisten Menschen befinden sich irgendwo in der Mitte zwischen diesen beiden Polen. Wenn ich in der Folge über Zusammenhänge mit dieser Verschwörungsmentalität spreche, geht es also stets um einen proportionalen Zusammenhang. Je ausgeprägter die Verschwörungsmentalität, desto stärker zum Beispiel die Zustimmung zu antisemitischen Aussagen.

Die Zusammenhänge zwischen Verschwörungsmentalität und weiteren psychologischen Konstrukten können helfen, die Motive und Bedürfnisse hinter solch einer Weltsicht besser zu verstehen. Zum Beispiel gibt es robuste Zusammenhänge mit dem Gefühl der Machtlosigkeit oder auch reduzierter Kontrolle über das eigene Leben (Imhoff/Lamberty 2018), wie sie sich auch in Arbeitslosigkeit äußert (Imhoff 2015). Gleichzeitig sind Zusammenhänge zu erkennen mit der Neigung, animierten Formen (Douglas et al. 2016) oder Gegenständen (Imhoff/Bruder 2014) Intentionen zu unterstellen und in zufälligen Anordnungen Muster zu erkennen (van Prooijen et al. 2018). Menschen, die sich selbst als einer Kontrolle beraubt erleben, nutzen also Verschwörungsnarrative, um eine Illusion von Kontrolle wiederherzustellen. Der Zufall kann nicht kontrolliert werden, man ist ihm einfach ausgeliefert. Indem aber etwas anderes behauptet wird als der Zufall, nämlich ein Muster, eine Ordnungsmäßigkeit und eine Intention dahinter, kommt zumindest die Möglichkeit von Kontrolle wieder ins Spiel. Verschwörern kann man das Handwerk legen, dem Zufall nicht. Ein anderes Bedürfnis, das Verschwörungsnarrative erfüllen, ist das nach Einzigartigkeit. Menschen wollen einerseits dazugehören und nicht ausgeschlossen sein, andererseits auch nicht komplett in einer anonymen Masse aufgehen, sondern ein einzigartiges Individuum bleiben. Hierbei können Verschwörungsnarrative helfen, weil sie vermeintlich exklusives Wissen sind. Während alle anderen dumme Schlafschafe sind, die sich an der Nase herumführen lassen, ist man selbst in der besonderen Situation, die Verschwörung und ihre Ablenkungsmanöver zu durchschauen. Menschen mit einem erhöhten Bedürfnis nach Einzigartigkeit stimmen Verschwörungsnarrativen eher zu (Imhoff/Lamberty 2017).

Dieses Weltbild, dass hinter den Dingen die Pläne geheim operierender Gruppen stecken, hat Folgen für die Beziehung zu mächtigen Gruppen. Einerseits müssen die Verschwörer*innen fast schon logischerweise Macht haben, sonst wären sie kaum in der Lage, ihre Pläne so perfide umzusetzen und die Welt zu täuschen (Imhoff/Lamberty 2020a). Andererseits verallgemeinern Verschwörungsgläubige dieses Misstrauen gegenüber Mächtigen. Sobald eine Gruppe Macht und Einfluss hat, so die Überzeugung, will sie uns hinters Licht führen. Verschwörungsgläubige (also Menschen mit ausgeprägter Verschwörungsmentalität) trauen zum Beispiel weniger dem, was sie als mächtig wahrnehmen, wie einflussreichen Wissenschaftler*innen (Imhoff et al. 2018) oder dem biomedizinischen Krankheitsmodell (Lamberty/Imhoff 2018). Insbesondere aber gibt es stabile Zusammenhänge zwischen Verschwörungsmentalität und Vorurteilen gegenüber als mächtig wahrgenommenen Gruppen wie Manager*innen, Amerikaner*innen und eben Jüdinnen*Juden (Imhoff/Bruder 2014).

Das Stereotyp vom Juden

Das Stereotyp vom Juden als mächtig und einflussreich ist tatsächlich eine sehr alte Figur, die eine Konstante im modernen Antisemitismus darstellt. Von den Karikaturen im Stürmer (Winiewski et al. 2015), über die Darstellung in Magazinen des italienischen Faschismus (Durante et al. 2010) bis hin zu zeitgenössischen Umfragen in den USA (Fiske et al. 2002): Jüdinnen*Juden werden als mächtig und einflussreich imaginiert. Und tatsächlich findet sich dieses Bild auch in weit älteren, anti-judaistischen Stereotypen: „die Macht, Gott zu töten, die Beulenpest loszulassen oder, in jüngerer Zeit, Kapitalismus und Sozialismus herbeizuführen“ (Postone 1986: 303). Auch wenn sich zum Teil lokal spezifische Sinnschichten über dieses alte Stereotyp gelagert haben, ist es darunter doch stets erkennbar geblieben. Für die Zeit nach 1945 attestieren Antisemitismustheoretiker*innen, inspiriert von Adorno (1975), den sogenannten sekundären Antisemitismus oder Schuldabwehrantisemitismus im Nachkriegsdeutschland. Er gilt als eine dominante Interpretation des Post-Holocaust-Antisemitismus. Die an Jüdinnen*Juden verübten Gräueltaten lösten Schuldgefühle aus, die abgewehrt werden, indem negativen Stereotypen über sie zugestimmt wird (Imhoff/Banse 2010). Demnach äußert sich der Antisemitismus nach dem Holocaust vor allem in Täter-Opfer-Umkehr, einer Abwehr von Reparationszahlungen und der Forderung nach einem Schlussstrich (Bergmann 2006; Imhoff 2010). Bei genauerer Betrachtung ist diese Semantik des Antisemitismus zwar eng mit deutschen Erinnerungsdiskursen verknüpft, sie bedient sich aber auch älterer Stereotype: Jüdinnen*Juden sind hier Hüter der Erinnerung, die die Macht haben, den Deutschen auch heute noch den Nationalsozialismus in die Lehrpläne und das öffentlich-rechtliche Fernsehen zu diktieren und so die „Dauerpräsentation unserer Schande“ (Walser 1998) zu gewährleisten. Sie operieren vermeintlich mit findigen Anwält*innen von der amerikanischen Ostküste, um Reparationszahlungen durchzusetzen, die gar nicht den eigentlichen Opfern, sondern nur gierigen Anwält*innen zugutekommen, sie betreiben eine regelrechte Holocaust-Industrie (Finkelstein 2001).

Es ist diese Imagination einer jüdischen Macht, die das antisemitische Vorurteil von den meisten anderen unterscheidet. Rassistische Weltbilder rekurrieren häufig auf die Überlegenheit des eigenen Volkes. So wird die Unterwerfung und Ausbeutung anderer gerechtfertigt. Das Recht des Stärkeren ist Teil einer natürlichen oder gottgewollten Ordnung. Man kann Kolonisierte zum Beispiel einfach verschleppen, ausbeuten und verkaufen. Gegenüber Gruppen, die als allmächtig imaginiert werden, ist die Logik aber nur schwer anwendbar. Umgekehrt suchen Menschen in Krisenzeiten nach Sündenböcken, denen sie die Schuld an der erlebten Krise geben können. Schwache, unterlegene Gruppen liefern hier keinen geeigneten Sündenbock – wie sollten sie mit ihren begrenzten Mitteln eine Weltwirtschaftskrise oder Pandemie auslösen? Deshalb werden als Sündenböcke vorwiegend als mächtig imaginierte Gruppen auserkoren (Glick 2002). Und deshalb erfüllen – historisch betrachtet – Jüdinnen*Juden überproportional häufig diese Funktion eines Sündenbocks für schwere Krisen (Allport 1954). In der Forschung zu Verschwörungsnarrativen ist ein häufig referierter Befund, dass Verschwörungen sich für große Krisen wie Pandemien oder politische Attentate deshalb anbieten, weil große Ereignisse große Ursachen erfordern (Leman/Cinnirella 2007). Einen Tsunami mit anschließender Reaktorkatastrophe mit zufälligen tektonischen Ereignissen zu erklären, erscheint vielen wenig befriedigend. Ein ungeheures Verbrechen wie ein US-amerikanisches Experiment mit hochfrequenten Radiowellen (HAARP) zu vermuten, erscheint da schon proportional angebrachter. Strukturell analog funktioniert die antisemitische Projektion: Eine jüdische Weltverschwörung ist eine adäquat große Erklärung für nahezu jede Krise.

Struktureller Antisemitismus

In den Argumenten des Neomarxisten Moshe Postone (1986) ist eine solche Urkrise für den modernen Antisemitismus das Aufkommen der kapitalistischen Ordnung. Mit Voranschreiten der industriellen Produktion kommt es zu einer explosiven Verstädterung, dem Wegfall traditioneller Schichten, Massenproletarisierung und -verarmung. Die Schuld daran wird aber nicht der abstrakten Herrschaft des Kapitals gegeben, sondern (so argumentiert mit Postone unter Rückgriff auf das Marx‘sche Fetischkonzept und den nicht verstandenen Doppelcharakter der Ware) das Kapital wird manichäisch aufgespalten in einen guten und einen bösen Teil. Nirgends zeigt sich diese Trennung so deutlich wie in der Goebbels’schen Unterscheidung vom schaffenden und raffenden Kapital. Das schaffende Kapital ist die ehrliche Arbeit, die durch Mühe und Schweiß auf dem Feld und der Fabrik Wert schafft. Ihr Gegenstück ist das raffende Kapital, das abstrakt und intellektuell Wert anhäuft und zirkuliert, ohne sich die Hände schmutzig zu machen. Das schaffende ist das deutsche, das nationale Kapital, während das raffende als jüdisch identifiziert wird. Die Charakteristika der Schattenseite des Kapitals – Abstraktheit, Unfassbarkeit, Mobilität und Universalität – werden im antisemitischen Stereotyp des Juden personifiziert.

In dieser Denktradition steht auch das Konzept eines strukturellen Antisemitismus – eines Antisemitismus, der sich dieser antisemitischen Welterklärung bedient, ohne aber den Juden zu nennen. Es sind Formen personalisierender Kapitalismuskritik, die häufig darunter subsumiert werden. Die Gründe für soziale Ungleichheit und Verarmung werden dann nicht in der inneren Architektur eines ökonomischen Systems verortet, sondern in den vermeintlich unmoralischen Charaktereigenschaften von Repräsentant*innen der Zirkulationssphäre: Manager*innen, Banker*innen, Broker*innen. Man könnte eine solche Kritik auf Basis ihrer inneren Struktur als Verschwörungserzählung vom Kapitalismus bezeichnen. Hier wird Intentionalität und böse Absicht vermutet, wo Sachzwänge und Profitmaximierung herrschen. Darin impliziert ist die Ansicht, dass es auch eine kapitalistische Vergesellschaftung ohne Elend, ohne Ungerechtigkeit, ohne soziale Ungleichheit geben könnte, wenn nur diejenigen an den Schalthebeln der Macht nicht so unmoralisch und böse wären. Wir haben diese Sicht auf die Welt erfasst, indem wir die Zustimmung zu Aussagen erfasst haben wie „Firmenmanager haben vor lauter Geldgier alle moralischen Werte vergessen“ oder auch zu einem Zitat Franz Münteferings: „Manche Finanzinvestoren verschwenden keinen Gedanken an die Menschen, deren Arbeitsplätze sie vernichten – sie bleiben anonym, haben kein Gesicht, fallen wie Heuschreckenschwärme über Unternehmen her, grasen ab und ziehen weiter“ (Imhoff/Bruder 2014).

Wenn man nun die Zustimmung zu solchen Aussagen in Beziehung setzt zu klassischen antisemitischen Aussagen, so zeigt sich ein deutlicher positiver Zusammenhang (ebd.). Ebenso gibt es einen positiven Zusammenhang mit der Skala zur Verschwörungsmentalität. Es sind also tatsächlich tendenziell die gleichen Personen, die sich antisemitisch äußern, die einer personalisierenden Kapitalismuskritik zustimmen (ohne dass hier jemals Jüdinnen*Juden genannt wären) und die sich einverstanden zeigen mit Aussagen, die auf ein Weltbild von Verschwörungsmentalität schließen lassen (in denen weder Jüdinnen*Juden noch Manager*innen erwähnt werden). Es gibt eine gewisse Seelenverwandtschaft zwischen diesen Ansichten. In der quantitativen Psychologie würde man argumentieren: Wenn zwei Variablen aufhören, miteinander korreliert zu sein, wenn man den gemeinsamen Anteil einer dritten herausrechnet, spricht dies dafür, dass die herausgerechnete Variable den Zusammenhang der beiden anderen erklärt. Und dies lässt sich in Re-Analysen von zwei Studien tatsächlich zeigen: Antisemitismus und personalisierender Antikapitalismus sind nicht länger miteinander korreliert, wenn man für den Einfluss der Verschwörungsmentalität statistisch kontrolliert. So kann es passieren, dass diese Spielart des Antisemitismus sich auch bei Personen wiederfindet, die keine offensichtliche Nähe zu rechtsradikalem Gedankengut haben. Das Empfinden, dass es im Kapitalismus nicht gerecht zugeht und dass andere Werte als Profit menschliches Handeln anleiten sollten, ist auf den ersten Blick besser vereinbar mit einem alternativen Weltbild und auch linker Politik als rechtsextreme „Fremden“-feindlichkeit. Wenn dieses Ungerechtigkeitsempfinden jedoch nicht systemische Probleme analysiert, sondern die Abkürzung sucht, indem Schuldige identifiziert werden, kippt es leicht in ein manichäisches Weltbild von Gut und Böse: ‚Die da oben wollen uns betrügen und zwangsimpfen.ʻ Das mag eine Quelle des viel beschworenen linken Antisemitismus sein (neben der nicht minder manichäischen Tradition des Antiimperialismus und ihrer unreflektierten Solidarität mit den Palästinensern gegen die Zionisten) und einen Hinweis geben, warum Verschwörungsglauben so stark verbreitet ist bei Anhänger*innen alternativer und komplementärer Heilmethoden (Lamberty/Imhoff 2018).

Tradierung von Verschwörungsmythen

Antisemitismus und personalisierte (oder verkürzte) Kapitalismuskritik treten also zusammen auf, weil hinter beiden ein Weltbild steht, nach dem einige wenige mächtige Personen sich zum Nachteil der Allgemeinheit und ihrem eigenen Vorteil verschworen haben. Aber reicht das aus, um zu erklären, warum so viele Verschwörungserzählungen fast schon automatisch entweder bei den Juden oder den Rothschilds (und eben nicht den Krupps, und sehr viel seltener bei den Rockefellers) landen? Vermutlich nicht. Viele Verschwörungserzählungen fangen bei einem konkreten Ereignis an und gelangen über das berüchtigte „Cui Bono?“ (lat. für „Wem nützt es?“) hin zu den angeblich wahren Mächten im Hintergrund. Diese vermeintlich „wahren Mächte“ sind dabei meist nicht sehr originell gewählt, sondern eine der üblichen Verdächtigen: die Operation MK Ultra der CIA, die Illuminaten und Freimaurer, die Jüdinnen*Juden (Berlet 2009). So werden alte Verschwörungserzählungen, wie die der Protokolle der Weisen von Zion, vermutlich über die Jahre huckepack genommen und durch die Anknüpfung an aktuelle Ereignisse immer wieder mit neuem Leben versehen. Und obwohl die Protokolle eine Fälschung sind, vermag die aktuelle Verschwörungserzählung vom Gefühl der Vertrautheit profitieren. Psycholog*innen sprechen in diesem Zusammenhang von fluency, also der Leichtigkeit (oder Flüssigkeit), mit der Informationen verarbeitet werden können. Dieses metakognitive Gefühl steigt zum Beispiel mit der visuellen Klarheit der Darbietung einer Information (starker Kontrast, klare Schriftart), aber eben auch mit der wiederholten Darbietung (Alter/Oppenheim 2009). Umgekehrt nutzen Menschen dieses Gefühl der Vertrautheit, um daraus rückzuschließen, ob eine Information zum Beispiel wahr ist (Dechêne et al. 2010). Verschwörungserzählungen können so also von dem vagen Gefühl der Vertrautheit profitieren, wenn sie Referenzen zu solchen Schwergewichten der Verschwörungsmythen wie den Protokollen einbauen. Sie erscheinen dann gegebenenfalls glaubwürdiger, weil die Rezipient*innen schon einmal davon gehört haben und diese Scheinreferenz als Hinweis auf einen Beleg akzeptieren. So werden Verschwörungserzählungen ein selbstreferenzielles System.

Schlussworte

Die Geschichte liefert zahlreiche Beispiele dafür, wie sich kleinere Gruppen tatsächlich verschworen haben und im Geheimen Pläne geschmiedet haben, um die Welt zu täuschen und selbst davon zu profitieren. Einige der prominentesten Verschwörungserzählungen (wie die Protokolle der Weisen von Zion) sind vermutlich so entstanden – als gezielte Fälschung zum eigenen politischen Profit. Es ist also nichts falsch daran, Verschwörungen hinter den Dingen zu vermuten. Und es ist auch nichts falsch daran, Institutionen mit Macht zu misstrauen. Problematisch werden solche Überlegungen vor allem dann, wenn sie keine Überlegungen, sondern Überzeugungen werden. Überzeugungen, die sich hermetisch abriegeln gegen jegliche Gegenbelege, weil jeder Gegenbeleg denunziert wird als Teil der Verschwörung. Solch ein Weltbild sucht nicht länger Lösungen oder ein besseres Leben, sondern Schuldige. Diese Suche landet nicht selten bei antisemitischen Narrativen von den Juden als Schuldigen. Und vor dem Hintergrund eines solchen Weltbildes wird auch Gewalt zum legitimen Mittel, weil legale Mittel ohnehin nichts an den wahren Machenschaften ändern und die Herrschenden sich ja auch nicht an die Regeln halten (Imhoff et al. 2020). So werden gesellschaftliche Vermittlungsprozesse aufgekündigt und antisemitische Gewalt legitimiert.

 

1 Ich vermeide hier und in der Folge den Begriff der Verschwörungstheorie, da ein Kardinalmerkmal einer Theorie im wissenschaftlichen Sinn ihre Falsifizierbarkeit ist, also ihre eingebaute Möglichkeit des Scheiterns an der empirischen Realität.

 

 

 

 

Literatur

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