Eine Fallstudie aus dem Saale-Holzland-Kreis: Zivilgesellschaftliches Engagement in der Krise?

Im Beitrag wird der Jenaer Ansatz zur Erforschung von „Rechtsextremismus in lokalen Kontexten“ eingeführt. Es werden Befunde einer Lokalanalyse aus dem Saale-Holzland-Kreis zu Herausforderungen für die demokratische Kultur und die lokale Zivilgesellschaft wiedergegeben und Handlungsempfehlungen formuliert.

 

Der Forschungsansatz: Rechtsextremismus in lokalen Kontexten

 

Es ist eine Art Forschen gegen Rechts: Die führenden Wissenschaftler in Sachen Rechtsextremismus diskutieren darüber, wie der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) in Jena seinen Ursprung fand und was man gegen Neonazis in den Dörfern tun kann. (Thio 2012)

„Forschen gegen Rechts“ pointiert die offene Positionierung von Forschenden in der Auseinandersetzung mit Erscheinungen von Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und Rechtsextremismus. Laurence Thio berichtete für Spiegel Online über eine Konferenz, bei der im Dezember 2012 erste Befunde und Thesen des Jenaer Forschungsprojektes „Rechtsextremismus in lokalen Kontexten“ vorgestellt und mit gegen Rechtsextremismus engagierten Akteuren diskutiert wurden. Statt Enthaltung ist im 21. Jahrhundert öffentliches Engagement möglich und im Interesse einer offenen Gesellschaft nötig. Kleinräumige, eingreifende Untersuchungen in Städten und Gemeinden sind aus verschiedenen Gründen vielversprechende Forschungsfelder einer öffentlichen Rechtsextremismusforschung: Erstens können Erscheinungsformen des Rechtsextremismus und der Verweigerung von Gleichwertigkeit gegenüber Menschengruppen alltagsnah sichtbar gemacht und problematisiert werden. Zweitens lassen sich Folgen struktureller und globaler gesellschaftlicher Prozesse vor Ort aufzeigen und erläutern. Drittens wird es durch Wissensbestände über kleinräumige Zusammenhänge möglich, Radikalisierungs- und Erstarkungsprozesse des Rechtsextremismus zu verstehen und ihnen entgegenzuwirken. Viertens kann die lokale Öffentlichkeit angesprochen werden, dadurch lassen sich Debatten über Probleme vor Ort anregen und neue Partnerschaften knüpfen.

Entwickelt wurde dieser Jenaer Ansatz im Rahmen eines vom Thüringer Wissenschaftsministerium geförderten Forschungsprojekts am Institut für Soziologie (Lehrstuhl Prof. Dr. Klaus Dörre) der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Dabei konnte aufgebaut werden unter anderem auf Ansätze von Wilhelm Heitmeyer (vgl. etwa Heitmeyer/Grau 2013) und Dierk Borstel (zuletzt: Borstel 2017). Dem schloss sich eine Auftragsstudie für den Lokalen Aktionsplan (LAP) der Landeshauptstadt Erfurt an (Quent 2013). 2015 folgte die Veröffentlichung der Befunde von Lokalstudien über Erfurt, Kahla, Saalfeld und Jena in vergleichender Perspektive; ausführlich wird hier auch der kleinräumige Forschungsansatz vorgestellt (Quent/Schulz 2015). Im Auftrag des Thüringer Landesprogrammes für Demokratie, Toleranz und Weltoffenheit wurde 2015 ein ‚Handbuch‘ zur vergleichenden Erstellung von Situations- und Ressourcenanalysen angefertigt, um ein Instrument zu liefern für regionale Analysen von Rechtsextremismus und Zivilgesellschaft auf der Ebene von Landkreisen in Thüringen (Quent 2015). Auf dieser Grundlage führt das Kompetenzzentrum Rechtsextremismus an der FSU Jena derzeit Erhebungen fort.

Im Auftrag des Bildungsträgers Blitz e. V. haben Maria Diedrich und ich von Herbst 2015 bis Frühjahr 2016 eine Situations- und Ressourcenanalyse zu Rechtsextremismus und Zivilgesellschaft im lokalen Kontext des Saale-Holzland-Kreises (SHK) durchgeführt. Eine gekürzte Fassung der Untersuchung ist als Broschüre erschienen und online einzusehen (Quent/Diedrich 2016). In dem vorliegenden Beitrag werden zentrale Befunde der Untersuchung wiedergegeben. Dem Ansatz folgend wird das IDZ auch künftig kleinräumige Lokalanalysen verwirklichen, um beispielhaft ‚in der Nussschale‘ problematische Entwicklungen sowie lokale Besonderheiten und die Perspektiven zivilgesellschaftlicher Akteure sichtbar zu machen: Denn mithilfe empirischer Situationsanalysen lassen sich Herausforderungen und Problemlagen in den lokalen Kontexträumen identifizieren; in der Ressourcenanalyse wiederum werden Stärken und Netzwerke der lokalen Zivilgesellschaft dargestellt.

In diesem Sinne verbindet die vorliegende Untersuchung für den SHK sozialwissenschaftliche Befunde mit Wissensbeständen und Alltagserfahrungen von Kenner/-innen der politischen Sphäre und der rechtsextremen Szene vor Ort. Eine solche Forschungsstrategie intendiert neben dem wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn die Stärkung der demokratischen Zivilgesellschaft. Ausgewertet wurden für die vorliegende Untersuchung 1) öffentliche Quellen, 2) Daten aus teilnehmenden Beobachtungen von zum Beispiel öffentlichen Versammlungen und Akteurstreffen zivilgesellschaftlicher Initiativen und 3) Interviews mit insgesamt 18 Personen aus unterschiedlichen Bereichen der Zivilgesellschaft im SHK.

Kontextfaktoren im SHK

Der SHK ist ein ländlich geprägter Landkreis im Osten Thüringens. Zum Landkreis zählen 93 Gemeinden, darunter 8 Städte. Sitz des Landratsamtes ist Eisenberg. Von den knapp 84.000 Einwohner/-innen leben die meisten (ca. 65.000) in ländlichen Gemeinden mit weniger als 7.000 Bürger/-innen. Die Bevölkerungsdichte des Landkreises beträgt 103 Einwohner/-in je km²; dies liegt unter dem Thüringer Mittelwert. Seit 1994 hat der SHK knapp 10.000 Einwohner/-innen verloren. Gemäß des Thüringer Landesamtes für Statistik lag der Ausländeranteil zum 31.12.2014 bei 2,5 Prozent und der Anteil der Bewohnerschaft mit Migrationshintergrund bei 1,9 Prozent. Die Arbeitslosenquote lag bei 6,3 Prozent. Der Vergleich dieser statistischen Kontextdaten des SHK mit den Werten der kreisfreien Städte und Landkreise in Thüringen durch Z-Standardisierung zeigte: Diese Werte entsprechen im Wesentlichen der durchschnittlichen Streuung im Freistaat.

Der SHK ist geprägt durch eine gute infrastrukturelle Anbindung. Der insgesamt ländlich geprägte Raum wird beeinflusst durch die nahe Großstadt Jena. KAHLA Porzellan und Griesson-de Beukelaer in Kahla sind zwei der international tätigen Wirtschaftsstandorte des Kreises. Als Teil des Tourismusverbandes „Saaleland“ wirbt der SHK unter anderem mit Burgen und Schlössern, Rad- und Wanderwegen und Bootssport auf der Saale um Gäste.

Elemente der politischen Kultur im SHK

Die Wahlbeteiligung lag im SHK bei den Landtagswahlen 2014 mit 57,4 Prozent deutlich über der gesamtthüringer Beteiligung von 52,7 Prozent. Die Verteilung der Stimmen auf die Parteien zeigt geringe Abweichungen vom Durchschnitt in Thüringen. Insgesamt konnten sowohl die CDU als auch rechte bzw. rechtsextreme Parteien (AfD, NPD) im SHK Stimmen über dem Thüringer Landesdurchschnitt auf sich vereinen. Dagegen ist das rot-rot-grüne Lager etwas schwächer als im Thüringer Durchschnitt. Positiv sticht hervor, dass die Wahlbeteiligung bei allen Bundestagswahlen seit 1994 über dem Landesdurchschnitt lag.

Die rechtsextreme NPD avancierte spätestens seit Mitte der 1990er Jahre zur wichtigsten rechtsextremen Partei in Deutschland, Thüringen und im SHK – sie spielte jedoch im politischen Alltag im Untersuchungsraum nach einhelliger Meinung der befragten Expert(inn)en „als Partei keine Rolle“ (Interview SHK 5 & 6, 28.01.2016). Zwar sei sie „im Wahlkampf als etablierte Marke genutzt“ (ebd.) worden, darüber hinaus wiesen die dominanten rechtsextremen Akteure im SHK jedoch keine große Bindung an die NPD auf. Dies zeigt sich deutlich am Beispiel Kahla: Bei den Kommunalwahlen im Mai 2014 zogen die beiden bekannten rechtsextremen Aktivisten David Buresch (132 Stimmen) und Marcel Bütow (402 Stimmen) über die Liste der NPD in den Stadtrat Kahlas ein. Sie werden der Gruppierung „Freies Netz Kahla“ (FN) zugeordnet. Die NPD konnte 8,6 Prozent der abgegebenen Stimmen in Kahla auf sich vereinen. Danach distanzierten sich die beiden Stadtratsmitglieder von der Partei und traten mit dem Label „Wir für Kahla“ in Erscheinung. Über die Liste der NPD konnten mit Hendrik Radtke und Johannes Bertels zudem mit 4,2 Prozent der abgegebenen Stimmen zwei Rechtsextreme in den Kreistag des SHK einziehen. Während die Mandatsträger im Kahlaer Stadtrat eine Facebook-Seite sowie eine eigene Internetseite betrieben haben, gingen von den Kreistagsabgeordneten keine öffentlichkeitswirksamen Aktivitäten aus.

Die Analyse von Bundes- und Landtagswahlergebnissen rechtsextremer Parteien im SHK und in Thüringen zeigt, dass rechtsextreme Parteien bei Bundestagswahlen im Landkreis SHK in den Jahren 2002, 2005 und 2013 etwas mehr Stimmanteile erhielten als im landesweiten Durchschnitt. Bei den Landtagswahlen 2009 und 2014 lag der Anteil rechtsextremer Stimmgewinne im SHK dagegen etwas unter den Gesamtwerten in Thüringen. Insbesondere wird deutlich – auch unter Einbeziehung der Ergebnisse der Erststimmen –, dass die NPD keine außergewöhnliche Verankerung im Landkreis aufweist. Die Werte belegen ein Stammwählerpotenzial für systemfeindliche rechtsextreme Parteien im SHK und in Thüringen zwischen 3 und 4 Prozent. In einigen Kommunen erreichte die NPD bei den Landtagswahlen 2014 deutlich höhere Stimmanteile von bis zu 15,9 Prozent (Gösen) – dies entspricht 13 von 82 gültigen Stimmen. Auch beispielsweise in Schkölen konnte die NPD mit 8,1 Prozent deutlich überdurchschnittliche Ergebnisse einfahren. Kleinräumige Geländegewinne in Ortschaften dieser Art basieren häufig darauf, dass etablierte und angesehene Personen aus den Ortschaften in ihrem sozialen Umfeld für die Rechtsextremen mobilisieren.

Polarisierung in der Migrationskrise1

In Hinblick auf die steigende Zahl von geflüchteten Menschen in Thüringen unterschied sich die Situation im SHK von anderen Kreisen: Viele Jahre war in Eisenberg die mittlerweile geschlossene zentrale und einzige Landeserstaufnahmestelle für Asylsuchende angesiedelt. Der Kreis profitierte durch die Einrichtung finanziell, weil die Bewohnerschaft der Erstaufnahmestelle für Pro-Kopf-Zuwendungen des Landes an den Kreis eingerechnet wurde. Da die meisten Menschen nur einige Wochen oder Monate in der Einrichtung blieben, stellte sich die Frage ihrer Integration im Alltag nicht. Kommunen im SHK nahmen im Erhebungszeitraum – mit Ausnahme einiger unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge – keine Geflüchteten auf.

Die lokalpolitische Debatte um die Erstaufnahmestelle in Eisenberg illustriert das Versagen von Politik und Verwaltung im Kontext der Migrationskrise: Bereits im November 2013 wurde in der Ostthüringer Zeitung berichtet: „Das Erstaufnahmelager für Flüchtlinge in Eisenberg platzt aus allen Nähten“ und gefragt: „Haben sich die Thüringer Behörden zu lange auf den niedrigen Flüchtlingszahlen vergangener Jahre ausgeruht?“ Der Thüringer Flüchtlingsrat kritisierte damals, die Entwicklung sei „ganz und gar nicht überraschend“ und hätte vorhergesehen werden können (Hummel 2013). Das zeigt: Am Fall der Eisenberger Aufnahmestelle wurde schon knapp zwei Jahre vor der Migrationskrise im Sommer 2015 die Überlastung und Überforderung der logistischen Kapazitäten deutlich. Die Dringlichkeit des Problems wurde jedoch offenkundig nicht ernst genommen, sodass im Zuge des weiteren Anstiegs der Fluchtmigrationsbewegungen nach Thüringen 2015 auch in Eisenberg geflüchtete Menschen unter freiem Himmel übernachten mussten.

In der Zuwanderungsdebatte avancierte die Erstaufnahmestelle in Eisenberg zu einem Kulminationspunkt im SHK. Rechtsextreme demonstrierten und patrouillierten, sie fotografierten und beschimpften Geflüchtete und Helfende. Verleumderische Gerüchte zulasten der Asylsuchenden wurden gestreut. Dagegen stellten sich unter anderem parteiübergreifende Gegenkundgebungen, konkrete Hilfstätigkeiten und Spenden, Willkommensfeste, Solidaritätsbekundungen und gemeinsame Projekte von Einheimischen und Geflüchteten.

Perspektiven der Befragten auf die politische Kultur im SHK

Die ländliche Prägung, insbesondere die geringe Anonymität, führte nach Ansicht einiger Befragter zu einem hohen Anpassungsdruck in der politischen Debattenkultur. Es sei im Alltag oft aufgefallen, dass Menschen nicht zwischen Personen und deren Meinungen unterscheiden könnten. Abweichende Äußerungen konnten demnach zu erheblichen Beeinträchtigungen im persönlichen Bereich führen:

Wenn jemand nicht in den Kram passt, werden da richtig persönliche Hetzkampagnen gestartet in den Dörfern. (Interview SHK 7, 09.02.2016)

Den grundlegenden Eindruck dieses Zitates bestätigten mehrere der Interviewten. Jede/-r hatte eigene Erfahrungen und darüber hinaus Kenntnis von Fällen im eigenen Umfeld, in denen Engagement gegen Rechtsextremismus oder Flüchtlingshilfe in Zusammenhang gebracht wurde mit Gerüchten und persönlichen Angriffen im sozialen Umfeld. Dies spiegelt sich wider in der Art und Weise, wie Themen behandelt werden: So sei man nicht nur leicht zu persönlichen Angriffen übergegangen, es habe auch Verunsicherung bei potenziellen Ankläger/-innen selbst gegeben, die sich schnell persönlich kritisiert gefühlt hätten.

Im ländlichen SHK ist die mobile Jugendarbeit sehr wichtig, um Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene an ihren Lebensmittelpunkten zu erreichen. Dementsprechend erachteten es die zuständigen Mitarbeiter/-innen der Jugendarbeit als problematisch, dass die Zahl mobiler Jugendarbeiter/-innen in den letzten Jahren aufgrund finanzieller Einschränkungen von fünf auf zwei Personen reduziert wurde. Dies ging zwar einher mit einem zahlenmäßigen Rückgang an Klient(inn)en im Einzugsgebiet. Allerdings wurde dadurch der Raum, der durch Angebote abzudecken ist, nicht kleiner. Dies führte zu weißen Flecken in der Jugendarbeit und erschwerte die Präventionsarbeit:

Die Herausforderung für uns ist die Vereinzelung. Kinder in einem einzelnen Dorf zu erreichen ist so schwierig. Wie krieg ich die Kinder aus XY 10 Kilometer weiter in den anderen Ort, wenn da die Mobilität überhaupt nicht gegeben ist? (Interview SHK 13, 22.02.2016)

Diese Entwicklungen erschwerten es den Zuständigen mitzubekommen, was die Jugendlichen bewegte und wie sie über Themen sprachen. Zum Teil seien Jugendeinrichtungen über Jahre trotz Bedarf geschlossen geblieben, weil sich keine Betreuer/-innen dafür fanden. Diese Entwicklungen sind nicht nur schädlich für die Lebensqualität in den Orten, sondern auch eine potenzielle Gefahrenquelle für die demokratische Kultur: Viele Berichte und Untersuchungen aus Kommunen in ganz Deutschland zeigen, dass es Rechtsextremen gelingen kann, Leerstellen und Nischen in der öffentlichen Infrastruktur zu besetzen und sich so kommunal als soziale Kümmerer zu inszenieren. Beispielsweise übernahm in der Thüringer Gemeinde Schmiedefeld (Landkreis Saalfeld-Rudolstadt) ein bekannter Rechtsextremist den örtlichen Jugendtreff, nachdem sich der vorherige Träger aus dem Ort zurückgezogen hatte. Dies führte zur Stärkung der rechtsextremen Szene in der ganzen Region und dazu, dass die NPD ihr Wahlergebnis in dem Ort innerhalb von fünf Jahren von 2,7 Prozent auf 18,6 Prozent vervielfachen konnte (Quent 2014: 48). Diese Gefahr wurde im SHK ebenfalls gesehen, auch wenn Verbände bisher keine koordinierten Übernahmeversuche durch organisierte Rechtsextreme feststellen konnten:

Das kann dazu führen, dass wir die Ehrenamtsstruktur, die wir jetzt noch haben, wo Leute engagiert sind, dass das immer schwächer wird. Und dass dann, wenn irgendwelche wirklich politisch ambitionierten Leute ne Unterwanderung planen, die haben dann ein gefundenes Arbeitsfeld. (Interview SHK 3, 21.01.2016)

 

Angebotsstrukturen im SHK

 

Organisierter Rechtsextremismus im SHK

Zwischen Januar 2015 und Mai 2016 mobilisierte das rechtsextreme Thügida-Netzwerk (siehe Beitrag von Lammert in diesem Band) zu insgesamt fünf öffentlichen Versammlungen im SHK.

Tabelle 1 zeigt, dass die Zahl der Demonstrationsteilnehmenden nach einem Hoch im April 2015 sukzessive abnahm. Zudem waren die rechtsextremen Demonstrationen stets begleitet von Gegenprotesten. Dadurch wurde auch in den lokalen Medien deutlich, dass hinter den Thügida-Versammlungen rechtsextreme Normalisierungsversuche stehen, die von zahlreichen Institutionen und Einzelpersonen nicht akzeptiert werden. So war beispielsweise in Bezug auf die Versammlungslage am 20. April 2015 zu lesen:

Die Thügida-Anhänger haben am Abend in Eisenberg ihr Ziel nicht erreicht. Sie konnten nicht zur Landesaufnahmestelle für Flüchtlinge vordringen, um dort ihre Parolen gegen Ausländer zu brüllen. Dies verhinderten ein Großaufgebot der Polizei sowie 400 bis 600 Gegendemonstranten. Letztere blockierten friedlich die Straße, sodass die Rechtsextremisten mit einem kurzen Marsch zur Innenstadt vorliebnehmen mussten. In der Landesaufnahmestelle Eisenberg wurde unterdessen ein Fest mit den Kindern gefeiert. […] Auf dem Hof der Landesaufnahmestelle sah und hörte man nichts von dem Thügida-Marsch. So konnte verhindert werden, dass die häufig durch Fluchterfahrungen traumatisierten Menschen nicht auch noch mit einem gewaltbereiten rassistischen Mob konfrontiert wurden. (Knipping 2015)

Ähnlich eindeutig war auch die Berichterstattung zur Thügida-Versammlung im Dezember 2015. In der Thüringischen Landeszeitung hieß es: „Wenig Resonanz für Thügida: Eisenberg ist solidarisch mit Flüchtlingen“ (Kalla 2015). Mittel- bis langfristig können die offensiven Strategien des Thügida-Netzwerkes – aus Sicht der Rechtsextremen – zu negativen Effekten führen: Lokalstudien haben gezeigt, dass die aggressive Agitation rechtsextremer Akteure in den Städten Saalfeld und Jena zu einer Sensibilisierung der Zivilgesellschaft geführt hat und in der Folge zu einer nachhaltigen Schwächung der Rechtsextremen (Quent/Schulz 2015).

Wenngleich ein Großteil der Teilnehmenden an den Protestveranstaltungen aus anderen Regionen anreiste, sind innerhalb von Thügida auch Rechtsextreme aus dem SHK organisiert. Im Untersuchungszeitraum gehörten dem radikalisierten und politisch aktiven Kern der rechtsextremen Szene im SHK außerhalb von Kahla nach Einschätzung von Beobachter/-innen etwa 20 Personen an, aktiv insbesondere in Eisenberg. In der Kleinstadt Kahla waren es noch einmal etwa ebenso viele. Darüber hinaus existierte ein größeres, nicht kontinuierlich aktives Sympathisantenumfeld. Dieses reichte nach Angaben von befragten Praktiker/-innen bis in Wirtschafts- und Verwaltungskreise.

Gerade in ländlichen, wenig anonymen Regionen haben öffentliche und zivilgesellschaftliche Akteure häufig einen detaillierten Blick auf die rechtsextremen Akteure vor Ort. Ihre Expertise wird jedoch nur selten gehört und systematisiert. Trotz der öffentlich präsenten und kritisch diskutierten Thügida-Mobilisierungen und der bedrohlichen Gewalttaten in Kahla erachteten viele befragte Expert(inn)en vor Ort vor allem eine „Normalität von menschenfeindlichen und antidemokratischen Haltungen und Personen“ für typisch und bedrohlich für den SHK. Zwischen rechtsextremen Akteuren und dem Rest der Gesellschaft gab es demzufolge keine ersichtliche Abgrenzung:

Es gibt im SHK keine klaren Abgrenzungen, also es gibt nicht die Naziszene und es gibt auch nicht irgendwie ne Abgrenzung zu nem Bürgerlichen. Das ist ein fließender Übergang und es ist da schon immer so, dass sich aneinander nicht gestört wird. (Interview SHK 8, 09.02.2016)

Demnach fand eine Normalisierung dieser Einstellungen statt über persönliche Bekanntschaften und Alltagserfahrungen mit Personen, die sich in rechtsextremen Netzwerken engagierten, einschlägige Szenekleidung trugen und neonazistische Positionen teilten. Ein ‚politisch extremistischer Rand‘ der Gesellschaft konnte folglich im Alltag bestimmter Milieus nicht ausgemacht werden. Rechtsextreme Akteure im SHK bewegten sich nach Angaben der befragten Expert(inn)en nicht in einer fest organisierten „geschlossenen Gruppe“ mit einem gemeinsamen Auftreten oder Image, sondern in einem größeren fluiden sozialen Umfeld. Dies war auch bei Demonstrationen und in sozialen Netzwerken zu beobachten. Anders als in vielen anderen Regionen Thüringens wurden die Rechtsextremen vor Ort als „entgrenzt“ wahrgenommen. Dabei verwischten nicht nur die Grenzen zu und zwischen unterschiedlichen kollektiven Akteuren innerhalb der rechtsextremen Bewegungsfamilie, sondern auch zwischen Rechtsextremen und Nicht-Rechtsextremen bzw. dem weiteren Umfeld. Eine Mitarbeiterin von Blitz e. V. sah dies auch als Ausdruck einer umfassenderen politischen Kultur im Landkreis:

Es gibt keine Grenzen, es gibt keine Linien, die man überschreiten könnte, da kann ich das fest- und ausmachen, sondern es gibt einfach wie ne antidemokratisch ausgelebte Kultur in allen Bereichen. (Interview SHK 8, 09.02.2016)

Antidemokratische Positionen waren demnach nicht auf einen abgrenzbaren gesellschaftlichen ‚Rand‘ beschränkt, sondern durchdrangen alle gesellschaftliche Bereiche: Nicht zu erkennen war für die Praktikerin die rote Linie, die zu überschreiten scharfe Gegenreaktionen aus der demokratischen Mitte nach sich ziehen würde:

Das hilft ihnen auch, gerade im ländlichen Raum, auch als Bürgerinitiative wahrgenommen zu werden. (Ebd.)

Die Einschätzung, der Rechtsextremismus werde in einigen Milieus des SHK nicht problematisiert und als normal wahrgenommen, findet ihren Ausdruck auch darin, dass die Szene nicht darauf angewiesen war, eigene Rückzugsräume, Szeneimmobilien oder Treffpunkte zu betreiben. Ebenso wenig waren formalisierte Strukturen und koordinierte Treffen der rechtsextremen Akteure nötig, weil die engen sozialen Beziehungen untereinander bereits einen regelmäßigen Alltagskontakt gewährleisteten. Eine Befragte führte aus:

Man kennt sich untereinander und es ist gar nicht nötig, da große Treffen zu machen, man verbringt sowieso seine Freizeit miteinander in Kneipen oder am Kreisverkehr, auf Parkplätzen und so weiter. (Interview SHK 7, 09.02.2016)

Öffentlich sichtbar waren diverse rechtsextreme Organisationen, wobei keine Gruppe über einen originären Funktionärsstamm verfügte; vielmehr griff das organisierte rechtsextreme Akteursspektrum für die politische Öffentlichkeitsarbeit auf Werbematerialien unterschiedlicher überregionaler Strukturen zurück. Die Entscheidung, unter welcher ‚Flagge‘ sie in Erscheinung traten, wurde taktisch und nach dem Verfügbarkeitsprinzip entschieden.

„Wir lieben den Saale-Holzland-Kreis“

Mit Selbstzeichnungen wie „Wir lieben den Saale-Holzland-Kreis“ und der affirmativen Darstellung als „Bürgerinitiative“ versuchen rechtsextreme Akteure, Sympathien in der Bevölkerung zu wecken. Beobachter/-innen der rechtsextremen Szene vor Ort haben festgestellt, dass die zunächst im Internet agierende Gruppe „Wir lieben den Saale-Holzland-Kreis“ von rechtsextremen Aktivist(inn)en aus ganz Thüringen ins Leben gerufen wurde. Unter anderem daran ist zu erkennen, dass es sich bei den „Wir lieben XY“-Gruppen um eine Kampagne rechtsextremer Kräfte handelt, die die Migrationskrise für ihre Zwecke nutzen.

Das Facebook-Profil der Gruppe „Wir lieben den Saale-Holzland-Kreis“ verheimlicht nicht die rechtsextreme Ideologie, sondern propagiert diese mit neonazistischen Losungen wie „Solidarität ist der Lebensquell der Volksgemeinschaft“. Auf der Seite werden die islamistischen Terroranschläge in Paris und Brüssel für pauschalisierenden antimuslimischen Rassismus und die verallgemeinerte Ablehnung von Fluchtmigration nach Deutschland und Europa instrumentalisiert. Die Betreiber/-innen unterstellen den Medien, generell die Unwahrheit zu berichten („Lügenpresse“); zugleich zitieren und teilen sie selektiv Beiträge diverser Medien, deren Interpretation vorgeblich die rassistische und rechtsextreme Weltanschauung begründen und die Notwendigkeit des eigenen Aktivismus herausstellen.

Die rechtsextremen Hintermänner und -frauen machen keinen Hehl aus ihrer Strategie: Sie wollen diverse Themen, Unzufriedenheit und Verunsicherungen „aufgreifen“ und unter ihrer Flagge „auf die Straße tragen“. Bei der Nennung der aus ihrer Sicht relevanten Themen wurden verschiedene tagespolitische Agenden thematisiert. Die Gegenüberstellung des eigenen Anspruches der rechtsextremen Gruppe mit ihrer politischen Praxis zeigt:

  • Ebenso wie Rechtspopulist(inn)en versuchen Rechtsextreme vorgeblich durch die etablierte Politik vernachlässigte Themen aufzugreifen.
  • Rechtsextreme springen auf von der populistischen Rechten gesetzte Themen und Narrative auf.
  • Die außerparlamentarische extreme Rechte versucht damit, vom Rechtsruck in der parteipolitischen Landschaft zu profitieren.
  • Über polarisierende Themen werden demokratiefeindliche, gewaltbilligende und neonationalsozialistische Deutungsweisen der Rechtsextremen in die öffentliche Debatte gebracht.
  • In der politischen Praxis gelingt den Rechtsextremen entgegen ihrem Anspruch die thematische Öffnung über die identitätsstiftende ‚Ausländerfrage‘ hinaus nicht.

Die Facebook-Gruppe konnte im Untersuchungszeitraum des ersten Halbjahres 2016 trotz reger Onlineaktivitäten nur einen marginalen Zuwachs an Unterstützer/-innen verzeichnen. So hatten bis zum 21. Januar 2016 insgesamt 915 Personen bei der Facebook-Seite „Gefällt mir“ geklickt. Etwa vier Monate später – am 14. Mai 2016 – waren es 960, am 5. Februar 2017 waren es nur noch 914.

Kahla: Schwerpunkt des organisierten Rechtsextremismus

Für die überregionalen Beobachter/-innen von Mobit stand Kahla hinsichtlich des Rechtsextremismus im SHK im Vordergrund. Demnach herrschte in der Stadt eine „rechte Hegemonie“, die sich ausdrückte unter anderem durch den Besitz der Immobilie „Burg 19“ in der Innenstadt: Sie gilt als logistisches Zentrum von Neonazis in der Region. Die rechtsextreme Szene Kahlas übte während des Erhebungszeitraumes Druck aus auf Andersdenkende, schüchterte Engagierte durch gewaltsame Aktivitäten ein und trat mit Schmierereien, Flugblattverteilungen etc. im Alltag in Erscheinung.

Mit finanzieller Förderung durch das Thüringer Landesprogramm für Demokratie, Toleranz und Weltoffenheit gründete Blitz e. V. im Jahr 2013 in Kahla einen „Demokratieladen“ als öffentliche Einrichtung; er sollte zum einen Räume bieten für Veranstaltungen, Ausstellungen, Treffen u.ä., für die Auseinandersetzung gegen rechts und für Demokratie, und zum anderen in dessen Rahmen vor Ort Vernetzungs-, Projekt- und Sensibilisierungsarbeit umsetzen. Seit der Gründung des Demokratieladens wurde dieser immer wieder zum Ziel rechtsextremer Attacken. Der schwerste Angriff ereignete sich im Februar 2016: Auf den Demokratieladen wurde ein Brandanschlag verübt. Weniger Aufmerksamkeit erfuhren alltägliche Provokationen, Anfeindungen und Übergriffe gegen den Laden. Neben rechtsextremen Aufklebern und der Präsenz von Rechtsextremen auf der Straße gehörte auch zum Alltag, dass mehrfach in den Eingangsbereich des Demokratieladens uriniert wurde. Für Akteure und Beobachter/-innen verdeutlichten die Reaktionen der rechtsextremen Szene auf den Laden vor allem dessen Notwendigkeit und Wirksamkeit:

Das zeigt auch die Wichtigkeit von so was. Also wenn die unwichtig wären, würden die Nazis keine Notiz davon nehmen. Es zeigt, dass es stört. (Interview SHK 5 & 6, 28.01.2016)

Der Laden wurde auch gedeutet als ein:

Gegenpol zur Naziimmobilie – ein geschützter Raum, der aber auch geschützt sein muss; eine Visualisierung von Demokratie oder den Werten der Demokratie, was schön ist; der Laden wird lokal erweitert oder der demokratische Bereich wird vergrößert, weil es jetzt auch das SPD-Bürgerbüro daneben gibt, die Meile der Demokratie. (Ebd.)

Nur wenige Schritte vom Demokratieladen entfernt eröffnete im Herbst 2015 ein Bürgerbüro der SPD. Von beiden Anlaufpunkten geht die wichtige Botschaft aus: Die Politik hat den ländlichen Raum nicht vergessen und nimmt den Kampf gegen die Normalisierung des Rechtsextremismus auf – auch unter erschwerten Bedingungen.

„Pro Schöngleina“: bundesweiter Leuchtturm der neuen Rechten

Weitgehend jenseits kritischer Berichterstattung und überregionaler Aufmerksamkeit spaltete sich die Einwohnerschaft der Gemeinde Schöngleina im SHK an der Frage der Unterbringung von geflüchteten Jugendlichen. Die Pläne, in Schöngleina eine betreute Unterbringung für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge einzurichten, riefen anhaltende Proteste unterschiedlicher Akteure hervor:

Dass es der „Interessensgemeinschaft Pro Schöngleina“ um Sprecher Jörg Tonndorf und seinen Mitstreiter/-innen um mehr als um die Bearbeitung eines kontroversen Themas vor Ort ging, zeigt der Schulterschluss mit Rechtspopulist(inn)en und Rechtsextremen aus der ganzen Bundesrepublik. Gemeinsam mit der bundesweiten Kampagne „Ein Prozent für unser Land“ (siehe Beitrag von Lammert in diesem Band) produzierte die Gruppe zwei Internetvideos, die bundesweit zehntausende Male angeklickt wurden. Die Agitator(inn)en inszenierten Schöngleina darin als „thüringisches Widerstandsnest“. In dem Video kommt unter anderem Tonndorf in einem T-Shirt des Netzwerks „Ein Prozent für unser Land“ zu Wort. Öffentlichkeitswirksam wird im Film der Bau eines Zauns um das Grundstück von Tonndorf gezeigt. Tonndorf gibt an, der Zaunbau solle „unseren Kulturbereich abstecken“ – gegen 16 Geflüchtete. Beim Bau und der Filminszenierung wurden Tonndorf und seine Gruppe unterstützt von rechtsextremen Aktivist(inn)en aus anderen Bundesländern: etwa von der rechtsextremen Gruppe „Kontrakultur Halle“, die zur „Identitären Bewegung“ zählt. Mehrfach hat sich auch die Jenaer AfD-Abgeordnete Wiebke Muhsal für „Pro Schöngleina“ eingesetzt.

In Schöngleina vollzog sich öffentlichkeitswirksam der Schulterschluss zwischen der örtlichen Bürgerinitiative und rechtsextremen Gruppen und Akteuren der sogenannten „Neuen Rechten“, zu denen das Netzwerk „Ein Prozent für unser Land“ zählt. Doch es zeigte sich, dass die Flüchtlingsgegner/-innen trotz ihrer offensiven, heroisierenden und bundesweit wahrnehmbaren Selbstinszenierung vor Ort sehr umstritten waren. Auch in Schöngleina zeigte sich das „helle Deutschland“ (Joachim Gauck): Im Clearinghaus engagierten sich Ehrenamtliche, im Mai 2016 spendeten Einwohner/-innen des Ortes 14 Fahrräder für die Geflüchteten (Flamich 2016).

Alltagsrassismus

Anders als in Kahla, Eisenberg und Schöngleina war es nach Einschätzung einer Befragten in breiten Teilen des SHK der unterschwellige „Alltagsrassismus“ der Mehrheitsbevölkerung, der die demokratische Kultur vorrangig gefährdete:

Organisierte rechtsextreme Einflüsse habe ich nicht wahrgenommen – nicht so wie in Kahla, so explizit rechtsextrem organisiert. Alltagsrassismus: Das ist das Thema, das uns immer wieder begegnet, und gerade jetzt mit unseren unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen merkt man immer mehr. Das fängt ja schon beim Friseurbesuch an, wo die Friseurin sagt ‚Machen Sie bitte einen Termin, weil die Krankheitsübertragung, ich will die eigentlich nicht und meine Kunden, die kommen hier nicht mehr‘. Oder der Zahnarzt in Crossen, der konkret sagt, er behandelt keine Flüchtlinge. (Interview SHK 13, 22.02.2016)

Die skandalösen, diskriminierenden und regelwidrigen Verhaltensweisen, wie im Zitat beispielhaft gezeigt, verletzen die Menschenwürde und das Prinzip der Gleichwertigkeit. Ein vor Ort tätiger Verein beherbergte und begleitete zum Untersuchungszeitpunkt eine kleine Gruppe von sechs unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen aus Syrien im Alter zwischen 12 und 17 Jahren in Crossen. Im Alltag mit den Geflüchteten offenbarten sich dem etablierten Träger unterschiedlicher sozialer, öffentlicher und kommerzieller Angebote im Kreis an unerwarteten Stellen erhebliche Schwierigkeiten und gruppenbezogen menschenfeindliche Vorbehalte: Versuche, einheimische Jugendliche und die Geflüchteten miteinander in Kontakt zu bringen, scheiterten beispielsweise zunächst an der mangelnden Integrationsbereitschaft der Deutschen. Für die Geflüchteten waren diese Abwehrreaktionen der Einheimischen eine Belastung:

Am Anfang waren die relativ unbeschwert, aber nach und nach kriegen die auch den Rassismus mit. Das verletzt sie schon. (Ebd.)

Negative Erfahrungen wurden auch mit der Polizei gemacht, wie die Interviewpartnerin berichtete:

Und zum Beispiel die fahren jetzt zum Deutschkurs immer nach Gera mit der Bahn; und da sind teilweise Polizisten auf die zugegangen und haben die dann nach Unterlagen verlangt und wollten die mitnehmen und wäre da nicht jemand von uns dabei gewesen, wären die einfach mal so mitgenommen worden. Das ist schon schwierig – viele verfestigte Vorurteile und Ängste, die das Handeln motivieren. (Ebd.)

Diese Erfahrungen und Perspektiven veranschaulichen die gesellschaftliche Polarisierung durch die Fluchtmigration, die Chancen und Herausforderungen schafft: Auf der einen Seite kann Alltagskontakt Homogenitätserfahrungen und -vorstellungen aufbrechen und dazu führen, dass sich individuelle Weltbilder und die gesellschaftliche Wirklichkeit vor Ort stärker gegenüber der Vielfalt der Welt öffnen. Zudem werden gruppenbezogen menschenfeindliche Vorurteile und Abwertungen sichtbar, die zuvor weitgehend versteckt und unhinterfragt vorhanden waren. Dies verläuft auf der anderen Seite jedoch keineswegs ohne Konflikte, Abwehrreaktionen und führt zu Demütigungen, Diskriminierungserfahrungen und Beschädigungen bei den Geflüchteten. Von herausragender Bedeutung ist es deshalb, zu verhindern, dass Negativerfahrungen zum Rückzug und zum Scheitern des Integrationsprozesses führen.

Ablehnung und Druck von außen können demnach dazu führen, dass sich ein Verein, in dem Migrant(inn)en integriert sind, noch stärker mit diesen solidarisiert und für sie einsetzt. Allerdings führt die offene Feindschaft auch dazu, dass andere Vereine durch den sozialen Druck davon abgehalten werden, sich für die Aufnahme und Integration von Geflüchteten einzusetzen. Die Beispiele zeigen: Im SHK stellten nicht Geflüchtete das Haupthindernis für den gesellschaftlichen Zusammenhalt dar, sondern die Abwehrreaktionen aus Teilen der deutschen Bevölkerung. Diese Beobachtung bestätigt auch den oben genannten Befund eines entgrenzten Rechtsextremismus im SHK: Anders als in der überwiegenden Breite der bundesdeutschen Gesellschaft waren dessen Akteure nicht als ‚extremer Rand‘ geächtet und marginalisiert, sondern konnten über vollkommen unsachliche, ideologische und menschenfeindliche Interventionen die lokale Öffentlichkeit erreichen und das demokratische Klima vergiften. Für einen Teil der Bevölkerung vor Ort besaßen Toleranz, Demokratie und Weltoffenheit keinen Eigenwert.

 

Zivilgesellschaft in der Krise? – Perspektiven und Probleme der Akteure

 

Im Jahr 2015 wurde das zivile Engagement in der Gesellschaft von vielen politischen und sozialen Akteuren gelobt. Gefragt nach den ihrer Meinung nach wichtigsten Herausforderungen, war beispielsweise zu hören: „Wichtigste Herausforderung ist es, Leute davon abzuhalten, zu resignieren.“ (Interview SHK 8, 09.02.2016) Im Schatten der Willkommenskultur gären also Unzufriedenheit, Frustration und die Gefahr, dass der Rückzug des Staates demokratiegefährdende politische Akteure stärkt. Die Migrationskrise und das massenhafte ehrenamtliche Engagement sind vorläufige Höhepunkte, von denen auch das unmissverständliche Signal ausgehen muss, dass es so nicht weitgehen darf: Motivierende Anerkennung und die Erleichterung sozialer und ehrenamtlicher Tätigkeiten sollten seitens der Politik finanziell deutlich stärker untermauert werden, um das positive Potenzial sozialen und zivilgesellschaftlichen Engagements für die Gesellschaft zu unterstützen, anstatt es auszubeuten. Dass Unbezahlte im reichen Land Deutschland zentrale gesellschaftliche Aufgaben übernehmen mussten, wurde als „Riesenwiderspruch“ angesehen. Aus der Erfahrung im Sport zog ein Befragter den Schluss, dass die individuelle Motivation für ehrenamtliches Engagement eine große Bedeutung habe; die Motivation sei wiederum abhängig von den politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Insgesamt seien in den vergangenen Jahren die Hürden und die Belastung größer geworden. Dies mache das Ehrenamt weniger attraktiv und vielseitig:

Also ich sehe immer den Zusammenhang mit der Lage der ehrenamtlich tätigen Leute, weil dementsprechend auch der Wohlfühlfaktor ist – sind sie motiviert oder nicht, sind sie eher aufgrund von Einsparungsmaßnahmen oder gibts ne Ehrenamtsförderung oder nicht, wird die Bürokratie weniger oder nicht? Und bei den Faktoren ist es schwieriger geworden, die Anforderungen nehmen zu an die Leute. Das ist alles schwieriger geworden. Und die Leute, die jetzt noch tätig sind, die ja auch potenziell Multiplikatoren sind, bei denen erreichen wir mittlerweile ne Grenze der Belastbarkeit, dass die dann auch für Themen offen sind. (Interview SHK 3, 21.01.2016)

Vor dem Hintergrund zahlreicher Erschwernisse im Alltag wird auch die politische Gesamtsituation in Deutschland gedeutet. Der Gegensatz zwischen den gesteigerten Anforderungen an Ehrenamtliche und öffentliche soziale Akteure und den sinkenden finanziellen Ressourcen auf der einen Seite steht dem ökonomischen Wohlstand der Bundesrepublik auf der anderen Seite gegenüber. Ein Befragter sagte, er sehe in diesem Widerspruch großen sozialen Sprengstoff:

[…] bis dahin zu den Rahmenbedingungen, die ich schwieriger einschätze in den nächsten Jahren – das heißt demografisch gesehen wird es bald nur noch Alte geben, Freiwilligenbereiche werden immer weiter gekürzt werden. Ich bin da auch selber hin- und hergerissen im politischen Bereich. Der Schäuble spricht immer von Steuermehreinnahmen im Milliardenbereich, und hier jammert jede Kommune, jedes Land, dass immer weniger Geld da ist. Und ich sehe die Gefahr, dass die Widersprüche, und ich möchte dort nicht Recht behalten, immer größer werden und da seh ich ganz eindeutig ne Gefahr – ich sag mal für normalen Umgang auch untereinander: auch Deutsche zu Deutschen, nicht noch Flüchtlinge, aber auch auf die bezogen wird es exorbitant schwieriger, wenns so weitergemacht wird. Ich glaube, da wird jeder sagen, was da gemacht wird, ist widersinnig. (Interview SHK 3, 21.01.2016)

Aus der Sicht des Befragten gefährden die Ungleichverteilung finanzieller Mittel und insbesondere die problematische finanzielle Lage von Ländern und Kommunen die Qualität sozialer Tätigkeiten und stellen den sozialen Frieden infrage. Dies wiegt umso schwerer, wenn die Perspektive einer anderen befragten Akteurin hinzugezogen wird, die ihre Rolle als „Krisenfeuerwehr“ beschrieben hat. Diesen Deutungen folgend läuft die Politik durch die Unterfinanzierung und die dadurch hervorgebrachten Konkurrenzkämpfe Gefahr, jene Akteure auszulaugen und zu verstoßen, welche die negativen Folgen sozialer Probleme auffangen und kompensieren sollen. Zudem wächst die Gefahr, dass Rechtsextreme sich als ‚soziale Kümmerer‘ inszenieren und anerkannte Positionen im Gemeinwesen von Personen mit einer problematischen politischen Agenda übernommen werden, wenn die Motivation und die Anerkennung für ehrenamtliche Tätigkeiten erodieren.

 

Ressourcen, Potenziale und Handlungsempfehlungen für den SHK

 

Zahlreiche Akteure haben sich im SHK milieu- und parteiübergreifend gegen Rechtsextremismus engagiert. Eine bedeutende Rolle spielten vor allem der Lokale Aktionsplan und das Bündnis für Vielfalt im SHK. Zentrale Herausforderungen für die Präventions- und Interventionspraxis im SHK bestehen darin, die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Facetten des Rechtsextremismus im Alltag auszubauen: Über Reaktionen auf öffentliche Auftritte von Rechtsextremen hinaus sollten verstärkte proaktive Maßnahmen realisiert werden, um für Erscheinungsformen, ideologische Paradigmen und Ursachen von Rechtsextremismus zu sensibilisieren und damit zu einer politischen Kultur der kritischen Auseinandersetzung beizutragen. Dies kann konkret umgesetzt werden beispielsweise durch Informations- und Diskussionsveranstaltungen, durch Filmvorführungen und Ausstellungen, strategische Öffentlichkeitsarbeit sowie durch kulturelle und künstlerische Projekte im öffentlichen Raum. Konkret ist zu prüfen, ob die Etablierung von „Demokratieläden“ möglich ist. Für bestehende Strukturen der Jugend- und Verbandsarbeit ist auf der Grundlage von Erfahrungen anderer lokaler Kontexte (z. B. Saalfeld, vgl. Quent /Schulz 2015: 105) zu empfehlen, ideologisch gefestigte Rechtsextreme und solche, die öffentliche Räume für menschenfeindliche Agitation nutzen, konsequent auszuschließen und die kritische Auseinandersetzung mit rechtsextremen Ideologiefragmenten zu suchen. Dazu ist mehr ausreichend qualifiziertes Personal erforderlich. Nicht-rechte Cliquen und Strukturen sollten unterstützt werden und es sollte dazu beigetragen werden, deren Angebote zu öffnen und attraktiv zu gestalten.

Sowohl hinsichtlich der Einbindung weiterer Akteure als auch im Sinne der inhaltlichen Öffnung wäre es im Rahmen des LAP zu bedenken, eine „Zukunftskonferenz“ zu initiieren. Dort könnten Prognosen zur sozioökonomischen Entwicklung der Region, Fragen von Flucht, Zuwanderung und Demokratieentwicklung miteinander verknüpft und diskutiert werden. Ein gemeinsames Verständnis und Problembewusstsein der demokratischen Akteure im SHK hinsichtlich dieser in den kommenden Jahren voraussichtlich weiterwachsenden Herausforderungen ist der erste Schritt zu einem präventiven und abgestimmten Vorgehen. Zudem gibt es bei der Auswahl der Themen noch weitere Möglichkeiten. Fragen von Sexismus und Gleichberechtigung sind zentral für eine Demokratie, werden jedoch innerhalb des LAP nicht in Form von Projekten thematisiert; auch Sozialchauvinismus oder Diskriminierung aufgrund von Armut könnten im Rahmen von LAP-Projekten als relevant für die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Ungleichwertigkeitsideologien angesprochen werden. So werden soziale Fragen nicht der extrem Rechten überlassen, die zum Beispiel mit Kampagnen gegen „Volkstod“ oder deren Bezug auf den „kleinen Mann“ versucht, diese Felder zu besetzen. Bedingung dafür wäre, Netzwerkpartner/-innen in diesen Bereichen zu haben oder zu gewinnen. So könnten weitere Zielgruppen erreicht und neue inhaltliche Impulse gesetzt werden, die auch im Alltag des Kreises eine große Rolle spielen. Vor dem Hintergrund der analysierten Herausforderungen erweisen sich der virulente Alltagsrassismus sowie die politischen Aktivitäten der „Neuen Rechten“ als dringliche inhaltliche Handlungsfelder. Insbesondere Strategien zur Stärkung von Gegenrede vor Ort sollten unterstützt werden, d. h. das Erheben kritischer Stimmen gegenüber Gerüchten, Vorurteilen und Alltagsrassismus, um das weitere Erstarken des Rechtsextremismus zu verhindern.

Durch lokale Verantwortungsträger/-innen und einflussreiche Akteure in den Kommunen ist es wichtig zu zeigen, dass politische Sachverhalte pluralistisch und unterschiedlich betrachtet werden können. Dabei gilt es auch, Position für die Demokratie zu beziehen und den Bekenntnissen konkrete Handlungen folgen zu lassen.

 

 

1 Ich nutze den Terminus Migrationskrise, um die komplexen krisenhaften Zusammenhänge zusammenzufassen – insbesondere von Migrationsbewegungen, Ursachen von (Flucht-)Migration, Defiziten von Politik und Verwaltung sowie die Abwehrreaktionen innerhalb der Einwanderungsgesellschaft.

 

 

Literaturverzeichnis

 

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