Debattenbeitrag für das Dorf: Die permanente Entmündigung der Dörfer und Landgemeinden schadet dem ländlichen Raum und schwächt die Demokratie

Das Land leidet massiv unter der doppelten Entmündigung durch Bund und Länder: einmal der Kommunen und zum anderen der Mehrheit der eingemeindeten Dörfer und Kleinstädte. Es fehlen der Respekt gegenüber den Kompetenzen und Kräften der Selbstverantwortung auf dem Land, die ausreichende finanzielle Unterstützung und die Freiräume der lokalgerechten Entfaltung. Ergebnisse dieser „Behandlung“: Schlechtes Ansehen der Kommunalpolitik, Resignation der Kommunalpolitiker*innen und noch engagierten Bürger*innen, die nachlassende Bereitschaft, sich in die Kommunalpolitik aktiv einzubringen. Die bisher praktizierte Förderung des Landes durch unübersichtliche und hürdenreiche „Töpfchen“ (des Bundes und der Länder) kommt in der Masse der Dörfer und Landgemeinden nicht an und zermürbt die Antragsteller*innen. Grundlage des Beitrages ist das Buch des Autors "Rettet das Dorf - Was jetzt zu tun ist" (2018).

Was Bürger*innen und Kommunen tun können

Die Zukunft des Dorfes entscheidet sich zunächst vor allem durch die Arbeit der Kommunen und das Mitwirken ihrer Bürger*innen. Das Beschäftigen mit lokalen Leitbildern und Schwerpunkten ist wichtig. Jedes Dorf, jede Kleinstadt ist ein Unikat. Jedes Dorf, jede Gemeinde hat andere Werte und Potenziale, aber auch andere Defizite und Probleme. Dies bedeutet: Jedes Dorf, jede Gemeinde muss für sich herauszufinden, was ihm bzw. ihr besonders wichtig ist. Die Hauptbotschaft für die Dorf- und Gemeindeebene lautet: Sowohl die Bürger*innen als auch die Kommunen müssen wachsam und engagiert sein. Sie müssen sich ganzheitlicher und intensiver dem Gemeinwohl des Dorfes zuwenden. Die Bürger*innen und Kommunen müssen sich klarmachen: Jedes – eingemeindete oder selbstständige – Dorf, jede Gemeinde muss für seine/ihre Gegenwart und Zukunftsfähigkeit selbst sorgen, muss sich also (salopp gesagt) selbst retten! Im Idealfall sollten Bürger*innen und Kommunen auf Augenhöhe miteinander umgehen, um Erfolg zu haben.

Die Bürger*innen sind doppelt gefragt. Sie sollten sich möglichst zahlreich in der Kommunalpolitik engagieren. Sie müssen aber auch die Vereine aktiv gestalten und tragen, sowohl traditionsreiche Vereine, etwa Feuerwehren, Schützenvereine, Sport- und Musikvereine, als auch die neuen „Bürgervereine“, die den letzten Gasthof oder Laden „retten“ oder ein ehemals kommunales Freibad übernehmen.

Die Aufgabenschwerpunkte der ländlichen Kommunen haben sich in den letzten Jahrzehnten deutlich verändert und erweitert. Früher ging es den Bürgermeister*innen und Gemeinderät*innen vorwiegend um neue Bau- und Gewerbegebiete, um Wasser- und Abwasserversorgung sowie um das kommunale Wegenetz. Heute steht immer mehr die Bekämpfung und Steuerung von Schrumpfungsprozessen im Vordergrund – mit Themen wie Leerstand, Infrastrukturverluste und demografischer Wandel. Ein Dorfbürgermeister aus Rheinland-Pfalz brachte es kürzlich auf den Punkt: „Ein Dorfladen ist genauso wichtig wie die Kanalisation!“ Zunehmend wird die innere und vor allem soziale Infrastruktur der Dörfer – wie Kinderbetreuung, Schule, Ärzt*innen, Pflege und Betreuung von Senior*innen, kranken und behinderten Menschen, Vereine, Einkaufs-, Gastronomie-, Kultur- und Freizeitangebote – zum harten und bestimmenden lokalen Standortfaktor. Und nach dem Sozialstaatsprinzip stehen Staat und Kommunen hier in der Verantwortung. Ganz wichtig sind vor allem in kleinen und mittelgroßen Dörfern öffentliche Treffpunkte für Junge und Alte, wie z. B. im fränkischen Langenfeld in einer sanierten alten Scheune in der Ortsmitte („Dorflinde“). Neben den Treffpunkten sind die geschaffenen Möglichkeiten des betreuten Wohnens und Altwerdens im Dorf wichtig, dies entspricht einem Hauptwunsch der älteren Landbewohner*innen. Das kleine und nicht übermäßig reiche Bundesland Rheinland-Pfalz unterstützt und fördert diese Möglichkeiten in kleinen und mittleren Dörfern vorbildlich.

Wie können und sollen die umfassenden und hohen Erwartungen an die ländliche Kommunalpolitik erfüllt werden? Die große Hoffnung und das neue Leitbild heißt Bürgerkommune. Eine präzise Beschreibung gibt Karl-Christian Schelzke vom Hessischen Städte- und Gemeindebund:

Keine der großen kommunalen Herausforderungen kann ohne die aktive Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern sowie von neuen Formen der Kooperation und Vernetzung bewältigt werden. Es gibt für die Zukunft unserer Gemeinden keine Generallösung. Im Mittelpunkt müssen die Menschen jeder einzelnen Kommune mit ihren Bedürfnissen und Interessen stehen. Wir beobachten als kommunaler Spitzenverband einen Paradigmenwechsel in der Politik. Die Bewegung geht weg vom abstrakten Bürger, von der Bürgerschaft als Objekt, als Planungsgröße, mitunter als Störfaktor, hin zum agierenden, zum aktivierten Citoyen (Bürger), hin zur Bürgerkommune. (Henkel 2018: 152f.)

Die Kommunen sind also mehr denn je auf das Mitdenken, Mitgestalten und Mitmachen ihrer Bürger*innen angewiesen. Aus staatlich-politischer Sicht gilt das bürgerschaftliche Engagement als tragende Säule eines demokratischen, sozialen und lebendigen Gemeinwesens.

Die Entmündigung der Dörfer und Landgemeinden, das innere Dorfsterben, Hürden und Konsequenzen

Der Staat – in Gestalt von Bund und Ländern – ist ein wesentlicher Mitverursacher der Ohnmachtsgefühle, der gereizten Stimmung und Resignation auf dem Lande. Er gibt den Dörfern und Landgemeinden zu wenig Anerkennung, finanzielle Unterstützung und gestalterische Freiräume. Das Subsidiaritätsprinzip im Staatsaufbau ist bereits weitgehend ausgehöhlt und dieser Trend setzt sich weiter fort. Die Dörfer und Kommunen fühlen sich zunehmend „von oben“ gegängelt und entmündigt.

Auf dem Lande hat in den letzten Jahrzehnten eine zweifache Entmündigung kommunaler Instanzen stattgefunden: auf der Ebene der Dörfer und der Gemeinden.

Ebene der Gemeinden: Wenn man mit Bürgermeister*innen, Gemeinderät*innen oder Gemeindeverwaltungen spricht oder kommunalpolitische Zeitschriften liest, taucht immer wieder die Klage auf: „Wir können heute kaum noch etwas selbst gestalten. Unsere Spielräume werden immer kleiner.“ Tatsächlich beschneiden die Vorgaben der Landes- und Bundespolitik immer massiver das Selbstverwaltungsrecht der Gemeinde. Die Fernsteuerung der Kommunen zeigt sich in rechtlichen, planerischen und finanziellen Reglementierungen. Inzwischen sind etwa 90 % der kommunalen Ausgaben durch staatliche Gesetze und Richtlinien festgelegt. Die fehlende „freie Spitze“ kommunaler Finanzplanung zwingt viele Kommunen zu verstärkter Schuldenaufnahme. Das niederschmetternde Fazit der permanenten Entmündigung lautet: In der ländlichen Kommunalpolitik dominiert das Gefühl der Geringschätzung und Bevormundung durch die hohe Politik. „Die da oben bestimmen ja doch alles!“ ist eine oft zu hörende Feststellung. Die in Sonntagsreden gepriesene kommunale „Selbstverwaltung“ ist kaum noch eine solche, sie ist heute weitgehend eine Verwaltung von Aufgaben, die meist „von oben“ bestimmt werden (Jasper von Altenbockum).

Ebene der Dörfer: Ganz aufgelöst wurde die bestehende demokratische Basis des Staates in über 20.000 deutschen Dörfern und Kleinstädten: Ihnen hat man gegen ihren Willen durch von oben diktierte „Gebietsreformen“ – nach dem sog. „Zentrale-Orte-Modell“ – die in Jahrhunderten bewährte Selbstverantwortung mit Bürgermeister*innen und Gemeinderat genommen. Die Dörfer verloren ihre eigene demokratische Kraft und damit auch das Selbstwertgefühl, für ihr Dorf Kompetenz zu besitzen und verantwortlich zu sein. Sie wurden zu ohnmächtigen „Ortsteilen“ in oft riesigen, willkürlich zusammengefügten Großgemeinden. Deutschlandweit wurden auf dem Land mit der Gebietsreform über 300.000 ehrenamtlich tätige Kommunalpolitiker*innen „entlassen“. Ihnen wurde vom „Staat“ signalisiert, dass ihre lokale Kompetenz, ihr Denken, Fühlen und Handeln für ihr Dorf nicht mehr gebraucht wird. Dieses Signal war für mich der Beginn des inneren Dorfsterbens. Für den namhaften Historiker Wolfgang Reinhard war die Gebietsreform der 1970er Jahre „das Ende der Demokratie in Deutschland“ (SZ v. 9.4.2017). Viele Dörfer sind bis heute durch den Verlust ihres lokalen Kompetenz- und Kraftzentrums traumatisiert.

Ein Beispiel für die Entmündigung: Wo früher die marode Friedhofsmauer durch den*die dörfliche*n Bürgermeister*innen und Gemeinderat in Augenschein genommen und zeitnah und kostengünstig saniert wurde, beginnt heute ein langwieriger Behörden- und Aktenmarathon mit mehrfachen Bereisungen von entfernten Kommissionen, in denen kein*e ortskundigen Dorfbürger*innen mehr gefragt und gebraucht werden.

Inzwischen ist durch Studien belegt worden, dass Gebietsreformen keine finanziellen Einsparungen bringen, aber verheerende demokratische und soziale Verluste verursacht haben und weiter verursachen. Durch Langzeitstudien wissen wir, dass selbstständig gebliebene 1.000-Einwohner*innen-Dörfer sich in Bezug auf ihre Bevölkerungs-, Infrastruktur- und Immobilienwertentwicklung besser entwickelt haben als gleich große eingemeindete Dörfer. Wir wissen heute, dass Gebietsreformen nach dem Zentrale-Orte-Modell im Dritten Reich entwickelt, mit dem Führerprinzip begründet und ab 1940 erstmals umgesetzt worden sind. Sie atmen den Geist einer Diktatur. Als Vordenker gilt der Geograf und Raumordnungspolitiker Walter Christaller. Das entspricht nicht mehr dem heutigen demokratischen Staatsaufbau von unten nach oben, dem immer wieder geforderten Subsidiaritätsprinzip, dem Prinzip einer von Bürger*innen mitgetragenen Demokratie, die direkt dem Gemeinwohl in den Dörfern und Kleinstädten zugutekommt. Trotz all dieser Erkenntnisse und gewandelten Leitbilder werden die Gemeinde- und Kreisauflösungen fortgesetzt, wie derzeit in Thüringen und Brandenburg zu beobachten ist. Hier sehen die betroffenen Bürger*innen und Kommunalpolitiker*innen, dass sich die Entscheidungszentralen in den Ländern noch ein Stück weiter von ihrer lokalen Basis entfernen, dass ihre Mitarbeit noch weniger geschätzt und gewünscht wird. Das Vertrauen der Bürger*innen gegenüber den zentralen Institutionen von Staat und Gesellschaft schwindet. Ohnmachtsgefühle und Wut stellen sich ein. Nicht- und Protestwähler*innen sind die Folge. Mein Fazit: Gebietsreformen haben der Mehrheit der deutschen Dörfer und Kleinstädte großen Schaden zugefügt und zugleich die demokratische Basis des Staates massiv beschädigt.

Hürden: Die Entmündigung der Dörfer und Landgemeinden zeigt sich nicht nur in den geringen oder beseitigten Befugnissen und Freiräumen der Selbstverantwortung. Es gibt immer neue – und wechselnde – Hürden, die den Dörfern und Landgemeinden das positive Gestalten und Engagieren schwer oder gar unmöglich machen. Ein paar Beispiele von vielen möglichen: Die ständig wechselnden Vorgaben für die Mindestgrößen von dörflichen Schulen oder Kitas (meist mit der Begründung „nach wissenschaftlichen Erkenntnissen“) zeigen, wie wenig verlässlich viele Länder mit ihren Kommunen umgehen. Selbst hochengagierte Kommunen und Eltern haben meist keine Chancen, ihre dörfliche Schule zu erhalten. Kleine Gemeinden in abgelegenen Gebieten (in Rheinland-Pfalz) kämpfen jahrelang vergebens um 2, 3 Baugenehmigungen für ansiedlungswillige junge Familien. Eingemeindete Dörfer betteln jahrelang vergebens um 500 Euro für die Anschaffung eines Rasenmähers, um damit die öffentlichen Rasenflächen ehrenamtlich zu mähen. Vereine, die traditionell Geld für Vereinsaufgaben durch den Verkauf von selbst gebackenen Torten auf Vereinsfesten gewinnen, bekommen derart strenge Vorgaben (z. B. Hygiene-, Deklarierungs- und Steuerauflagen), dass diese großartigen Gemeinschaftsleistungen aufgegeben werden und damit Vereinsangebote gekürzt oder gestrichen werden müssen.

Man könnte diese Liste um Hunderte oder Tausende von Beispielen verlängern, die mir bei Begegnungen in den Dörfern oder per E-Mail oder Telefon geschildert werden (verwiesen sei auch auf das Buch des Berlin-Instituts „Von Hürden und Helden“). „Alles wird geblockt und reglementiert. Es macht keinen Spaß mehr!“, so lautete kürzlich das verzweifelte Fazit eines Ortsvorstehers im südlichen Niedersachsen. Es müsste heute eigentlich in jeder Kommune ein*en Hürdenberater*in geben, die*der die zahlreichen von oben gesetzten Hürden zu beseitigen oder zu überwinden hilft. Dies gilt für die Kommune selbst wie für die aktive Bürgerschaft.

Das schlechte Ansehen der Kommunalpolitik

Die vom Staat (Bund und Ländern) reduzierten Befugnisse und Freiräume haben zu einem schlechten Ansehen der Kommunalpolitik bei den Bürger*innen geführt. So ist es oft schwierig, Nachwuchs für den Gemeinderat zu gewinnen. Vielerorts finden sich keine Bewerber*innen dazu bereit, das Bürgermeister*innenamt zu übernehmen. Das wiederum wird in den Staatskanzleien der Länder als Argument benutzt, noch größere Kommunen anzustreben. Der Trend geht dahin, dass viele für die Kommunalpolitik hoch qualifizierte Bürger*innen nicht in die Kommunalpolitik gehen, sondern lieber Vorstandsämter in Schützen-, Karnevals-, Sport-, Musik- oder Kulturvereinen übernehmen, wo sie wirklich etwas bewegen können und die erfolgreiche Arbeit Spaß macht. Die Geringschätzung der Kommunalpolitik durch die staatlichen oder überhaupt höher gelagerten Ebenen führt somit konsequent zu einer Geringschätzung bei den Bürger*innen. Gegen diese Missstände an der Basis des Staates muss dringend und nachhaltig vorgegangen werden. Das erfordert ein gewaltiges Umdenken in den Zentralen der Macht in Bund und Ländern. Statt immer weiter seine zentralistischen Programme von oben nach unten durchzusteuern, sollte der Staat seine demokratische Basis „unten“ respektieren, stärken und wiederbeleben. Ist er dazu von sich aus in der Lage?

Mit Heimatministerien versuchen Bund und Länder derzeit, den Dörfern und Landkommunen Zuwendung zu signalisieren. Skepsis ist jedoch angebracht, ob damit tatsächlich eine Kehrtwende in der Behandlung des Landes beginnt. In einzelnen Zuschriften an mich wird nüchtern konstatiert: „Diese wird erst dann besser, wenn wir eine ganz neue ‚Kommunalpartei‘ oder ‚Freiherr vom Stein-Partei‘ hätten.“

Wenn die Kommunalpolitik wieder Gewicht und Befugnisse bekommt, wird ihr Ansehen steigen. Dann werden auch die Bürger*innen wieder mitmachen und sich mit dem Gemeinwesen solidarisieren.

Mein knappes Fazit: Das offenkundig große Defizit an Respekt und Zuwendung, das Dorfbewohner*innen und Lokalpolitiker*innen empfinden und immer wieder äußern, sollte in den Zentralen der Macht ein Umdenken über ihre Politik der Entmündigung der unteren Ebene auslösen, sonst wird das Dorf und die ländliche Kommunalpolitik nicht zu retten sein.

Vorschläge an Bund und Länder, um die Entmündigung der Kommunen und das innere Dorfsterben aufzuhalten und gegenzusteuern

Es ist mir klar, dass der hier geforderte Paradigmenwechsel in der Behandlung und Förderung des Landes nicht leicht und nicht von heute auf morgen umgesetzt werden kann. Dies ist ein langer Weg und es wird neben großen und kleineren Hürden auch viele Widerstände geben, die mit Befugnis- und Machtübertragungen und -verlusten zusammenhängen. Aber man sollte doch schon jetzt – was möglich ist – ein paar Zeichen setzen, um ein (neues) Vertrauen in die untere Ebene des Staates zu signalisieren, um die dortige Verdrossenheit und Resignation aufzubrechen. Ein vielschichtiges Vorgehen ist vonnöten.

Ein generelles, mittel- und langfristiges Vorgehen müsste sich zum Ziel setzen, das eigentlich unumstrittene Leitbild Subsidiarität im Staatsaufbau tatsächlich zu verwirklichen. Hier geht es um grundsätzliche Abstimmungsfragen zwischen den Gebietskörperschaften, aber auch um kleinere Signale – z. B. die Bedeutung des Dorfes in der Verfassung, also dem Grundgesetz, zu würdigen, das Dorf in die Bezeichnungen von Ministerien, Bundesbehörden und Bundesakademien aufzunehmen und vielleicht auch die Selbstverantwortung des Dorfes als immaterielles Weltkulturerbe (also nicht nur die Schützen- und Karnevalsvereine) anzuerkennen. Ein grundlegendes Problem ist, dass das Dorf wie die ländliche Kommunalpolitik bisher keine Stimme, keine Macht hat, z. B. auch nicht in den kommunalen Spitzenverbänden.

Drängende Aufgaben gibt es in den Dörfern zuhauf. Zwei konkrete Beispiele einer kurzfristig anzugehenden Förderung des Landes nach dem Motto „Hilfe zur Selbsthilfe“.

a) Ein – zunächst einmaliges – 10.000-Euro-Ermutigungsprogramm für jedes deutsche Dorf. Es wird unbürokratisch in die Hände des*der Dorfbürgermeisters*in, Gemeinderats, Ortsvorstehers*in oder eines noch zu gründenden Bürgervereins gelegt. Ein solches Programm würde gewaltige Signale und Kräfte auslösen: Das Dorf würde den neuen Respekt und das Vertrauen der Zentralen spüren. Die Menschen würden sich ernst genommen fühlen und das Geld mit ihrer lokalen Kompetenz sinnvoll verwenden. Es würde auch manche selbst verschuldete Schläfrigkeit auf dem Land aufwecken.

b) Ein dörflich-kommunales Zukunftsentwicklungsprogramm für einen Zeitrahmen von drei bis fünf Jahren, das jeder Kommune, jedem Dorf die Chance gibt, konkrete Ziele zu finden und zu realisieren. Zwei mögliche Themenschwerpunkte: ein großes Leerstandsbekämpfungsprogramm für Dörfer und Kleinstädte gemäß den Leitbildern „Innen- vor Außenentwicklung“ und „Jung kauft Alt“ oder generell das „Aufwachsen, Arbeiten, Leben, Wohnen und Altwerden auf dem Land“ entsprechend dem „Leitbild des Dorfes als Sorgende Gemeinschaft“. Der Staat gewährt Hilfe zur kommunalen und lokalen Selbsthilfe, verlässlich und nachhaltig. Auch durch ein derartiges unbürokratisches Programm würden sich die Dörfer und Kommunen vom Staat in ihrer Selbstverantwortung respektiert und gestärkt fühlen. In einem persönlichen Gespräch befürwortete der erfahrene Politiker Franz Müntefering am 18.5.2017 in Bad Soden derartige kommunale Stärkungsprogramme, sein Fazit: „Die wissen am besten, was für sie gut ist, und man sollte den Kommunen das zutrauen!“

Fazit

Generell brauchen die Dörfer und ländlichen Kommunen mehr als bisher die Wertschätzung durch den Bund und die Länder. Sie erfahren zu viel Gängelung und Bevormundung durch kaum noch zu überschauende Vorschriften und Förderprogramme, mit denen man „die Fläche“ steuern und „beglücken“ will, die aber vor allem dem Machterhalt der Ministerien dienen. Sie brauchen also mehr Vertrauen in die Kompetenz der Kommunalpolitik, sie brauchen eine bessere Finanzausstattung, sie brauchen den Abbau von starren rechtlichen und planerischen Vorgaben und Hürden und damit vor allem mehr Freiräume für innovative, flexible und ortsbezogene Aufgaben- und Problembewältigung. Die Kommunen haben für die ganze Gesellschaft einen hohen Wert, weil die Politik nur hier mit dem Bürger*innen bei der Gestaltung des Wohnumfeldes unmittelbar in Kontakt kommt. Hier besteht am ehesten die Chance, die allgemein ansteigende Politik- und Staatsverdrossenheit abzubauen.

Deshalb mein Appell an die zentralen Entscheider*innen in Politik und Gesellschaft:

Stärkt generell die ländlichen Gemeinden. Zeigt ihnen, dass sie die Keimzelle des Staates und die Schule der Demokratie sind. Demokratie heißt Mitmachen, sich engagieren. Sie beginnt und übt sich am besten in kleinen, überschaubaren Räumen. Gebt den noch selbstständigen Dorfgemeinden und Dorfpfarreien mehr Respekt und Unterstützung, damit sie motiviert und engagiert ihren Einsatz für das Gemeinwohl fortsetzen können. Beendet die fortgesetzte Entmündigung der Dörfer und damit das weitere „innere Dorfsterben“. Beendet das Beseitigen von Dorfgemeinden und Dorfpfarrereien. Gebt der – durch zentralistische „Reformen“ – entmachteten Mehrheit der deutschen Dörfer und Kleinstädte ihre Autonomie mit Bürgermeister*in und Gemeinderat und damit ihre eigentliche lokale Kraft zurück! In jedem Dorf sollte das demokratische Denken, Fühlen und Handeln für den Ort wieder möglich sein, sollte eine kommunale Instanz mit Befugnis vorhanden sein. Jedes Dorf wird wieder seinen wichtigen Beitrag im Staatsaufbau leisten, wenn man dies zulässt.

Vertraut der Kompetenz, dem Engagement und dem Gemeinwohldenken der Dorfbewohner*innen. Vertraut dem Subsidiaritätsprinzip im Staatsaufbau. Stellt den Staat und die Demokratie wieder vom Kopf auf die Füße.

Warum das Dorf nicht sterben darf

Immer wieder werde ich von den Medien gebeten, zu Fragen und Thesen wie diesen Stellung zu beziehen: „Wie sinnvoll ist eine Wiederbelebung des ländlichen Raumes? Landleben ist Luxus – lasst das Dorf sterben!“ Hier eine sehr knappe Antwort:

Das Land ist für Staat und Gesellschaft genauso wichtig wie die Großstadt. Immerhin macht es 90 % der Fläche Deutschlands aus, hier leben über 50 % der Bevölkerung. Schon ökonomisch ist das Land kein Armenhaus der Nation, über 50 % der Wertschöpfung Deutschlands erfolgen hier, viele Weltmarktführer haben ihren Sitz in Dörfern und Kleinstädten. Das Land versorgt die gesamte Gesellschaft mit Lebensmitteln, mit Rohstoffen wie Wasser und Holz und erneuerbarer Energie. Auf dem Land herrscht eine hohe Zufriedenheit mit dem Wohnumfeld. Hier bieten sich bessere Chancen des gesunden Aufwachsens für Kinder und Jugendliche. Ländliche Lebensstile sind in. Es besteht eine hohe Kompetenz, lokale und regionale Aufgaben und Probleme ehrenamtlich und genossenschaftlich anzugehen. Selbstverantwortung und „Anpackkultur“ sind im Dorf tief verwurzelt. Das Land bietet hochwertige Kulturlandschaften und auch eine alternative Lebensform, die durch Natur- und Menschennähe, durch vor- und fürsorgendes Denken und Handeln geprägt ist. Daher lautet mein Weckruf an die Entscheider*innen in den Zentralen von Politik und Gesellschaft: Lasst das Dorf leben und seine bürgerschaftlichen Kräfte neu entfalten. Und gebt dem Staat damit zugleich seine demokratische Basis zurück!

 

 

 

Teile des Beitrages sind dem Buch „Rettet das Dorf“ des Autors entnommen und wurden bereits hier veröffentlicht: Henkel, Gerhard (2018): Dörfer und Landgemeinden müssen gestärkt, statt weiter geschwächt werden. In: Ländlicher Raum, Heft 3/2018, S. 4-7.

 

Literatur & weiterführende Publikationen zum Thema „Gebietsreform“

Blesse, Sebastian/Rösel, Felix (2017): Was bringen kommunale Gebietsreformen? In: Perspektiven der Wirtschaftspolitik, Heft 18 (4), S. 307-324.

Güllner, Manfred (2017): Gebietsreform Nein Danke! In: KOMMUNAL, Heft 1-2, S.45-49.

Henkel, Gerhard (2018): Rettet das Dorf! Was jetzt zu tun ist. dtv Sachbuch: München.

Kramer, Ferdinand (2016): Die Gebietsreform und ihre Folgen für die politische Kultur und den ländlichen Raum in Bayern. In: Verband bayerischer Geschichtsvereine [Hrsg.]: Mitteilungen des Verbandes bayerischer Geschichtsvereine, 27, S. 181-186.

Rösel, Felix (2016): Sparen Gebietsreformen Geld? Ein Überblick über neue Studien. In: ifo Dresden berichtet, 23, Heft 4, S. 45-49.

Rösel, Felix (2017): Mehr Populismus durch Gebietsreformen. In: Ländlicher Raum, 2, S. 38f.

Slupina, Manuel/Sütterlin, Sabine/Klingholz, Reiner (2015): Von Hürden und Helden. Wie sich das Leben auf dem Land neu erfinden lässt. Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung.

Stiens, Gerhard (1990): Zur Notwendigkeit der Abkehr vom herkömmlichen Zentrale-Orte-Konzept in der Raum- und Infrastrukturplanung. In: Henkel, Gerhard [Hrsg.]: Schadet die Wissenschaft dem Dorf? Essener Geographische Arbeiten, 22, S. 89-108.