Gebietsreform und extreme Rechte: Themen und Schwerpunkte regionaler Protestereignisse in Thüringen 2017

Was beschäftigt die Zivilgesellschaft in Thüringen? Der vorliegende Artikel berichtet deskriptive Befunde einer Protestereignisanalyse auf Grundlage von Tageszeitungsartikeln aus dem gesamten Jahr 2017. Zugrunde liegen insgesamt 507 erhobene Protestereignisse. Die Daten zeigen, welche Themen besonderes Konfliktpotenzial mit sich bringen und offenbaren allgemeine Tendenzen und Trends gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Sie weisen u. a. ein besonders hohes Gewaltpotenzial im Rechtsextremismus aus.

Einleitung und Methode

Der ländliche Raum wird oftmals als ein Raum der Idylle imaginiert. Zahlreiche Magazine präsentieren wohlgetrimmte Rasenflächen, liebevoll gestaltete Gartenlandschaften, eine zumindest in ihrer visuellen Repräsentation kaum industrialisierte Landwirtschaft und entspannte Radtourist_innen. Periphere Regionen erscheinen als Hort von Ruhe und Ordnung, an dem gesellschaftliche Widersprüche sich scheinbar weniger stark äußern als in den urbanen Zentren (vgl. Neu 2016). Und so denkt man auch bei Protest eher an Hamburg, Berlin oder Dresden als an Ostritz, den Kyffhäuser oder Hermsdorf. Dieses Bild muss zumindest teilweise revidiert werden. Wie unsere Daten zeigen, sind zahlreiche Menschen in Thüringen, auch in der Fläche, nicht nur ehrenamtlich, sondern auch politisch für diverse Interessen und Themen mobilisierbar. Dabei geht es nicht nur um diffuse Fragen von Heimat oder regionaler Identität, vielmehr beleben sie den öffentlichen Diskurs mit einer Vielzahl konkreter Themen, machen Demokratie erlebbar und gesellschaftliche Spannungen sichtbar, sodass Politiker_innen darauf reagieren können. Öffentliche Diskussionen, etwa um den Begriff „Heimat“, indizieren die gesellschaftliche Dynamik von Modernisierungs- und Gestaltungsprozessen ebenso wie die empirischen Befunde aus Thüringen in diesem Beitrag. Gesellschaftlicher Zusammenhalt entsteht durch öffentliche, politische Aushandlung – dazu gehört auch das Protestieren, welches heutzutage nicht mehr nur im Repertoire hauptsächlich linker Akteur_innen eine bedeutende Rolle spielt: Protest verhandelt die Grundlagen des Zusammenhaltes und indiziert somit gesellschaftliche Konfliktpotenziale (vgl. Bischof/Quent 2017).

Im Jahr 2017 haben wir in einer umfassenden Erhebung in den Zeitungen Thüringer Allgemeine, Ostthüringer Zeitung und Freies Wort im Rahmen einer Stichprobenerhebung Protestereignisse in Thüringen systematisch recherchiert, dokumentiert und in die Datenbank „Zivilgesellschaft in Bewegung“ eingepflegt.1 Der Stichprobe lagen jede Montagsausgabe der ausgewählten Zeitungen und zusätzlich ein fortlaufender Tag pro Woche zugrunde. Das heißt, in der ersten Woche Montag und Dienstag, in der zweiten Montag und Mittwoch, in der dritten Montag und Donnerstag usw. (Bischof/Quent 2017: 133). Das Forschungsprojekt orientierte sich methodisch am Vorgehen und am Handbuch der bundesweiten Protestdatenbank „Prodat“, welche Protestereignisse in der Bundesrepublik zwischen 1993 und 2007 dokumentiert und analysiert hat (vgl. u. a. Rucht 2001). Daran angelehnt definieren wir Protestereignisse als öffentliche Aktionen nicht staatlicher Akteure, die Kritik oder Widerspruch zum Ausdruck bringen und mit der Formulierung eines gesellschaftlichen oder politischen Anspruchs oder Ziels verbunden sind (Bischof/Quent 2017: 127). Da es sich um eine Stichprobe handelt, bilden die zugrunde liegenden Daten nicht das gesamte Protestaufkommen in Thüringen ab: Die Daten liefern keine vollständige Dokumentation, sondern einen repräsentativen Einblick in das öffentlich berichtete Protestgeschehen im Jahr 2017 in Thüringen.

Aufgrund der besonderen Schädlichkeit für das friedliche Zusammenleben und den Zusammenhalt in der Gesellschaft wurden Berichte über gewalttätige Angriffe auf (vermeintliche) Angehörige von gesellschaftlich stigmatisierten Gruppen ebenfalls in die Datenbank aufgenommen (zu Hassaktivitäten vgl. Geschke 2017). In allen Fällen wurden die jeweiligen öffentlichen Pressequellen gesichert, mit eindeutigen Kennziffern versehen und anhand vorab definierter Vorgaben eines umfangreichen Kodierhandbuches mithilfe eines Onlinefragebogens erfasst. Der entstandene Datensatz wurde geprüft, um formale Fehler bereinigt und mit der statistischen Analysesoftware SPSS ausgewertet.

Der vorliegende Artikel berichtet deskriptive Befunde der Erhebung aus dem gesamten Jahr 2017.
Zugrunde liegen insgesamt 507 erhobene Protestereignisse. Die Daten zeigen, welche Themen besonderes Konfliktpotenzial mit sich bringen und offenbaren allgemeine Tendenzen und Trends gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Besonderen Wert besitzen die Daten aufgrund der kleinräumigen Erhebung in allen Landkreisen. Somit können beispielsweise lokale Schwerpunktthemen identifiziert werden.

Im Folgenden wird zunächst die regionale Verteilung von Protestereignissen in Thüringen im Jahr 2017 auf der Ebene von Landkreisen und kreisfreien Städten betrachtet. Anschließend werden die Hauptthemenfelder dargestellt und überblicksartig beschrieben. Dem folgen vertiefende Analysen zu dem wichtigen einzelnen Konfliktthema, der geplanten Gebietsreform, sowie zu dem größten Konfliktfeld insgesamt: extrem rechte Aktivitäten sowie Gegenproteste.

Regionale Verteilung

Wie bereits angedeutet, wurden Protestereignisse aus allen Teilen Thüringens im Rahmen der Erhebung sichtbar. Tabelle 1 stellt die absolute Anzahl der erhobenen Protestereignisse je Landkreis bzw. kreisfreier Stadt dar. Abbildung 2 zeigt, wie sich die Protestereignisse anteilig an der Bevölkerung der Landkreise bzw. kreisfreien Städte in Thüringen verteilen.

Die Stichprobe weist im Durchschnitt 2,35 Protestereignisse pro 10.000 Thüringer_innen im Jahr 2017 aus. Die Werte sind als Stichprobenbefunde relational zu interpretieren, das heißt: Die tatsächliche Zahl der Protestereignisse ist höher. Dabei kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass die Berichterstattung zwischen den Regionen differiert. Über das Altenburger Land beispielsweise berichtet auch die Leipziger Volkszeitung. Diese konnte jedoch aus ökonomischen Gründen in der zugrundeliegenden Stichprobe nicht berücksichtigt werden (zu den methodischen Schwachpunkten der Protestereignisanalyse vgl. Bischof/Quent 2017: 133f., Eilders 2001, Hocke 2001). Die wenigsten Protestereignisse wurden im Altenburger Land berichtet und die meisten in der kreisfreien Stadt Eisenach. Wird berücksichtigt, dass es sich bei Eisenach mit 42.588 Einwohner_innen um eine relativ kleine kreisfreie Stadt handelt und wenn man die Protestereignisse des die Stadt umschließenden Wartburgkreises hinzuzählt, dann ergibt sich jedoch ein insgesamt unterdurchschnittlicher Wert von 1,9 Protestereignissen pro 10.000 Einwohner_innen in Eisenach und dem Wartburgkreis. Deutlich über dem landesweiten Durchschnitt liegt die Dichte von Protestereignissen in den kreisfreien Städten Weimar, Gera sowie in den Landkreisen Hildburghausen, Schmalkalden-Meiningen, Kyffhäuserkreis, Weimarer Land, Unstrut-Hainich und Saale-Holzland. Besonders wenige Protestereignisse wurden aus den Landkreisen Altenburg, Sömmerda, Gotha, Greiz, Nordhausen, Saale-Orla, Saalfeld-Rudolstadt, Suhl und dem Ilm-Kreis berichtet.

Auffällig ist: In ländlichen Regionen nehmen spezifische Themen zum Teil eine große Rolle ein. Entsprechend erfahren Protestaktivitäten in ländlichen Regionen eine unerwartet hohe Resonanz in den Tageszeitungen. Während man auf Grundlage der Forschung von einem „Hauptstadteffekt“ (Hocke 1998: 219, Eilders 2001: 282) bzw. „proximity effect“ (Oliver/Maney 2000: 495f.) ausgehen würde, also von einem Bias der Berichterstattung zulasten ländlicher Räume, sind Protestereignisse auch in der Fläche durch die Berichterstattung der lokalen Zeitungen anscheinend gut abgedeckt. Zwar ist Erfurt in absoluten Zahlen mit 56 Protestereignissen tatsächlich der am stärksten vertretene Ort. Aber in Relation zur Bevölkerungszahl weist die Landeshauptstadt überraschenderweise nur durchschnittliche Werte auf, obwohl sie als Sitz des Landtages und der Ministerien, zentraler Medienredaktionen und wichtiger Bekenntnis- und Richtungsorganisationen einen besonders hohen symbolischen Wert für Protestierende besitzen dürfte. Dies zeigt zum einen, dass der ländliche Raum ein wichtiger räumlicher und themensetzender Kontext für das Protestgeschehen in Thüringen ist, und zum anderen, dass diese Proteste auch öffentlich wahrgenommen werden. Dies drückt sich vor allem aus in Protesten gegen die Gebietsreformpläne der Thüringer Landesregierung – die aus Sicht der Kritiker_innen erfolgreich verlaufen sind.

Dominante Themenfelder

Abbildung 3 zeigt, welche Claimfamilien das Protestgeschehen in Thüringen prägten. Claimfamilien fassen Protestereignisse unterschiedlicher, thematisch miteinander verwandter Protestanliegen zusammen. Die Claims wurden weitgehend auf Grundlage der Methodik des Projektes „Prodat“ verwendet, jedoch an die gegenwärtig und regional wichtigen Themen angepasst. Auf Grundlage der kodierten Claims wurden Oberkategorien („Claimfamilien“) gebildet. Bereits auf den ersten Blick offenbart sich ein breites Feld an Protestthemen, welche Thüringer_innen bewegen und zum Ausdruck von politischem Widerspruch motivieren. Die Daten zeigen: Proteste und Gegenproteste im Zusammenhang mit Themen der extremen Rechten machen etwas mehr als ein Viertel aller Ereignisse aus (28,4 Prozent, n=144, inklusive Gegenproteste). Rechtsextremismus bildete 2017 also das größte soziale Konfliktthema in Thüringen.

Das zweitwichtigste Themenfeld stellt Infrastruktur dar. Darunter fallen sowohl Proteste für oder gegen den Ausbau der kulturellen und sozialen Infrastruktur als auch Verkehrsthemen sowie der Ausbau des Stromnetzes im Zuge der Energiewende. 93 Protestereignisse wurden für dieses Themenfeld erhoben, fast jedes fünfte Protestereignis (18,3 Prozent) in Thüringen bezieht sich darauf.
Differenziert man diese Proteste genauer, so zeigt sich, dass es hier um die Auseinandersetzung mit den Strukturen der Daseinsvorsorge ebenso geht wie um die Bedingungen des alltäglichen Lebens. Knapp 8 Prozent aller Protestereignisse (n=41) in diesem Themenfeld beziehen sich auf Anliegen der kulturellen und sozialen Infrastruktur. So wurde für Kultur (bspw. Theater; n=8) und Kindergärten (n=2) und gegen Flächennutzungsvorhaben (n=8) protestiert. 6 Prozent der Protestereignisse im Jahr 2017 (n=31) richteten sich im Themenfeld „Stromnetz“ gegen den Bau von Anlagen für erneuerbare Energien bzw. den Ausbau des Leitungsnetzes vor allem in ländlich geprägten Regionen. Daneben sind es Proteste zu verkehrsbezogenen Themen, wie für den Ausbau oder Erhalt des öffentlichen Nahverkehrs, Straßenbau oder zur Verkehrsberuhigung, die die Auseinandersetzungen prägen (4,1 Prozent, n= 21).

Etwa halb so viele Protestereignisse wie im Themenfeld Rechtsextremismus fanden im Feld „Arbeit und Soziales“ (14 Prozent der Fälle, n=70) statt. So wurden insgesamt 50 Protestereignisse erhoben, die sich für eine bessere Lage von Arbeitnehmenden, für Lohnerhöhungen, betriebliche Mitbestimmung, für den Erhalt bzw. die Schaffung von Arbeitsplätzen oder sonstige arbeitnehmendenbezogene Themen einsetzen. Damit zeigt sich, dass klassische gesellschaftliche Konfliktlinien, wie die Auseinandersetzung um die Bedingungen von Erwerbsarbeit, nach wie vor eine hohe Relevanz haben und Menschen mobilisieren können. 14 Protestereignisse setzen sich für bessere Bedingungen von Schüler_innen oder Studierenden ein. Drei Protestereignisse thematisieren die Verbesserung der Situation von Familien und Kindern allgemein und die restlichen drei Ereignisse forderten allgemeine Verbesserungen im sozialen Bereich.

Als wichtigstes Einzelthema erweist sich die Auseinandersetzung um die Pläne der Thüringer Landesregierung für eine Gebietsreform (13 Prozent der Fälle, n=65). Bei diesem Claim überschneiden sich nicht – anders als beispielsweise in der Claimfamilie Arbeit und Soziales – diverse miteinander verwandte Anlässe, sondern die Aktivitäten beziehen sich unmittelbar auf die konkreten Vorhaben für eine Gebietsreform: Insbesondere Aktivitäten gegen dieses Vorhaben mobilisierten Thüringer_innen zu Protesten.
Ereignisse im Themenfeld Ökologie und Tierschutz umfassten 2017 8,9 Prozent der berichteten Protestereignisse (n=45). Dabei nehmen vor allem Proteste für Tier-, Landschafts-, Wald- und Pflanzenschutz eine wichtige Rolle ein. Diesen relativ stark vertretenen Themenfeldern folgen Protestereignisse zu Bürgerrechten und Mitbestimmung (n=24), für Frieden und Abrüstung (n=13), für Frauenrechte und gegen sexualisierte Gewalt (n=13) sowie gegen andere Formen von Diskriminierung (z. B. gegen Diskriminierung von Menschen mit Behinderung; n= 13). 10 Protestereignisse richteten sich allgemein gegen Staatsorgane oder Politiker_innen der Bundesrepublik (2 Prozent). 7 erhobene Aktionen (1,4 Prozent) sprachen sich für die europäische Integration (n=7) aus.

 

Thematisch zeigen sich regionale Schwerpunkte. Die überdurchschnittliche Protestdichte ist in Eisenach, Weimar, Hildburghausen und Gera vor allem auf Proteste für und gegen die extreme Rechte zurückzuführen. In den Kreisen Schmalkalden-Meiningen, Weimarer Land und Unstrut-Hainich haben überdurchschnittlich viele Proteste zum Thema Gebietsreform stattgefunden, im Kyffhäuserkreis zu ökologischen Themen und im Saale-Holzland-Kreis gegen Windenergie.

Größtes einzelnes Konfliktthema: die Gebietsreform

Proteste gegen die von der rot-rot-grünen Landesregierung geplante Gebietsreform stellten 2017 das größte Einzelanliegen bei Protestereignissen in Thüringen dar. Im August 2017 reagierte die Landesregierung auf den erheblichen Gegenwind u. a. durch die Entlassung des zuständigen Ministers für Inneres und Kommunales, Holger Poppenhäger, sowie die Ankündigung, die Strukturreform zunächst in der angedachten Form bis 2021 zu stoppen und stattdessen die freiwilligen Gemeindezusammenlegungen voranzutreiben. Bemerkenswert ist: Dieses lokal- bzw. landespolitische Thema spielt für das Protestgeschehen eine größere Rolle als bundes- oder europapolitische Themen. Knapp 13 Prozent (n=65) aller erhobenen Protestereignisse thematisierten die Gebietsreform – weitestgehend ablehnend. Nur 5 der 65 erfassten Ereignisse (7,7 Prozent) unterstützten die entsprechenden Pläne der Landesregierung. Die häufigste Aktionsform der Proteste gegen die Reformpläne waren Unterschriftensammlungen bzw. Petitionen (33,4 Prozent), öffentliche Versammlungen bzw. Demonstrationen (27,7 Prozent) und Pressemitteilungen bzw. Aufrufe (21,5 Prozent). Weniger häufig wurde über Flugblätter, kulturelle und nicht-sprachliche Protestereignisse berichtet. Regional verteilten sich die Proteste gegen die Gebietsreform unterschiedlich: Die meisten Aktivitäten wurden in den Landkreisen Schmalkalden-Meiningen, Unstrut-Hainich, Weimarer Land und Greiz berichtet.

Das größte Konfliktfeld: Themen der extremen Rechten

Fast 30 Prozent aller berichteten Protestereignisse 2017 (n=144) bezogen sich auf extrem rechte Akteure als Veranstalter, Claims der extremen Rechten (v.a. Nationalismus, Antisemitismus, Rassismus) sowie Straf- und Gewalttaten gegen gesellschaftlich stigmatisierte Gruppen (Hassaktivitäten). Dieses Themenfeld stellte 2017 ausgehend vom Anteil der berichteten Protestereignisse das größte gesellschaftspolitische Konfliktfeld in Thüringen dar. Dabei ist der Anteil der „Pro“- und „Kontra“-Proteste in diesem Themenfeld nahezu ausgewogen: 71 erfasste Protestereignisse unterstützen rechtsextreme Anliegen und 73 Ereignisse (50,7 Prozent) richteten sich dagegen. Somit ging mehr als jedes zehnte berichtete Protestereignis (14 Prozent) von extremen Rechten aus. Häufig gab es dabei Gegenveranstaltungen der Zivilgesellschaft: Fast die Hälfte der Proteste gegen rechts (46,6 Prozent; n=34) richteten sich reaktiv gegen rechte Protestereignisse. Gemessen am Bevölkerungsanteil fanden in Eisenach und im Landkreis Hildburghausen mehr als dreimal so viele Proteste in diesem Themenfeld statt wie im Landesdurchschnitt. Verantwortlich dafür sind im Landkreis Hildburghausen insbesondere die RechtsRock-Konzerte (vgl. Beitrag von Heerdegen in diesem Band) und in Eisenach die Aktivitäten von und gegen die NPD, die im Ort ein Veranstaltungszentrum betreibt. Auch in Gera und Weimar ist der Anteil überdurchschnittlich. Besonders wenige Protestereignisse in diesem Themenfeld wurden im Saale-Holzland-Kreis, im Altenburger Land, Gotha, Sonneberg und im Unstrut-Hainich-Kreis erhoben.

Gewalt im Konfliktfeld extreme Rechte

Den Angaben der erhobenen Medienbeiträge folgend waren 39 der 144 erfassten Ereignisse gewaltsam oder wurden im Verlauf zum Ausgangspunkt von Gewalt gegen Menschen oder Gegenstände. Dies trifft insbesondere auf die rechtsmotivierten oder vorurteilsgeleiteten, d.h. meist rassistischen oder antisemitischen Taten zu: Insgesamt 34 der 71 erhobenen rechten Protestereignisse (d.h.
48,9 Prozent) waren gewalttätig. Davon richteten sich 15 Taten unmittelbar gegen Menschen (meist gegen rassistisch Diskriminierte oder Polizist_innen) und 19 Fälle waren Beschädigungen von Gegenständen (meist durch das Anbringen rechtsextremer Symbole und Schmierereien bspw. gegen jüdische Grabsteine oder gegen Treffpunkte von alternativen Jugendlichen). Von den Protestereignissen gegen Rechts richteten sich 6,9 Prozent (n=5) der Fälle in der Stichprobe zerstörerisch gegen Gegenstände (n=4; meist Schmierereien an öffentlichem Eigentum oder gegen Veranstaltungsorte der extremen Rechten) oder Menschen (n=1; in diesem Fall gegen einen Teilnehmenden einer AfD-Versammlung). Abbildungen 4 und 5 veranschaulichen: Das weitaus größte berichtete Gewaltpotenzial in diesem Konfliktfeld geht von den Aktivitäten der extremen Rechten aus. Proteste gegen rechts verliefen in mehr als 90 Prozent der Fälle friedlich.

 

Fazit

Diese Einblicke in das Thüringer Protestgeschehen im Jahr 2017 zeigen: Ein Großteil der Protestereignisse hat auch einen spezifisch räumlichen, in dem Fall ländlichen Aspekt. Besonders deutlich wird dies beispielsweise mit Blick auf die Proteste in Bezug auf die Energiewende. Sie spielen sich zu einem großen Teil in ländlichen Räumen ab. Von der Forschung werden sie seit Jahren analytisch begleitet. Besonders im englischsprachigen Raum wurden Proteste gegen die Energiewende als NIMBY-Phänomen beschrieben (vgl. Burningham et al. 2006, Jones/Eiser 2010). NIMBY bedeutet „Not in my backyard“. Man beschreibt damit den Widerspruch gegen die Errichtung von Anlagen zur Erzeugung erneuerbarer Energie meist nicht aus einer prinzipiellen Ablehnung solcher Technologien heraus, sondern äußert die Ablehnung solcher Anlagen konkret in der eigenen Wohnumgebung bzw. dem eigenen „Hinterhof“. Inzwischen hat das Konzept jedoch vielfältige Kritik erfahren und es sind neue Begrifflichkeiten entstanden, die auch räumliche Aspekte mitberücksichtigen (vgl. Devine-Wright 2012, Horst 2007, Petrova 2016).

Dass sich Proteste und soziale Bewegungen nicht nur in urbanen Räumen abspielen, ist sowohl aus der deutschen wie auch aus der europäischen Geschichte bekannt (vgl. u. a. Böck/Gerke 2015, Prendiville 2017). Inwieweit Protest in ländlichen Räumen sich von dem im städtischen Bereich unterscheidet, ist jedoch erst in Ansätzen erforscht (vgl. Hocke 2001). Interessante Perspektiven dazu bieten beispielsweise die Arbeiten von Michael Woods et al. (2008): In ihrer Analyse von Grass­roots-Protesten und politischen Aktivitäten in Großbritannien stellten die Forschenden beispielsweise fest, dass Ländlichkeit die Aushandlung ihrer politischen Bedeutung und die identitäre und emotionale Bezugnahme auf den ländlichen Raum eine zentrale Rolle im Protestgeschehen in der Provinz spielten. Dabei konnten sie je nach Themengebieten des Protests unterschiedliche gefühlsmäßige und räumliche Muster der Bezugnahme auf Ländlichkeit feststellen (vgl. ebd.: 5). Auf Grundlage der Protestdatenbank lässt sich bereits ablesen, dass ein Großteil des Thüringer Protestgeschehens von ländlichen Räumen ausgeht. In ihnen spiegelt sich sowohl ein Bewahrungs- wie auch ein Gestaltungswille. Dies trifft nicht nur für das Themenfeld Infrastruktur, sondern auch für das Themenfeld der extremen Rechten zu. Im Untersuchungszeitraum waren zwar diverse Konflikte um konkrete Sachthemen zu finden, etwa die Organisation der Verwaltung durch die Gebietsreform, doch der größte Bereich der erhobenen Protestereignisse umfasst von extrem Rechten inszenierte Proteste und die zivilgesellschaftlichen Reaktionen darauf. Vertiefend muss analysiert werden, inwieweit der ländliche Raum eine besondere Rolle für die Verbreitung von Ressentiments spielt – wie es neuere Studien nahelegen (vgl. Cramer 2016, Hillje 2018, Hochschild 2016).

Deutlich wird anhand der Daten, dass die Probleme und Konfliktpotenziale komplexer sind als eine Fokussierung auf Heimat oder regionale Identitäten suggeriert. Betrachtet man das Protestgeschehen als Indikator für gesellschaftlichen Zusammenhalt, zeigt sich anhand des Protestgeschehens in Thüringen, dass Konflikte und Widersprüche sich nicht nur an den Achsen Stadt-Land oder Zugewanderte-Etablierte festmachen lassen. Vor allem konkrete Anlässe wie die Infrastruktur vor Ort sowie Arbeit und Soziales sind zentrale Themen der Auseinandersetzung mit und der Gestaltung von Gesellschaft. Von den vielfältigen und konkreten Partizipationsformen und Protestanlässen gesellschaftlicher Aushandlungen lenken rechte populistische und extremistische Stimmungsmache sowie die häufig rassistisch geprägte Konstruktion von Sündenböcken ab. Derartige extrem rechte Proteste waren 2017 in Thüringen besonders virulent und verliefen in fast der Hälfte der Fälle gewalttätig. Die etwa gleichgroße Zahl an – überwiegend friedlichen – Gegenprotesten zeigt indes: Die demokratische Zivilgesellschaft in Thüringen ist aktiv und wehrhaft.
 

 

  

1 Konkret wurden in der Erhebung die Landesteile der genannten Zeitungen sowie folgende Lokalteile berücksichtigt: aus Freies Wort die Lokalteile Bad Salzungen, Hildburghausen, Ilm-Kreis, Meiningen, Neuhaus, Schmalkalden und Suhl/Zella-Mehlis; aus der Ostthüringer Zeitung die Lokalteile Bad Lobenstein, Eisenberg, Gera, Greiz, Jena, Pößneck, Saalfeld, Schmölln und Stadtroda sowie aus der Thüringer Allgemeinen die Lokalteile Apolda, Artern, Eichsfeld, Eisenach, Erfurter Land, Gotha, Mühlhausen, Nordhausen, Sömmerda, Sondershausen und Weimar. Damit sind alle Landkreise Thüringens abgedeckt. Datenerhebung und -eingabe wären ohne die Mitarbeit von Ina Braune, Christine Eckes, Konrad Erben, Laura Gey, Janis Human und Niklas Trinkhaus nicht möglich gewesen. Selbstkritisch mussten wir im Zuge des Erhebungsprozesses feststellen, den Aufwand für die dauerhafte und systematische Erhebung und Eingabe der Stichprobendaten auf Grundlage von 27 lokalen Zeitungen unterschätzt zu haben. Die Umsetzung des Projektes für das gesamte Jahr 2017 war mit einem erheblichen Kräfteeinsatz verbunden, der ohne zusätzliche Ressourcen langfristig nicht durchzuhalten ist, weshalb die Erhebung mit dem Stichtag des 31.12.2017 vorläufig abgeschlossen wurde. Damit steht nun einerseits eine regional differenzierte Datenbank über das Protestgeschehen Thüringens 2017 für vertiefende Untersuchungen und Vorhaben zur Verfügung, anderseits können auf dieser Grundlage in Zukunft nicht regelmäßig kontinuierliche Längsschnittanalysen durchgeführt werden. Angestrebt wird eine vergleichende Wiederholung der Erhebung als Panel zu einem späteren Zeitpunkt. Vertiefende Analysen könnten sich beispielsweise mit dem ländlichen Raum als Protestraum auseinandersetzen.

 

 

 

 

Literatur

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