„Wir sind doch so ein friedliches Dorf“ – Dynamiken der Entpolitisierung rechtsextremer Gewaltverbrechen am Beispiel eines Mordes in Baden-Württemberg 1992

Im Kontext der Analyse der Radikalisierung des NSU wird der Bezug immer wieder zu rechtsextremen Ausschreitungen und Anschlägen in den 1990er Jahren hergestellt. Präsent im Narrativ sind dabei meist die Anschläge von Mölln und Solingen sowie die Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda. In diesem Beitrag liegt der Fokus auf einem Mord, der im Juli 1992 in Kemnat im Landkreis Esslingen verübt wurde. Eine Gruppe, die der Skinheadszene zugeordnet wurde, drang nachts in eine Unterkunft ein. Zwei Haupttäter erschlugen einen Arbeiter mit albanischem Hintergrund, Sadri Berisha, brutal mit dem Baseballschläger im Schlaf und verletzten seinen Kollegen, Sahit Elezay, schwer. Der Haupttäter wurde wegen Mordes aus niederen Beweggründen zu lebenslanger Haft ohne Bewährung verurteilt und saß 25 Jahre ein. Obwohl das Gericht so urteilte, zeigte sich in der öffentlichen Auseinandersetzung mit der Tat eine Gleichzeitigkeit von Entsetzen über die Tat und der Entpolitisierung der Täter bzw. der Tatmotive. Bis heute existiert kein öffentliches Erinnern an die Tat. Der Beitrag arbeitet heraus, wie es zu der politischen Verharmlosung der Tat kam, obwohl Polizei, Justiz und nicht zuletzt die Täter sich eindeutig äußerten.

In der Auseinandersetzung mit den Taten des NSU-Komplexes wurde auf die Bedeutung der gesellschaftlichen Entwicklungen in den 1990er Jahren für die Radikalisierung der Beteiligten an den NSU-Morden hingewiesen. Die rassistischen und rechtsextremen Ausschreitungen und Anschläge spätestens seit Beginn der 1990er Jahre sowie die gesellschaftliche und politische Reaktion darauf werden als mitursächlich dafür angesehen, dass sich die Beteiligten des NSU-Komplexes organisieren, radikalisieren und zu einem Terrornetzwerk entwickeln konnten (vgl. z. B. Virchow 2016; Quent 2016; Aust/Laabs 2014; Mayer 2013). Für die Einordnung der Dynamiken in den 1990er Jahren ist somit auch relevant, wie mit den rechten Gewaltverbrechen dieser Zeit umgegangen und welche politische Bedeutung ihnen beigemessen wurde.

In diesem Beitrag möchte ich die öffentliche Auseinandersetzung mit einem Mord, der 1992 in Kemnat bei Stuttgart von Neonazis verübt wurde, tiefergehend analysieren. Auch wenn der Haupttäter wegen Mordes aus niederen Beweggründen mit besonderer Schwere der Schuld zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt wurde und das Gericht die rassistischen und rechtsextremen Hintergründe der Tat als solche anerkannt und für das Strafmaß relevant gemacht hatte, erinnert heute nichts an diesen Mord. Dies hat – so meine Annahme – auch damit zu tun, dass der rechte Hintergrund der Tat und der Täter im öffentlichen Diskurs trotz des klaren Urteils schnell relativiert und damit die Dimension der Tat bagatellisiert wurde. Daher möchte ich nachzeichnen, welche Mechanismen zur Entpolitisierung und Verharmlosung der Tat führten. Konkret werde ich auf folgende Fragen eingehen: Wie werden Täter und Tat im öffentlichen Diskurs dargestellt und was bedeutet dies für die Einordnung der Tat? Wie werden im Gegensatz dazu Opfer repräsentiert und welche Stimme wird denen gegeben, die potenziell von rassistischer und rechter Gewalt betroffen sein können? Welche Thematisierung von Rassismus lässt sich zeigen? Und nicht zuletzt: Wie wird akzeptierende Jugendarbeit verhandelt, die in Kemnat für die Arbeit mit rechten und rechtsorientierten Jugendlichen eingesetzt wurde?

Die Ausführungen basieren auf einer Analyse der Medienberichterstattung zum Mord und Prozess sowie auf Analysen von Interviews mit Akteur*innen der Zeit, die heute – 27 Jahre später – auf die Tat zurückblicken und sie vor dem Hintergrund der Geschehnisse einordnen. Die Interviews entstanden im Rahmen eines Lehrforschungsprojektes mit Studierenden der Hochschule Esslingen.1

Die Tat2 und ihr politischer Kontext

In der Nacht vom 8. auf den 9. Juli 1992 wurde Sadri Berisha (55) in Kemnat von Skinheads im Schlaf mit einem Baseballschläger brutal erschlagen. Sahit Elezay (damals 46), der mit Sadri Berisha das Zimmer des Arbeiterwohnheims teilte, wurde ebenfalls mit einem Baseballschläger attackiert und sehr schwer verletzt. Er überlebte. Zwei Täter waren in das Zimmer der beiden eingedrungen und hatten auf sie eingeschlagen, fünf weitere standen an der Tür und vor dem Arbeiterwohnheim. Auch wenn diese sich nicht unmittelbar an der Tat beteiligt hatten, so taten sie nichts, um die Haupttäter davon abzuhalten.

Vor der Tat hatte die Gruppe getrunken, rechte Musik und Reden von Adolf Hitler gehört. Kurze Zeit später zogen sie mit Baseballschlägern bewaffnet los – mit dem Ziel, rassistische Gewalt auszuüben (Böker 1992). Das eigentliche Ziel war eine Unterkunft mit Aussiedler_innen, die seit Kurzem in Kemnat untergebracht waren. Auf dem Weg kamen sie an der Arbeiterunterkunft vorbei. Die Eingangstür stand offen. Die Täter gingen ins Haus, brachen die Tür zu einem Zimmer auf und schlugen auf die beiden schlafenden Männer ein. Auch wenn die Polizei zunächst nicht von einem rechten Hintergrund ausgegangen war, konzentrierte der lokale Polizeibeamte die Tätersuche der eingerichteten Sonderkommission „Ball“ doch schnell auf ortsansässige und ortsbekannte Skinheads. Eine relativ starke und aggressive Skinheadszene gab es in Ostfildern und Kemnat bereits seit Mitte der 1980er Jahre. Knapp zwei Tage nach der Tat waren die Täter festgenommen. Es handelte sich tatsächlich um fünf ortsansässige Neonazis und zwei Neonazis, die aus Leipzig kamen und in der Region auf Montage arbeiteten. Der Direktor der Polizei Esslingen zeigte sich Medien gegenüber fassungslos und sprach von „primitivem Vandalismus“ (ebd.), eine politische Motivation schloss er aus – u. a. auch deshalb, weil ein großer Teil der Skinhead-Szene sich zum Tatzeitpunkt mit dem Sozialarbeiter der mobilen Jugendarbeit auf einer gemeinsamen Freizeit in Ungarn aufhielt. Mobile Jugendarbeit mit einem akzeptierenden Ansatz (Krafeld 2016; kritisch dazu z. B. Kleffner 2015) war in Kemnat eingerichtet worden, nachdem bereits im Jahr zuvor ein in einem Schlafsack schlafender Mann auf einem Grillplatz durch Messerstiche von Neonazis schwer verletzt worden war. Das Opfer, ein Deutscher ohne Migrationsbiografie, war von den Skinheads verwechselt worden. Sie hatten ihn einer Familie mit türkischem Hintergrund zugeordnet, die vorher an dem Platz gegrillt hatte.

Sadri Berisha und Sahit Elezay, die beiden Opfer des Anschlags, kamen beide aus dem Kosovo und lebten und arbeiteten zu dem Zeitpunkt seit mehr als 20 Jahren in der Region. Die Familie von Sadri Berisha, seine Frau und seine beiden Kinder, waren im Kosovo geblieben. Sein Leichnam wurde zur Beerdigung in das Dorf seiner Familie überführt. Sahit Elezay war von der Bundesregierung nach der Tat erlaubt worden, seine Familie nach Deutschland zu holen.

Der Mord in Kemnat fand zwischen den Ausschreitungen in Hoyerswerda (September 1991) und Rostock-Lichtenhagen (August 1992) sowie vor dem Anschlag in Solingen (November 1992) statt. Er lässt sich also in die Serie der rassistischen und rechtsextremen Gewalttaten von Anfang der 1990er Jahre einordnen. Das politische Klima dieser Zeit darf dabei nicht aus dem Blick verloren werden: Bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg im April 1992 zogen zum ersten Mal Die Republikaner mit einem Stimmenanteil von knapp 11% in den Landtag ein. In Ostfildern, der Stadt, zu der Kemnat gehört, wurde zum Zeitpunkt der Tat die Einrichtung einer Unterkunft für Geflüchtete geplant. In einer Fernsehreportage, die der Süddeutsche Rundfunk kurz nach der Tat im August 1992 sendete, brachten die Anwohner_innen ihre Antihaltung zu dieser Unterkunft deutlich zum Ausdruck (Schütz 1992). Dieses politische Klima und die Normalität rassistischen Denkens macht auch Horst Schmidt3 relevant. Er war damals 16 Jahre alt, galt als rechtsorientiert und war zum Tatzeitpunkt mit dem Jugendsozialarbeiter auf einer Reise (mehr dazu weiter unten). Im Interview heute erzählt er rückblickend, er habe sich bis zur Tat überhaupt nicht als Nazi gefühlt. Er habe – was er heute kritisch einordnet – lediglich das laut geäußert, was ohnehin alle dachten und sei sich dabei stark vorgekommen.

„Entsetzen in Kemnat: Wir sind doch so ein friedliches Dorf“ – Einordnung der Tat als Bedrohung des ‚Eigenen‘

In den ersten Tagen nach dem Mord und Bekanntwerden des rechtsextremen Hintergrunds der Tat zeigt sich in den Zeitungsberichten umfassend ein Verweis auf Entsetzen. Zu Wort kommen Bürger_innen ohne Migrationsgeschichte in Kemnat genauso wie Politiker_innen auf Kommunal- und Landesebene. Die Tat selbst wird in den Medien als „abscheulich“, „dumpf“, „Untat“ oder „Bluttat“ beschrieben. Mit dieser Wortwahl wird die Brutalität des Vorgehens der Täter zum Ausdruck gebracht. Da die Begriffe in zahlreichen Artikeln mit der Wut, dem Entsetzen und der Angst der Bürger_innen in Verbindung gebracht werden, scheint die Tat nicht vor allen Dingen als ein rechter Angriff auf Migrant_innen eingeordnet zu werden, sondern als ein Moment, in dem die Täter außer Kontrolle geraten sind. Dies kommt beispielsweise in der Überschrift des Artikels in den Stuttgarter Nachrichten vom 11.7.1992 zum Ausdruck: „Nach der abscheulichen Tat sitzt der Schock noch tief“. Der Artikel thematisiert die Angst, die in Kemnat erneut „umgeht“, wenn auch – so schränkt der Text ein – etwas weniger als im Jahr zuvor, als aufgrund einer Verwechslung ein Deutscher von Neonazis auf einem Grillplatz niedergestochen worden war.

Der Mord sollte vonseiten der Täter vor allem eine Bedrohung an die in Kemnat lebenden Migrant_innen aussenden. Dies wird in den Artikeln jedoch nicht thematisiert. Die Bedrohung wird vielmehr auf das Eigene umgelenkt. Der Dorffriede und die Ordnung werden als gefährdet angesehen. Dies bringt das Zitat einer Passantin zum Ausdruck, die sagt: „Wir waren doch so ein friedliches Dorf“ (EZ 1992). Dies dürfte angesichts der seit Jahren existierenden rechten Szene im Ort sicherlich nicht für alle Menschen in Kemnat gegolten haben.

In den Zeitungskommentaren wird die Tat verurteilt und in den Kontext rechter Gewalt nach den Ausschreitungen in Hoyerswerda eingeordnet. Gleichzeitig wird die Politik zum Handeln aufgefordert. Die zunehmende „Ausländerfeindlichkeit“ könne, so der Tenor, nicht eingedämmt werden ohne die Zuzugsmöglichkeiten von Menschen aus anderen Ländern einzuschränken, damit diejenigen, die wirklich Schutz suchten, diesen auch bekämen und der soziale Friede gewahrt bliebe. Dies ist anschlussfähig an das, was das DISS-Institut Duisburg in einer Medienanalyse der Berichterstattung nach den Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen herausgearbeitet hat (DISS 1993): Taten und Täter werden vor allem als Bedrohung und Störung der Republik und das Eigene eingeordnet. Als Lösung wird die Verschärfung des Asylrechts gefordert.

Der Gedanke, die Tat würde das ‚Eigene’ bedrohen, lässt sich noch heute in den Interviews finden, die im Rahmen der Recherche zu dem Mord geführt wurden. Der damalige Bürgermeister schätzt im Interview ein: „Das hätte jeden treffen können“. Damit übergeht er den politischen Hintergrund der Tat, der genau nicht bedeutete, dass es jede_n hätte treffen können. Er ordnet die Tat als willkürliches Gewalthandeln von Einzelnen ein.

Die Deutung, die Täter bedrohten Normalität und Sicherheit des ‚Eigenen’, beinhaltet ein Reduzieren der Tat auf das Gewalthandeln. Die Täter werden als ‚Andere’ konstruiert, weil sie in ihrem Gewalthandeln die Kontrolle verloren und gesellschaftliche Normen überschritten hätten. Politische Einstellungen werden irrelevant gemacht und damit der Bezug zu Überschneidungen mit Teilen der Mehrheitsgesellschaft und deren Einstellungen abgeschnitten.

Trauern versus demonstrieren – Deutungshoheiten für den guten Ruf

Das eben herausgearbeitete Entsetzen fand in Kemnat öffentlichen Ausdruck in einem Schweigemarsch zehn Tage nach dem Mord, zu dem verschiedene lokale und regionale Akteur_innen aufgerufen hatten und an dem sich ca. 300 Personen, auch aus Landes- und Bundespolitik, beteiligten. Die drei Redner_innen – der damalige Bürgermeister, der evangelische Pfarrer und die Initiatorin der Initiative „Bürgerinnen und Bürger gegen Ausländerfeindlichkeit“ – verurteilten die Tat und sprachen sich allgemein gegen „Ausländerfeindlichkeit“ aus (StN vom 20.7.1992, Stadtrundschau vom 24.7.1992). Ein Bezug zu den Haltungen und Einstellungen in der Gemeinde wurde jedoch nicht hergestellt. Zudem wurde von der Initiative eine Traueranzeige mit mehr als 1000 Unterschriften geschaltet. Viele Kemnater_innen standen dem Schweigemarsch ablehnend gegenüber. In einigen Artikeln werden Bewohner_innen zitiert, die sich um den Ruf ihrer Gemeinde sorgten. Diesen sahen sie durch diese Aktivitäten, deren Akteur_innen sie in Stuttgart oder zumindest außerhalb Kemnats verorteten, gefährdet. Daraus lässt sich ableiten, dass die Gemeinde die Deutungshoheit über die Thematisierung des Mordes für sich in Anspruch nehmen wollte. Die Aktivitäten, die als von ‚außen’ initiiert wahrgenommen wurden, wurden als weitere Bedrohung angesehen und als Grundlage für eine Opferkonstruktion genutzt.

Dieser Mechanismus zeigt sich noch deutlicher in der Auseinandersetzung um eine Demonstration, die vom Antifaschistischen Aktionsbündnis und migrantischen Organisationen für eine Woche später angemeldet wurde. Der politische Hintergrund der Tat sollte deutlich gemacht werden (EZ vom 27.7.1992). In diesem Fall zeigten sich nicht nur Bewohner_innen kritisch („eine Demo hätte gereicht“ (ebd.)), auch die politische Spitze der Stadt distanzierte sich von den Gruppen, „die die Tat für ihre eigenen politischen Interessen nutzen wollten“, wie es der Bürgermeister im Interview auch heute noch ausdrückt. Hier wurde die politische Auseinandersetzung als Instrumentalisierung umgedeutet und abgewehrt.

Polizei und Bürgermeister befürchteten Ausschreitungen zwischen der angemeldeten Demonstration und ortsansässigen Neonazis, was zu der Entscheidung führte, die lokalen Skinheads gemeinsam mit dem Sozialarbeiter der mobilen Jugendarbeit auf Kosten der Gemeinde zu einem Ausflug in den Biergarten ins Kloster Andechs am Ammersee einzuladen (ebd.). Der Sozialarbeiter ordnet diese Entscheidung auch rückblickend im Interview als richtig ein und würde wieder so handeln. Die Jugendlichen seien so davor bewahrt worden, möglicherweise straffällig zu werden und sich ihre Biografien zu verbauen.

Auch wenn Entsetzen und Trauer öffentlich geäußert wurden, zeigt sich ein Ringen um die Deutungshoheit der Tat. Die politische Auseinandersetzung wurde in der Gemeinde als von außen kommend und aufgezwungen wahrgenommen, während die Gemeinde selbst auf stille Trauer (Schweigemarsch) setzte. Es lässt sich eine Abwehr erkennen, die die „Ruhe“, „Normalität“ und den Ruf der Gemeinde verteidigen bzw. wiederherstellen wollte. Eingelagert waren darin auch Konstruktionen des schützenswerten ‚Eigenen’, in das die rechtsorientierten Jugendlichen eingeschlossen waren und das als von außen bedroht wahrgenommen wurde.

Mobile Jugendarbeit – ambivalente Erfolgserzählungen

Wie oben angedeutet, wurde in Kemnat bereits 1991 mobile Jugendarbeit eingesetzt. Diese Arbeit wurde im März 1997 beendet, weil es keine Anzeichen mehr für eine rechte Szene gab. Sowohl in der Berichterstattung als auch in der Selbstbeschreibung des Trägers wurde dies ausschließlich auf den Erfolg der Sozialen Arbeit zurückgeführt (EZ und STN vom 6.3.1997, Stadtrundschau vom 14.3.1997). Der Sozialarbeiter, dem dieser Erfolg zugeschrieben wird, ordnet dies rückblickend im Interview ambivalenter ein. Er schreibt dem Mord selbst eine zentrale Bedeutung zu. Die aggressivsten Teile der Szene wurden aufgrund ihrer Beteiligung an der Tat zu Haftstrafen verurteilt und waren alleine deswegen nicht mehr vor Ort. Auf die Entwicklung der Gruppe rechtsorientierter Jugendlicher habe der Mord insofern eine „positive Wirkung“ (Sozialarbeiter im Interview) gehabt, weil sie sich, so beschreibt es der Sozialarbeiter, auch aufgrund der öffentlichen Auseinandersetzung dazu verhalten mussten. Das habe er von ihnen verlangt. Die meisten Jugendlichen wollten mit dem Mord nicht in Verbindung gebracht werden. Horst Schmidt beschreibt in seinem Interview, dass ihm erst durch die öffentliche Auseinandersetzung um den Mord bewusst geworden sei, dass auch er der rechten Szene zugeordnet wurde. Dagegen wollte er sich wehren und distanzierte sich offen von dem Mord, auch wenn er die Täter gekannt und sich von ihrer Gruppe geschützt gefühlt hatte. Der Mord stellte für ihn eine Grenzüberschreitung dar, mit der er nicht in Verbindung gebracht werden wollte. Aus dieser Erzählung wird deutlich, dass die öffentliche Verurteilung der Taten auch für die rechtsorientierten Jugendlichen in Kemnat eine wichtige Rolle spielte, wozu die Jugendarbeit mit den Möglichkeiten der Auseinandersetzung sicherlich einen wichtigen Beitrag leistete.

In der Berichterstattung über das Ende und den Erfolg der mobilen Jugendarbeit in Kemnat wird der Mord jedoch ausgeblendet und nur auf das Auflösen der Gruppe rechtsorientierter Jugendlicher fokussiert, was als Erfolg gilt. Es fehlt eine Auseinandersetzung damit, wie der Mord hätte verhindert werden können. Horst Schmidt selbst hat seine Einstellungen zwar geändert und setzt sich heute kritisch mit seiner Jugend auseinander. Ein Teil der damaligen Gruppe – so ordnet es Horst Schmidt ein – sei jedoch aus Kemnat in die Hooliganszene abgewandert. Einigen von ihnen schreibt er immer noch ein rechtsradikales Weltbild zu.

Leerstelle: Perspektive der Migration

Wie bereits mehrfach angedeutet, wird aus den Berichten über die Tat und den Umgang damit mehr als offensichtlich, dass die Perspektive der Migration fehlt. In einigen Artikeln wird zwar über die Opfer und ihre Familien berichtet. Dabei kommen allerdings vor allem nicht migrantische Sprecher_innen zu Wort, beispielsweise der Chef von Sadri Berisha, der über ihn spricht (z. B. StZ vom 6.10.1992). Bis auf wenige Ausnahmen waren keine Artikel zu finden, die sich mit der Frage beschäftigten, was die Tat für die Menschen bedeutete, die mit der Tat auch gemeint waren. Nur in zwei Artikeln wird beschrieben, wie die Tat bei Migrant_innen in der Region eingeordnet wurde. Zitiert werden Arbeiter, die weiterhin in der Unterkunft – dem Tatort – wohnten. Sie berichteten über ihre Angst und darüber, dass zwar Menschen vorbeikamen und manche Blumen niederlegten, aber niemand mit ihnen sprach (Sonntag aktuell 19.7.1992). Sie unterstrichen die Notwendigkeit der Verteidigung, indem sie beispielsweise Türen verbarrikadierten. Dabei kam auch zur Sprache, dass es in dem Arbeiterwohnheim aus Kostengründen kein Telefon gab, sodass sie im Zweifelsfall nicht einmal die Polizei hätten rufen können (Wiener, Oktober 1992).

Der Umgang mit den Familien und migrantischen Perspektiven in Kemnat entspricht dem, was Ayşe Güleç und Johanna Schaffer später für den Umgang mit Familie Yozgat in Kassel herausarbeiten: Nicht-Wissen und Nicht-Wissen-Wollen sehen sie als Ausgangspunkt für fehlendes Mitgefühl und – da es hier als strategisch verstanden werden kann – als „herrschaftserhaltende Leidenschaft“ (Güleç/Schaffer 2017: 61). Im Rahmen des Lehrforschungsprojekts war es ein großes Anliegen der Gruppe, die Perspektive der Migration sichtbar zu machen. Auf verschiedenen Wegen haben wir versucht, mit der Familie und Anwohner_innen zu sprechen. Leider ist uns dies im Rahmen des Hochschulseminars nicht gelungen. Bei den Familienangehörigen haben wir eine große Zurückhaltung erlebt, die angesichts der Erfahrungen aus den letzten Jahrzehnten nicht überrascht.

Fazit

Auch wenn der Haupttäter des Mordes in Kemnat 1992 zu lebenslanger Haft verurteilt und wegen des rechtsextremen Hintergrunds der Tat eine besondere Schwere der Schuld zugesprochen wurde, zeigen sich in der öffentlichen Auseinandersetzung mit der Tat verschiedene Mechanismen, die zu einer Verharmlosung der Tat beitragen. In der Berichterstattung über die Tat wird das Entsetzen, das die Tat auslöste, verbunden mit einer Angst, die sich aus Sicht der Mehrheitsgesellschaft als Angst um das ‚Eigene’ beschreiben lässt. Auch wenn die Tat rassistisch motiviert war und sich damit eindeutig gegen Migrant_innen richtete, wurde sie in der öffentlichen Auseinandersetzung als Bedrohung für die ‚eigene Normalität’ wahrgenommen, indem sie als unkontrolliertes Gewaltverbrechen, das potenziell jede_n hätte treffen können, eingeordnet wurde. Über die Verurteilung und Abgrenzung der Tat fand gleichzeitig eine Vereinzelung der Täter statt. Sie wurden aus dem gesellschaftlichen Kontext herausgenommen, wodurch die gesellschaftliche Verantwortung und das Zusammendenken von gesellschaftlichen Verhältnissen mit rechter Gewalt erschwert wird. Der Topos „Mit denen haben wir nichts tun“ wird damit nicht nur zu einer notwendigen Distanzierung, sondern auch zu einer Entlastungserzählung. Besonders relevant für die Relativierung der Tat erscheint die fehlende Perspektive der Betroffenen und derer, die mit dem Mord gemeint waren. Für die Familie wird dieser Mord unfassbar bleiben. Die politische Dimension der Tat geht jedoch darüber hinaus. Um diese wirklich verstehen zu können, wäre es wichtig, sich mit den Reaktionen und Umgangsweisen in migrantischen Kontexten auseinanderzusetzen und deren Perspektiven sichtbar zu machen. Durch das strategische Nicht-Wissen-Wollen dieser Perspektive wurde die Tat auf einen einzelnen Mord reduziert, dessen gesellschaftliche und politische Zusammenhänge und Relevanz verdeckt bleiben. Das schafft die Grundlage dafür, die Tat dem öffentlichen Erinnern zu entziehen und sie in Vergessenheit geraten zu lassen. Ein wichtiger Schritt könnte sein, dem entgegenzuwirken, indem die Tat und ihre Bedeutung sichtbar gemacht und dabei migrantische Perspektiven in den Vordergrund gestellt werden.

 

1 An dieser Stelle möchte ich mich bei den Studierenden des Projekts „Rechte Gewalt, Erinnern und Soziale Arbeit“ an der Hochschule Esslingen bedanken. Sie haben sich außerordentlich engagiert und die für diesen Beitrag relevanten Informationen und Interviews zusammengetragen.

2 Der Tathergang wurde rekonstruiert aus Zeitungsberichten. Es handelt sich dabei um die Berichterstattung der Esslinger Zeitung, der Stuttgarter Zeitung, den Stuttgarter Nachrichten, Sonntag aktuell und der Filder Zeitung sowie aus Einsicht in die Gerichtsakten, die hier dazu dienen die Kongruenz der Darstellung in den Medien mit den Ermittlungen zu prüfen. Aus Datenschutzgründen kann aus den Akten selbst nicht zitiert werden. 

3 Name geändert.

 

  

Literatur

Aust, Stefan/Laabs, Dirk (2014): Heimatschutz. Der Staat und die Mordserie des NSU. Pantheon: München.

Böker, Axel (1992): Tatverdächtige von Kemnat wollten ‚Polacken klatschen‘. In: Esslinger Zeitung, 10. Juli 1992.

DISS [Hrsg.] (1993): SchlagZeilen. Rostock: Rassismus in den Medien. Bd. 5. DISS-Skripten. DISS: Duisburg.

Esslinger Zeitung (1992): Entsetzen in Kemnat: Wir sind doch so ein friedliches Dorf, 11. Juli 1992.

Güleç, Ayşe/Schaffer, Johanna (2017): Empathie, Ignoranz und migrantisch situiertes Wissen. In: Karakayalı, Juliane/Kahveci, Çağri/Liebscher, Doris/Melchers, Carl Melchers [Hrsg.]: Den NSU-Komplex analysieren. Transcript: Bielefeld, S. 57–80.

Kleffner, Heike (2015): Die Leerstelle in der Fachdiskussion füllen. Sozialarbeit und der NSU-Komplex. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 65, Heft 40, S. 44–48.

Krafeld, Franz-Josef (2016): Grundlagen und Handlungsansätze akzeptierender Jugendarbeit. In: Ders. [Hrsg.]: Jenseits von Erziehung. Begleiten und unterstützen statt erziehen und belehren. Beltz Juventa: Weinheim, Basel, S. 94–102.

Mayer, Lotta (2013): Das erstaunliche Erstaunen über die ‚NSU-Morde‘. In: Schminke, Imke/Siri, Jasmin [Hrsg.]: NSU Terror. Ermittlungen am rechten Abgrund. Ereignis, Kontexte, Diskurse. Transcript: Bielefeld, S. 19–28.

Quent, Matthias (2016): Rassismus, Radikalisierung, Rechtsterrorismus: Wie der NSU entstand und was er über die Gesellschaft verrät. Beltz Juventa: Weinheim/Basel.

Schütz, Erich (1992): Totgeschlagen in der Fremde. Ausländerhass in Deutschland. In: Süddeutscher Rundfunk.

Virchow, Fabian (2016): Nicht nur der NSU: Eine kleine Geschichte des Rechtsterrorismus in Deutschland. Landeszentrale für politische Bildung Thüringen: Erfurt.