Einleitung
Mit dem Aufkommen von Pegida und einer verstärkten Fluchtmigration in die Bundesrepublik haben gesellschaftliche Auseinandersetzungen um Flucht, Zuwanderung und Vielfalt vor dem Hintergrund höchst aggressiver Ablehnungsdynamiken und erstarkender völkisch-nationalistischer Deutungsmuster (Keil 2015) eine starke Zunahme erfahren. Bis tief in lokalräumliche Strukturen konnten Initiativen Debatten prägen und sich im Alltag der Bevölkerung etablieren, welche sich mithilfe der Zuwanderungsdebatten autoritär gegen gesellschaftliche Modernisierungsprozesse, das heißt zunehmende Diversität und migrationsgesellschaftliche Realitäten, positionieren. Diese antidemokratische Dynamik erreicht auch die Einrichtungen und Fachkräfte der Jugendarbeit und fordert das Arbeitsfeld heraus, als Akteur der demokratischen Bildung wirksam zu werden.
In unterschiedlichen Projekten1 wurden in den vergangenen Jahren Erfahrungen bei der Qualifizierung von Fachkräften im Umgang mit Ablehnungshaltungen in Einrichtungen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit gesammelt. Diese umfassten Rassismus und gegen Migrant*innen bzw. gegen geflüchtete Menschen gerichtete Ablehnungen, wie auch weitere Felder bspw. (z. B. Heterosexismus oder Ablehnungen aufgrund des sozialen Status). Dabei wurden und werden aktuell überwiegend Fachkräfte an Standorten Offener Einrichtungen in mehreren Sozialräumen in Sachsen bei der Entwicklung von strategischen Präventions- und Interventionskonzepten über Fortbildungsangebote und Beratungsprozesse begleitet. Adressat*innen dieser Fachkräfte sind junge Menschen in den entsprechenden Einrichtungen und Lokalräumen. Interventionen sollen sich dabei einerseits auf Träger*innen von rassistischen, heterosexistischen und andere Ablehnungen beziehen, gleichzeitig auch Betroffene dieser Haltungen in den Blick nehmen und zur integrativen Öffnung der Einrichtungen und Lokalräume beitragen. Dieser Beitrag beschreibt Grundannahmen des zugrundeliegenden Modells der pauschalisierenden Ablehnungskonstruktionen (vgl. Möller et al. 2016) und versucht hiervon abzuleitende Handlungsempfehlungen für Sozialarbeiter*innen in der Jugendarbeit und angrenzenden Arbeitsfeldern zu geben.
Das „Modell der pauschalisierenden Ablehnungskonstruktionen“ als Analyseraster für die Praxis
Die aktuellen Dynamiken werden in den sozialwissenschaftlichen wie sozialarbeiterischen Fachdebatten unterschiedlich analysiert und gekennzeichnet. So werden sie einerseits als „Krisenphänomen“ oder „Ausnahmezustand“ kapitalistischer Gesellschaften und neoliberaler Ideologeme beschrieben (vgl. Demirovic 2018, PROKLA Redaktion 2016, Opratko 2017, Sablowski/Thien 2018, Schmidt 2016) und unter Gesichtspunkten der Vernachlässigung der Sozialen Frage durch etablierte Parteien und gesellschaftliche Bewegungen erörtert. Eine andere Perspektive erklärt die aktuellen Bewegungen vor allem aus dem Rassismus der Mehrheitsgesellschaft heraus (vgl. Eversberg 2018, Lessenich 2017). Daraus entstehende „Flügeldiskurse“ (vgl. PROKLA Redaktion 2018: 5) laufen Gefahr eines verkürzten Verständnisses jugendarbeiterischer Praxis. Es ist notwendig, den bestehenden strukturellen wie individuellen Rassismus aus der Jugendarbeit heraus und in der Jugendarbeit sichtbar zu machen und zu kritisieren. Gleichzeitig muss anerkannt werden, dass bestehende Erzählungen zu Benachteiligungen in den Lokalräumen nicht allein aus rassistischen Ressentiments zu erklären sind. Sie speisen sich u. a. auch aus reellen Erfahrungen mit lokalen, sozioökonomischen Verwerfungen und Ausgrenzungsprozessen.
Will sich Soziale Arbeit, in diesem Fall Jugendarbeit, strategisch mit den bestehenden Phänomenen auseinandersetzen, muss sie die Alltagslogik rassistischer und anderer Ablehnungen ergründen. Hierfür ist die sozialpädagogische Grundhaltung ernst zu nehmen, den eigenen Adressat*innen als mündige Subjekte in ihrer Lebenswelt zu begegnen (vgl. Wendt 2017: 34). So ergibt sich ein detailliertes Verständnis jener rassistischen Konstruktionen, welche aus dem individuellen Alltag zum Verständnis desselben abgeleitet werden. Zentral für strategisch angelegte Maßnahmen zum Abbau von Ablehnungshaltungen bei jungen Menschen scheint daher die eingehende Analyse der eigenen Adressat*innen. Entlang des folgenden Modells wird versucht, ein spezifisches Verständnis zum Aufbau von Ablehnungskonstruktionen bei Jugendlichen zu entwickeln.
Die Basis des Herstellungsprozesses ist im Modell als Gesellschaft beschrieben. Diese verstehen wir einerseits als materialisierte Form von Gesellschaft, das heißt eine Gesellschaft mit ihren spezifischen Strukturen (z. B. Form der Erwerbsarbeit, Gesetze). Hinzu kommt die ideelle Seite von Gesellschaft, u. a. mit Normen, Wertvorstellungen, Traditionen und kulturellen Referenzen.
Hiervon ausgehend sind zwei Prozesse relevant. Der erste Prozess ist die Herstellung der
Subjekte, also individueller Positionierungen der einzelnen Personen in der Gesellschaft. Dies ist als biografischer Prozess von Erfahrungen und/oder Bildung und deren Verarbeitung zu verstehen. Aus der persönlichen Biografie leiten sich demnach Selbst- und Sozialkompetenzen und Formen des Habitus ab, also Dispositionen wahrzunehmen und neue Erfahrungen zu verarbeiten. Hinzu kommen persönliche Wünsche und Wertvorstellungen. Als zweiter Prozess ist die Herstellung von Repräsentation zu nennen. Dabei strukturiert sich Gesellschaft einerseits entlang der Kategorien von class, race und gender. Diese werden weitergehend entlang unterschiedlicher Diversitätsdimensionen vervielfältigt. Als gesellschaftliche Abbilder dieser Dynamik entstehen Repräsentationen von scheinbaren Gruppen bzw. Gruppierungen (z. B. „den Frauen“, „den Migrant*innen“, „den Arbeitslosen“). Die Abbilder weisen unterschiedliche Qualitäten auf, bspw. in den Spektren „Homogenität und Diversität“, „Macht und Ohnmacht“, „Wir und ‚die Anderen‘“, „Leistungsfähig und nicht Leistungsfähig“. Sie sind vielfältig und gleichzeitig unterschiedlich wirkmächtig. Sie treffen entsprechend auf die oben benannten, individuellen Muster der Erfahrungsverarbeitung. So erlangte bspw. die Repräsentation der ‚sexuell grenzverletzenden, migrantischen Männer‘ nach Köln eine besondere Relevanz in den bundesdeutschen Debatten und ergänzte Bilder von ‚gefährlichen Fremden‘ um eine weitere Facette, während positive Repräsentationen von geflüchteten Menschen aus dem Fokus gerieten.
Die Individuen erfahren nun abgeleitet aus der Gesellschaft selbst sowie aus den zur Verfügung stehenden Repräsentationen unterschiedliche Anforderungen, also Hinweise auf ein entsprechendes „richtiges“ Sein und Verhalten. Für Jugendliche leiten sich bspw. allgemeine, gesellschaftliche Anforderungen ab: erfolgreiche Ausbildung, „richtige Berufswahl“ und angemessene Leistungsorientierung. Aus gesellschaftlichen Repräsentationen lassen sich weitergehende Orientierungen entnehmen, bspw. als Junge, spezifisch männliche Leistungsfähigkeit zu zeigen um sichtbare Männlichkeit zu inszenieren, welche aktuell auch mit Anrufungen nationalistisch-wehrhafter Männlichkeit einhergehen kann. Auch Mädchen erhalten aus den Repräsentationen von Weiblichkeit Orientierungen sich „richtig“ zu verhalten. Dabei kann bspw. Anerkennung daraus gezogen werden, mit Jungen gegen Geflüchtete auf die Straße zu gehen.
Wie von den Subjekten tatsächlich auf die bestehenden Anforderungen reagiert wird, lässt sich aus deren konkretem Alltag herleiten. Hier haben sie gelernt, sich einerseits in der Hoffnung auf Erfolg und Anerkennung funktional zu verhalten und zu entwickeln. Andererseits reflektieren und kontrastieren sie durch eigensinnige Haltungen die alltäglichen Herausforderungen. Das heißt, rassistische Haltungen kann ich einerseits als funktional erleben, in dem ich dafür Anerkennung bekomme und daher mein Leben angemessen bzw. erfolgreich gestalte. Anderseits kann ich dies auch als subjektiven Eigensinn erleben, in dem ich „denen da oben“, welche mir sonst scheinbar Anerkennung und Gestaltungsspielräume versagen, zeige, dass ich auch gegen sie meine Interessen durchsetzen kann.
In der Auseinandersetzung des Subjekts mit den zur Verfügung stehenden Repräsentationen aufgeladen mit biografischen Erfahrungs- und Wissensbeständen formieren sich pauschalisierende Ablehnungskonstruktionen (PAKO). Sie verknüpfen einerseits individuelle Haltungen und bestehende Abbilder eigener Erfahrungen mit den zur Verfügung stehenden Abbildern von Gesellschaft –
Repräsentationen aus persönlichen Interaktionen oder Medien. Diese werden wiederum in den eigenen, konkreten Alltag mit seinen bestehenden Anforderungen übersetzt.
Prozesse der Demokratiebildung sind daher so anzulegen, dass vor Interventionsprozessen, die jeweiligen Adressat*innen im besten Fall nachfolgenden Punkten zu analysieren sind:
- Welche zentralen, biographischen Erfahrungen spielen aktuell eine Rolle für den Prozess? Beispielfragen zur Analyse: Bestehen Begegnungserfahrungen mit Menschen die von Adressat*innen abgelehnt werden? Wie beschreibe ich meine aktuelle gesellschaftliche Position? Habe ich Erfahrungen mit erlebter und/oder ausgeübter Gewalt?
- Welche Repräsentationen werden aktuell im Diskursraum von den Jugendlichen als relevant erfahren? Beispielfragen zur Analyse: Bestehen lokale Initiativen gegen die Unterbringung geflüchteter Menschen? Werden lokale Traditionen als Gegenpol zur Migrationsgesellschaft beschrieben? Wie beschreibt sich der Lokalraum in seiner Entwicklung nach 1989?
- Welche Herausforderungen und Anforderungen haben sie in ihrem aktuellen Alltag zu meistern? Beispielfragen zur Analyse: Sind die Jugendlichen aktuell angehalten, eine spezifische Form von Männlichkeit oder Weiblichkeit zu inszenieren? Müssen sie sich als Teil des lokalen „Wir“-Kollektivs beweisen? Wie zufrieden sind sie in ihrer Ausbildung?
- Welche Ablehnungskonstruktionen werden hierfür konkret herangezogen? Beispiele:
„Muslimische Gefährder“, „benachteiligte Ostdeutsche“, „Migration als gesteuerter Bevölkerungsumbau“
Demokratische Bildung in den „Arenen der Jugend“
Repräsentationen von Gesellschaft und hier wahrgenommene Gruppierungen sind als Teil des Alltags junger Menschen auch in den Einrichtungen der Jugendarbeit vorhanden bzw. werden in ihnen gestaltet. Dabei ist es vom Wirken der Fachkräfte abhängig, wie vielfältig die präsentierten Erfahrungen, Deutungen und Praxen innerhalb ihrer Einrichtung sind. Ebenso ist es wichtig, wie attraktiv jene Vielfalt innerhalb der Einrichtung von Jugendlichen wahrgenommen wird und wie hoch die Schwelle ist, entsprechende neue Erfahrungen und Repräsentationen in den Alltag außerhalb der Einrichtung zu transferieren. Jugendarbeit hat eine wichtige Funktion bei der Herstellung des sozialen Zusammenlebens im Sinne demokratischer Bildung, denn hier können Jugendliche „ihre eigenen Anliegen einbringen und Einfluss nehmen“ (BMFSFJ 2017: 34). Zentral ist das Erlernen von „‚Teilhabe und Verantwortung‘, ‚Wirksamkeit des eigenen Handelns und Veränderbarkeit der Verhältnisse‘, ‚Aneignung und Gestaltung von Räumen‘, ‚Kulturelle Praxis‘, und ‚Lebensbewältigung‘“ (Münder et al. 2012: 146).
Sie fördert Kompetenzen, „which also enables them to recognise and manage the risks they are likely to encounter, including violent radicalization”2 (Council of the European Union 2016). Dabei ist Jugendarbeit „Teil einer auf Emanzipation, Partizipation und Integration abzielenden Erziehung und Bildung“ (Münder et al. 2012: 149).
In ihrer Studie zur Pädagogik der Kinder- und Jugendarbeit schreiben Cloos und Kolleg*innen: „Kinder- und Jugendarbeit [...] ist als Handeln in einer sozialpädagogischen Arena zu beschreiben“ (2009: 15). Hier finden Wettkämpfe und Spiele statt, welche unterschiedliche Schichten von Zugehörigkeit repräsentieren und herstellen. Ein weiteres für die Gestaltung demokratiepädagogischer Strategien relevantes Merkmal ist die diskontinuierliche Teilnahme der Adressat*innen am pädagogischen Prozess. Sie macht es notwendig, den Schwerpunkt der Arbeit auf die Gestaltung des pädagogischen Rahmens zu legen (vgl. ebd.: 15f.). Diese kann in den Einrichtungen vor allem darauf hin untersucht werden, inwiefern durch die räumliche Anordnung, die reellen Nutzer*innengruppen oder Themen, welche bspw. durch Dekoration im Raum präsentiert werden, demokratische und vielfaltpädagogische Positionen präsent werden oder nicht. Wird also eine Einrichtung bspw. ausschließlich von einer älteren Gruppe deutscher Jungen besucht und von diesen auch als „ihr Club“ gelabelt, verengt sich der Raum für den Kontakt unterschiedlicher junger Menschen. Dies geschieht ebenfalls durch die „Hoheit“ über den Eingangsbereich, die Theke, die Spielgeräte und die Musik.
Fachkräfte sind daher angehalten, die Räume tatsächlich offen zu halten, das heißt Beteiligung immer wieder vielfältig zu ermöglichen und bestehende Anspruchshaltungen zu transformieren. Grenzsetzungen gegen diskriminierende Äußerungen und Verhaltensweisen sind immer auch demokratische Referenzen für die Umstehenden. Gleichzeitig können gezielte Repräsentationen im Raum neue Sichtweisen und damit Aushandlungsprozesse mit und unter den Nutzer*innen anregen. Einrichtungen, welche mit „refugees welcome-Postern“ experimentierten, konnten einerseits feststellen, wann diese in der Toilette heruntergerissen wurden. Andererseits wurden durch die Poster im Gemeinschaftsraum aber auch neue Themen in den Club getragen bzw. bis dahin nicht sichtbare, bestehende Haltungen bei den Jugendlichen abgerufen und in Auseinandersetzung gebracht.
Dass die Konkurrenzen um den Raum (bspw. gegen geflüchtete Jugendliche) auch für reale Auseinandersetzungen stehen (vgl. ebd.: 17) zeigte sich in einer Einrichtung u. a. daran, dass nicht spezifisch Rassismus das Thema der männlichen Besucher war, sondern die vermeintliche Konkurrenz mit den neu hinzukommenden Jungen um „unsere Mädels“. Dies eröffnete den Jugendarbeiter*innen den Blick auf bestehende Repräsentationen lokaler wie patriarchaler Anspruchshaltungen sowie konkurrierender Männlichkeiten als Themen, über die sich aktuell auseinandergesetzt werden konnte und sollte. Gleichzeitig konnte die Arena dergestalt arrangiert werden, dass konkurrenzfreie Begegnungserfahrungen produziert und damit bestehende Repräsentationen in Frage gestellt werden können. Für einzuflechtende Interventionen demokratischer Bildung benötigt es eine permanente Aufmerksamkeit gegenüber den Geschehnissen im Raum sowie eine professionelle gestaltete, belastbare Beziehung zu den Adressat*innen.
Lebensgestaltungserfahrungen als Schutz gegen Ablehnungshaltungen
Jugendarbeit lebt davon, dass hier eingebettete Maßnahmen der Demokratiebildung „den lebensweltlichen Zusammenhang herstellen und Bildungsprozesse ermöglichen, die im Sinne von Kompetenz zur Lebensbewältigung einen wesentlichen Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung leisten können“ (Münder et al. 2012: 146). Im Umkehrschluss bedeutet dies, gerade weil die Räume der Jugendarbeit höchst dynamische und diskontinuierliche Prozesse vorgeben, dass die Fachkräfte Kontakt zur alltäglichen Lebenswelt der Jugendlichen bekommen. Sie sind dazu angehalten, Interventionen alltagslogisch und mit den Dynamiken im Raum adäquat zu verknüpfen. Dies kann gelingen, wenn sich Fachkräfte einlassen, Interventionen an den Erfahrungen der Adressat*innen entlang zu generieren. Bedeutsam bei der Betrachtung des Zusammenhangs von Ablehnungskonstruktionen und Sozialisationserfahrungen erscheinen im Rahmen der Forschung wie der jugendarbeiterischen Auseinandersetzungen Erfahrungen von Kontrolle, Integration, Sinnlichkeit und sinnliches Erleben sowie Sinnzuschreibungen (KISS; vgl. Möller et al. 2016: 110f.).
Dabei kann aus der gemeinsamen Interaktion und über Erzählungen der Adressat*innen ein Bild entstehen, wo bisher im Leben der Jugendlichen individuelle Kontroll-, Integrations-, Sinnlichkeits- und Sinnerfahrungsbedürfnisse begrenzt und verwehrt wurden. Sie zeigen auch, welche Strategien junge Menschen gefunden und als funktional für ihre Lebensgestaltung erschlossen haben, Erfahrungen von Kontrolle, Integration, Sinn und Sinnlichkeit zu generieren (vgl. ebd.: 112). Auch Sequenzen von Ruhe und Chillen als gefühlt dominante Formen des Tuns und die dahinterliegenden Motive müssen in den Einrichtungen in den Blick genommen werden (vgl. Cloos et al. 2009: 21). So können Einrichtungen als Regenerationsräume auch für überfordernden Leistungsansprüche aus der Gesellschaft (z. B. aus Schule, Elternhaus) gestaltet werden.
Gleichzeitig können Raumansprüche von Nutzer*innen genau hierin begründet sein und damit einen Versuch darstellen, direkte Auseinandersetzungen mit anderen Jugendlichen im Lokalraum im Club zu entgehen. Kontrolle über den Club, Integration in eine Gruppe derer, die geflüchtete Jugendliche ablehnt, und die Wahrnehmung, Teil eines lokalen und nationalen „Wir“ zu sein, können starke Motive sein, sich rassistischer Ablehnungskonstruktionen zu bedienen. Dabei zeigt sich ihre Funktionalität, im eigenen Alltag mit individuell präsenten Anforderungen „erfolgreich aktiv zu werden“. Gute Erfahrungen wurden von Fachkräften berichtet, denen es in solchen Dynamiken gelungen ist, neue Erfahrungen zu ermöglichen, welche neue Verortungen in unterschiedlichen Gruppenkontexten anbahnten. Diese fanden neben dem Freundeskreis im Club und der Teilnahme mit allen Nutzer*innen an kommunalen Kulturaktionen auch durch die Integration in die Ballspielgruppe mit geflüchteten Jugendlichen statt. Hinzu kam eine deutliche Positionierung des Teams im Rahmen des lokalen Willkommensbündnisses sowie transparente Haltungen der Solidarität durch die Fachkräfte.
Prozesse mit jugendlichen Adressat*innen, welche bereits Ablehnungshaltungen aufweisen, müssen so angelegt sein, dass sie unmittelbar im Alltag dieser eingelagert sind und als langfristige Prozesse von Beziehungsarbeit mit biografiebezogenen Anteilen angelegt sind (vgl. Möller et al. 2016: 782). Ziel muss es sein, alternative, erfahrungsproduzierende Momente in der sozialpädagogischen Interaktion anlegen zu können.
Alltagseinbettung und -transfer erfordern Präventions- und Interventionsstrategien, welche Sicherheit in der Lebensgestaltung anbieten, pädagogisch so strukturiert, dass sie nicht auf Ablehnung stoßen oder hiermit in Verbindung stehenden Kontrollbedürfnissen rekurrieren. Vielmehr sollten diese dysfunktional erscheinen (vgl. ebd.: 785). Dabei ist in diesem Rahmen darauf hinzuweisen, dass sozial- bzw. lokalräumliche Dynamiken in den Blick genommen werden müssen. Gerade in hoch belasteten Sozialräumen darf angenommen werden, dass alltagseingelagerte Kontroll- und Identifikationspotenziale gerade nicht im pädagogischen Jugendraum entstehen, sondern im als „echtes Leben“ wahrgenommenen Alltag außerhalb der Einrichtung. Aus der Kompetenz, die Arena strategisch, vielfaltpädagogisch anzulegen und hier situationsbezogen angemessen zu reagieren, lässt sich jugendarbeiterische Professionalität ableiten und auch auf KISSeS-bezogene Interventionen und Prozesse zu Ablehnungshaltungen übertragen.
Fazit
Bisherige Fachbegleitungen von modellhaft angelegten Interventionsstrategien legen den Schluss nahe, dass die KISSeS-Perspektive Fachkräften die Möglichkeit bietet, an den Interessen ihrer Adressat*innen entlang niedrigschwellige Angebote zu gestalten. Hierbei werden bspw. Gestaltungs- und Selbstwirksamkeitserfahrungen und die Erweiterung von Sozial- und Selbstkompetenzen im Rahmen von Kreativ- und Sportangeboten ermöglicht. Diese tragen dazu bei, PAKOs und damit einhergehende Abwertungsinszenierungen mindestens in den Räumen der Projekte selbst abzubauen (vgl. Möller et al. 2017: 58). Einrichtungen und Fachkräfte sind über ihren alltagsnahen Kontakt zu den Adressat*innen in der Lage auf spezifische Ablehnungshaltungen zu reagieren und diese in ihren Räumen demokratisch zu kontrastieren. Miteinander verknüpfte, rassistische, nationalistische wie heterosexistische Ablehnungshaltungen können – und müssen – daher nicht allein durch die Fachkräfte hinterfragt und kritisiert werden. Sie spielen auch eine Rolle in Raum und Angeboten. Demokratische Haltungen werden präsent durch eine diversitätssensible Sprache und Bebilderung im Raum, durch hürdenarme Zugänge zu den Angeboten, durch Beteiligung und Schaffung von Begegnung sowie durch die transparente Haltung und Offenheit für Konflikte im Raum, welche es möglich machen, demokratische Aushandlungsprozesse mitzugestalten und individuelle wie kollektive Interessen junger Menschen zu definieren.
Damit eröffnet sich als aussichtsreiche Bearbeitungsstrategie pauschalisierender Ablehnungskonstruktionen: „die Vermittlung von funktionalen Äquivalenten für KISSeS-Defizite“ (Möller et al. 2016: 785). Dies verweist auf drei Aspekte, auf welche auch der Begriff der Funktionalität im Einzelnen zu prüfen ist:
- Wenn Interventionen nicht als gekünstelt, befremdlich und pädagogisierend wahrgenommen werden sollen, ist eine eingehende Analyse der alltäglichen Themen, Bedarfe und lebensweltbezogenen Logiken von Ablehnungshaltungen und ihrer Konstruktionsmechanismen nötig.
- Um bei den Adressat*innen einen haltungsbezogenen Alltagstransfer demokratischer Bildungsmomente aus den Räumen der Einrichtungen in die alltägliche Umwelt absichern zu können, muss es Partner*innen im Alltag geben, welche genau jene gemachten Erfahrungen in anderen alltäglichen Settings zulassen, bestärken und ergänzen können.
- Es kann immer wieder relevant werden, gerade in Regionen, welche soziokulturell mit wenig Infrastruktur ausgestattet sind, vor allem Schutz- und Inklusionsräume für betroffene, junge Menschen (z. B. geflüchtete, alternative, queere Jugendliche) vorzubehalten.
Übergreifende, breit und dauerhaft anzulegende Strategien könnten dabei helfen, Jugendarbeit als relevanten Bildungsakteur im Sinne des gesellschaftlichen Zusammenhalts in ein Netzwerk Verbündeter zu integrieren und damit alltagseingebettete Demokratiebildung zu etablieren.
1
„Rückgrat! – Eine Wissenschaft-Praxis-Kooperation gegen Rechtsextremismus und gruppierungsbezogene Ablehnungen“, Online: www.hs-esslingen.de/de/hochschule/fakultaeten/soziale-arbeit-gesundheit-und-pflege/forschung/projekte/abgeschlossene-projekte/rueckgrat.html www.hs-esslingen.de/soziale-arbeit-gesundheit-und-pflege/forschung/projekte/projekte/rueckgrat/ [24.06.2018]; „MUT-Interventionen: Geschlechterreflektierende Prävention gegen Rassismus im Gemeinwesen“, Online: www.agjf-sachsen.de/mut-interventionen.html [24.06.18]; „Land in Sicht! Demokratiegestaltung innovativ qualifizieren“, Online: www.agjf-sachsen.de/land-in-sicht [24.06.2018].
2 „welche sie auch dazu befähigen, die Risiken, denen sie höchstwahrscheinlich begegnen – gewaltvolle Radikalisierung eingeschlossen – zu erkennen und zu managen“ (Übersetzung des Beitragsautors).
Literatur
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