Hassgewalt und fehlende Solidarität – zur Kommunikation und Rolle der Mehrheitsgesellschaft

Betroffene von vorurteilsmotivierter Gewalt (bzw. Hassgewalt) und Opferberatungsstellen betonen oft, wie wichtig gesellschaftliche Solidarität zur Eindämmung von Gewalt und zur Unterstützung der Angegriffenen ist. Dieser theoretische Beitrag soll erklären, warum solidarische Kommunikation seitens der Gesellschaft so bedeutsam ist. Die zentrale These lautet: Hassgewalt ist keine isolierte Tat zwischen Täter*innen und Betroffenen. Stattdessen muss sie mit Lindemann (2014) als Kommunikation zwischen drei Parteien verstanden werden: Täter*innen, Betroffenen und der gesamten Gesellschaft. In diesem „Kommunikationsdreieck“ wird der gesellschaftliche Kontext mitgedacht, in dem vorurteilsmotivierte Gewalt auftritt. Durch Widerspruch, Sanktionierung der Täter*innen sowie explizite Solidarität mit den Betroffenen kann Gewalt delegitimiert und ihre Wiederholung damit unwahrscheinlicher werden. Das Fehlen gesellschaftlicher Solidarität kommuniziert hingegen eine Botschaft der Legitimation.

Einleitung

Unsere Gesellschaft ist durch Vielfalt geprägt. Diese deskriptiven Unterschiede können durch Diskriminierungen zu sozialen, politischen und kulturellen Ungleichheiten gemacht werden (vgl. Scherr 2016 [2012]). Für viele Personen, die als anders wahrgenommen oder definiert werden, gehören Diskriminierung und Exklusion zum alltäglichen Leben. Trotz aller Unterschiedlichkeit der gemachten Erfahrungen und der konkreten Begründungen des gesellschaftlichen Ausschlusses teilen alle Diskriminierungsformen und Ungleichwertigkeitsideologien eine grundlegende Gemeinsamkeit: Sie bauen auf der Konstruktion kategorialer Unterscheidungen zwischen uns und ihnen auf (vgl. ebd.; Scherr 2017; Turner et al. 1987). Diese sozialen und homogen gedachten Kategorien (z. B. nationale, religiöse oder ethnische Gruppen; Mann/Frau; Menschen mit/ohne Behinderung) sind mit Vorurteilen und Vorstellungen darüber verknüpft, welche Merkmale vermeintlich typisch für Angehörige dieser Kategorien sind und ob diese Gruppen als zugehörig zur Eigengruppe wahrgenommen werden. Sie liefern Rechtfertigungen für gesellschaftliche Abgrenzungen, Abwertungen und Hierarchisierungen.1 Dabei werden die auf diese Weise markierten Anderen durch die Unterscheidung einerseits zur negativen Abweichung vom unmarkierten normalen Menschen gemacht (z. B. weiß, heterosexuell, cis-männlich und nicht-behindert), d. h. von der dominanten Zugehörigkeitsnorm, und andererseits auf diese Kategorien reduziert. Statt als individuelle und komplexe Personen werden sie als austauschbare und eindimensionale Vertreter*innen zugeschriebener Kategorien wahrgenommen.2

Besonders deutlich wird eine solche Reduzierung von Menschen im Phänomenbereich der vorurteilsmotivierten Gewalt bzw. Hasskriminalität: Hier werden Personen (oder mit ihnen assoziierte Menschen, Tiere3 oder ihr Eigentum) einzig aufgrund der ihnen zugeschriebenen Gruppenzugehörigkeit als austauschbare Opfer auserkoren (vgl. Coester 2008; Perry 2018). Betroffene von Hasskriminalität erleben bei Angriffen verschiedene Ebenen der Viktimisierung (Opferwerdung): Primäre Viktimisierung beschreibt die direkte Schädigung durch die Angriffe. Dabei konzentriert sich die Forschung oft auf die Motive der Täter*innen. Durch die Hinzunahme der Perspektive von Betroffenen geriet jedoch auch der Botschaftscharakter von Hasskriminalität in den Blick der Forschung (vgl. Perry 2018). Hasskriminalität in diesem Sinne als Botschaftstat verstanden, fokussiert die an die Betroffenen und ihre Communitys gerichtete exkludierende Nachricht seitens der Täter*innen: „Ihr gehört nicht zu uns!“ Studien zu den Auswirkungen erlebter Hasskriminalität zeigen die negativen Effekte dieser Botschaft (ebd.). Bisher seltener in der Viktimisierungsforschung thematisiert werden dagegen die Auswirkungen sekundärer Viktimisierung (vgl. u. a. Geschke/Quent 2021) – wenn also Betroffene nach einer erlittenen Tat durch gesellschaftliche Institutionen wie Polizei oder Justiz, lokale Autoritäten, z. B. Politiker*innen, oder andere Personen im Umfeld erneut abgewertet und geschädigt werden.

Wessen Problem ist Hassgewalt?

Weitgehend unerforscht ist die Einbettung der vorurteilsmotivierten Gewalttaten in den Kontext der Gesellschaft, in der sie stattfinden und die sie überhaupt erst ermöglicht. Dabei bleibt die Rolle der Gesellschaft im erweiterten Kommunikationszusammenhang der Hasskriminalität ebenso unterthematisiert wie ihr damit verbundener Einfluss auf die Auswirkungen, die diese auf die Betroffenen und ihre Communitys entfalten. Vor allem aber auch die Auswirkungen, die Hasstaten und der gesellschaftliche Umgang mit ihnen auf die Gesellschaft selbst haben, werden kaum analysiert. Das bedeutet, dass diese Probleme – d. h. die Realität gesellschaftlicher Diskriminierung und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, denen Betroffene durch die erlebte Gewalt ausgesetzt sind – nicht als gesamtgesellschaftliche Probleme verstanden werden. Stattdessen werden sie entweder auf einzelne Täter*innen (der Mythos des*der Einzeltäter*in, im Englischen auch der „bad apples“4) und/oder ihre Auswirkungen auf die konkret angegriffenen Individuen reduziert. Obwohl die Rechtsextremismusforschung durchaus zeigt, dass die Taten weder in sozialer noch politischer Isolation verübt werden (bspw. Puls 2020), beobachtet die Rassismusforschung, dass die Skandalisierung einer Tat, ihrer rassistischen Dimension oder eines rassistischen Vorfalls bis zu ihrem Status als Einzelfall nach wie vor ein gängiges Dethematisierungs- bzw. Distanzierungsmuster darstellt (vgl. El-Mafaalani 2021; DiAngelo 2021). Das Ergebnis: Die restliche Mehrheitsgesellschaft5 scheint seltsam unbetroffen und verschiebt das Problem auf Einzelne oder „gesellschaftliche Ränder“. So entsteht schließlich der Eindruck, als hätte die erweiterte Gesellschaft selbst keinen Anteil an der Gewaltkommunikation, die sich scheinbar nur zwischen Täter*innen und Betroffenen abspielt, und damit an der Wirkung der vorurteilsmotivierten Gewalt auf die Betroffenen.

„Mit der Tat allein gelassen“: fehlende Solidarität seitens der Gesellschaft

Dagegen beklagen viele Betroffene, so Harpreet Kaur Cholia, freie Beraterin in der Opferberatungsstelle response Hessen und selbst Betroffene von Rassismus, „das Schlimmste [sei] nicht die Tat an sich, sondern dass man allein damit gelassen wird“ (Cholia 2021). Auch die Befragten des Berlin-Monitors zum Thema Antisemitismus beschrieben Passant*innen, die Zeug*innen von antisemitischen Vorfällen im öffentlichen Raum wurden, als „Ewig-Wegguckende“ (Reimer-Gordinskaya/Tzschiesche 2020: 29), von denen sie keine Unterstützung erwarten könnten. Dabei erfahren die Auswirkungen der Hasstaten zusätzlich, ergänzt der Anwalt Onur Özata, u. a. Nebenklagevertreter im NSU-Prozess, „durch unzureichende oder verfehlte Reaktionen des Staates auf Hasskriminalität eine drastische Verschärfung. Denn was die Gemeinschaft genauso erschüttert wie die Tat an sich, ist das Fehlverhalten von Ermittlungs- und Strafverfolgungsbehörden.“ (2018: 109) Sasha Marianna Salzmann schließlich bringt diesen Zusammenhang auf den Punkt:

Für die angegriffene Person kommt das unmittelbare Übel von dem_der Angreifer_in, das nachhaltige jedoch von der Gruppe, die wegschaut. Für sie ist es keine Überraschung, von jemandem attackiert zu werden, der voller Hass auf ihren Lebensstil ist. Dass aber Menschen zuschauen und nicht eingreifen, nicht helfen, vielleicht im Nachhinein sogar das Geschehene leugnen, verursacht die Verletzung, die sie in ihrem Grundvertrauen erschüttert. (2019: 21)

All diese Ausführungen weisen darauf hin, dass die Auswirkungen und der kommunikative Charakter von Hassgewalt nicht reduziert auf die Zweierbeziehung zwischen Täter*in und Opfer verstanden werden können. Auch die strikte Trennung zwischen der eigentlichen Tat (primäre Viktimisierung) und der erneuten Opferwerdung nach der Tat (sekundäre Viktimisierung) erschwert den Blick dafür, wie die Botschaft der Tat und der gesamtgesellschaftliche Umgang damit auch Ursache für (weitere) Gewalttaten sein können. Beide – die erste und zweite Opferwerdung – müssen notwendig zusammen gedacht werden, um zu verstehen, wie sie eine gemeinsame Wirkung entfalten.

Im Folgenden möchten wir daher ein um „legitimierende Dritte“ erweitertes kommunikatives Verständnis von Hassgewalt vorstellen, welches primäre und sekundäre Viktimisierung systematisch zusammendenkt. Diese Verknüpfung hilft zu veranschaulichen, welche Auswirkungen Hasskriminalität nicht nur auf die einzelnen Betroffenen und ihre Communitys, sondern die Gesamtgesellschaft hat, wenn Gewalt, die sich gegen gesellschaftlich marginalisierte Gruppen richtet, nicht entschieden abgelehnt und verurteilt wird.

Gewaltkommunikation

Die Soziologin Gesa Lindemann (2014) konzipiert Gewalt6 abstrakt als Kommunikation, die im Dreieck zwischen Täter*innen, ihren Opfern und Außenstehenden, welche sie als „legitimierende Dritte“ bezeichnet, stattfindet. Hasskriminalität in diesem dreiseitig angelegten Gewaltverständnis zu verorten, erlaubt es, die Bedeutung unterlassener oder auch erfahrener Solidarität und damit die Verknüpfung von primärer und sekundärer Viktimisierung angemessen in den Blick zu nehmen (s. Abb. 1). Zentral für Lindemanns Gewaltkonzeption ist die Feststellung, dass Gewalt immer eine Reaktion auf die Enttäuschung normativer Erwartungen darstellt, welche als legitim und zentral für das eigene Selbstverständnis angesehen werden. Eine solche normative Erwartung wäre bspw. die Annahme, dass die Perspektive des weißen, heterosexuellen und nicht-behinderten Mannes auf die Welt eine universale Perspektive darstellt, damit als einzige Perspektive Objektivität beanspruchen kann und daher bestimmte Privilegien genießen sollte – wie etwa die Angabe des Tons und Themas sowie die Deutungshoheit gesellschaftlicher Diskurse, in denen es oft um konkrete Macht- und Ressourcenverteilung geht.

Menschen, die diese Annahme – wenn auch nur unbewusst – vertreten und dadurch am Bild einer homogenen Gesellschaft festhalten, können die zunehmende Sichtbarkeit marginalisierter Gruppen im öffentlichen Raum, ihre selbstbewusste Beteiligung an Debatten und Versuche, ihre Diskriminierungen im Sinne der gesellschaftlichen Gleichberechtigung abzubauen, als ernsthafte Provokation oder Bedrohung wahrnehmen. Eine Provokation, auf die durchaus auch mit Gewalt reagiert werden kann: Das BKA stellte für das Jahr 2020 im Vergleich zum Vorjahr einen Anstieg der politisch motivierten Gewalttaten um 18,8 % fest. Die Zahl der Hassstraftaten stieg sogar um 19,2 %, wobei neun von zehn Delikten politisch rechts motiviert waren.7 Dabei identifiziert Barbara Perry (2001) als zentrales Motiv von Hasskriminalität den Wunsch, die eigenen Privilegien aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen.8 Durch eine in diesem Sinne vorurteilsgeleitete Anwendung von Gewalt halten die Täter*innen trotz der Verletzung der Erwartung symbolisch an dieser fest. Dabei kommunizieren sie an die Opfer: „Ihr seid hier nicht willkommen!“, aber auch an die gesamte Gesellschaft: „Die sind hier nicht willkommen! Wir wollen nicht, dass die die gleichen Rechte haben wie wir!“ (s. Abb. 1: grüne Pfeile – primäre Viktimisierung).



Abbildung 1: Kommunikationsdreieck Hassgewalt (eigene Darstellung)

Die (De-)Legitimierung der Gewalt durch Dritte

Hier kommen die sogenannten Dritten ins Spiel: Bei ihnen handelt es sich um diejenigen Instanzen und Einzelpersonen, welche die Gewalt legitimieren oder delegitimieren, d. h. das Festhalten an der Norm befürworten, aber auch verwehren können, und welche stellvertretend für das Kollektiv, hier die Gesellschaft, agieren bzw. als dessen Repräsentant*innen interpretiert werden. Konkret können das entweder zufällige Zeug*innen oder Vertreter*innen gesellschaftlicher Institutionen (z. B. Opferberatungsstellen, zivilgesellschaftliche Akteur*innen wie Kirchen, Vereine, NGOs), aber auch staatliche Institutionen (z. B. Gerichte, Polizei) und Politiker*innen sein. Lindemann (2014) zufolge gibt es empirisch zwei unterschiedliche „Drittenkonstellationen“ – entweder die Dritten sind während der Tat selbst anwesend und (de-)legitimieren den Gewaltakt vor Ort oder sie sind es nicht und ihre Zustimmung wird ihnen zunächst (nur) unterstellt. Klassisches Beispiel für Letzteres wäre ein gewalttätiger Übergriff ohne Zeug*innen. Wenn den Abwesenden Zustimmung zunächst unterstellt wird, bedeutet das einerseits, dass sie den Gewaltakt auch im Nachhinein noch delegitimieren können, indem sie dieser impliziten Annahme aktiv widersprechen. Zustimmung generell zunächst zu unterstellen bedeutet aber andererseits auch, dass selbst bei Anwesenheit nur ein expliziter Widerspruch wirklich als Delegitimierung gilt, d. h. dass Schweigen als Zustimmung gewertet wird (vgl. ebd.).9 Auch hier gilt der berühmte Satz: Man kann nicht nicht kommunizieren (Watzlawick/Beavin 1972: 181).

Die Art und Weise also, wie sich die Dritten entweder direkt in der Situation oder aber im Nachgang zur Gewalttat positionieren und sich damit entweder mit den Opfern solidarisieren – oder eben auch nicht –, birgt das Potenzial erneuter Schädigungen der Betroffenen, also sekundärer Viktimisierungen. Sekundäre Viktimisierungserfahrungen sind demnach eine mögliche Folge der gesellschaftlichen Ent-Solidarisierungen mit den Opfern von Hasstaten, die sich u. a. in Form von Gleichgültigkeit oder Desinteresse äußern können. Sie entstehen dadurch, dass die Dritten sich nicht eindeutig delegitimierend, d. h. ablehnend, gegenüber (der Botschaft) der Hasstaten positionieren. Indem die Opfer, die Taten und die Botschaft der Hasstaten (an die Gesellschaft) nicht ernst genommen werden, werden diese Botschaften gewissermaßen geduldet und somit bis auf Weiteres gesellschaftlich legitimiert. Sekundäre Viktimisierungen sind also eine Folge der Antwort der Gesellschaft bzw. ihrer Stellvertreter*innen auf die Botschaft der Hasstat. In diesem Sinne beziehen sie sich immer auf die Botschaften der primären Viktimisierungen und verstärken diese. Die alternative Antwort wäre dagegen das Gegenteil von sekundärer Viktimisierung – nämlich eine Solidarisierung mit den Opfern, welche die exkludierende Botschaft klar ablehnt, d. h. die Gewalt delegitimiert. Doch was heißt das für die Kommunikation zwischen Täter*innen und Gesellschaft und für die Auswirkungen von Hassgewalt auf die Gesamtgesellschaft?

Die Kommunikation zwischen Täter*innen und Gesellschaft

Versteht man sekundäre Viktimisierung als einen Effekt der Antwort der Gesellschaft bzw. ihrer Stellvertreter*innen auf die Botschaft der Hasstat, wird deutlich, dass auch im Namen der Gesellschaft im Kommunikationsdreieck der Gewalt aktiv kommuniziert wird (s. Abb 1: blaue Pfeile). Wir haben bereits betrachtet, wie diese Kommunikation in Form von (Ent-)Solidarisierungen bei den Betroffenen ankommt. Doch selbstverständlich „hören“ auch die Täter*innen „mit“. Auch mit ihnen kann sich die Gesellschaft (ent-)solidarisieren. Kommen sie mit ihren Taten ungeschoren davon, kann nicht nur bei den Betroffenen der Eindruck entstehen, die Aussage der exkludierenden Botschaft werde von der Gesellschaft geteilt oder zumindest geduldet. Eine solche Situation lässt sich medial am Beispiel der anhaltenden rassistischen Polizeigewalt in den USA, aber auch in Deutschland verdeutlichen: Seit George Perry Floyds Tod am 25. Mai 2020 machten dort vor Kurzem die Tode des 16-jährigen Daunte Wright, des 13-Jährigen Adam Toledo, der 15-jährigen Ma‘Khia Bryant und des 40-jährigen Andrew Brown Junior, alle Schwarz und alle durch Polizeischüsse getötet, Schlagzeilen.10 Aber auch in Deutschland enden Begegnungen mit der Polizei zum Teil tödlich, wie der Fall des 19-jährigen Qosay Khalaf im März 2021 zeigt.11 Dadurch, dass Polizist*innen bisher kaum für ihre unangemessene Gewalt zur Rechenschaft gezogen werden, entsteht ein Klima, in dem es leicht zu weiteren exzessiven Gewaltanwendungen kommt. Forscher*innen sprechen von einer „Erlaubnis zum Hassen“ (permission to hate, Perry 2001; vgl. Dieckmann/Geschke, im Erscheinen), wenn potenziellen Täter*innen (mit und ohne Uniform) auf diese Weise der Eindruck vermittelt wird, dass die Gesellschaft kein Problem mit dem habe, was sie tun. Ähnlich lässt sich die Studie des Southern Poverty Law Center (2020) interpretieren, der zufolge seit 2017 während Trumps Präsidentschaft die weiß-nationalistischen Hassgruppen um 55 % gewachsen sind: Zweifelsohne spielte dabei die Zustimmung durch Trump – in Form seines Unwillens, sich von diesen Gruppierungen, ihren Befürworter*innen und Verbrechen klar abzugrenzen12 – eine beträchtliche Rolle.

Die kritische Auseinandersetzung mit rassistischen Anschlägen in Deutschland jedoch zeigt: So deutlich muss die Billigung nicht sein, um sowohl von den Täter*innen als auch den Betroffenen verstanden zu werden. Das anhaltende staatliche Unvermögen und das fehlende Engagement im NSU-Prozess (u. a. Nobrega et al. 2021; Kahveci 2017; Özata 2018), im Nachgang der Anschläge in Hanau (Initiative 19. Februar Hanau 2021) oder bei ähnlichen Taten, vollständig aufzuklären, sprechen deutlich genug. Das Vertuschen, vorurteilsgeleitete Ermittlungsverfahren, die eigene Mitschuld oder die Schuld der Täter*innen abzustreiten und die Verantwortlichen nicht angemessen zur Rechenschaft zu ziehen, führen allesamt zu sekundären Viktimisierungen und transportieren entsprechende Botschaften (s. Abb. 1). Im Mordfall George Floyd fand der US-amerikanische Bürgerrechtler Al Sharpton bereits vor Beginn des Prozesses gegen Derek Chauvin, den Polizisten, der fast zehn Minuten auf George Floyds Hals kniete, sehr deutliche Worte für dessen Bedeutung: „Chauvin ist im Gerichtssaal, aber Amerika steht vor Gericht“ („Chauvin is in the court room, but America is on trial“).13

Strukturelle oder punktuelle Gewalt?

Neben den Täter*innen und den Dritten sind auch die Betroffenen sowie ihre Communitys Teil der Gewaltkommunikation (s. Abb. 1: gelbe Pfeile). Sie können sich entweder zurückziehen und damit Resignation kommunizieren oder sich politisch mobilisieren und die erlebte Gewalt als Unrecht anklagen (vgl. Perry 2018). Lindemann zufolge hängt der aktuelle Erfolg der Black Lives Matter-Bewegung in den USA maßgeblich am Erfolg ihrer Proteste (Lindemann 2020). Die Bewegung schafft es weltweit, die Polizeigewalt gegen Schwarze allgemein und damit den Mord an George Floyd im Besonderen als strukturelle Gewalt zu definieren. Damit werde ein besonderer politischer Handlungsdruck aufgebaut: „Soziale Ungleichheit kann man langsam abbauen,“ so Lindemann, „aber einer illegitimen Gewalt muss der Staat jetzt entgegentreten. Etwas nicht als Gewalt zu identifizieren, entlastet vom emotional-moralischen Handlungsdruck.“ (2020: 98) Darüber hinaus verlangen, so die Rassismusforscherin Kelly (2021), strukturelle Probleme nach strukturellen Lösungen, um über bloße Symptombehandlungen hinauszugehen.

Dagegen steht das Festhalten am Mythos des*der Einzeltäter*in und der Vorstellung, die Gewalt sei eine reine Reaktion auf das Verhalten und die Bedrohung durch die Betroffenen und damit verständlich, wenn nicht sogar entschuldbar. Solche Interpretationen begünstigen ein Hochschaukeln der Gewalt und ein gesellschaftliches Klima, in dem nicht nur vorurteilsmotivierte Hassgewalt, sondern auch Rechtsterrorismus und -radikalismus gedeihen (vgl. Perry 2001). Sie ignorieren die wiederholt kommunizierte Exklusionsbotschaft der Gewalttaten und übersehen die zugrundliegenden Ungleichwertigkeitsvorstellungen, die durch die Gewalt verteidigt werden sollen.

Hassgewalt: ein Angriff auf unsere Demokratie

Hasstaten treffen die unmittelbaren Opfer und stellvertretend angegriffenen gesellschaftlich marginalisierten Gruppen. Doch diese Gewalt betrifft nicht nur sie. Sie (be)trifft alle, die in einer pluralen Demokratie leben wollen. Denn ein Angriff auf gesellschaftliche Vielfalt und die gesellschaftliche Duldung solcher Angriffe gefährden nicht nur diese Vielfalt, sondern letztendlich auch unsere plurale Demokratie.

In diesem Sinne kann es nicht die alleinige Verantwortung der direkt Betroffenen sein, sich gegen Diskriminierung und Gewalt zu wehren. Es liegt an allen Mitgliedern der Gesellschaft und ihren Stellvertreter*innen, die Augen zu öffnen für die Motivationen, die diese Taten miteinander verbinden, und die gesellschaftlichen Strukturen, die sie ermöglichen. Welche Strukturen konkret wie verändert werden müssen, ist ein laufender Lernprozess und auch eine Frage der Praxis. Nicht zuletzt – und dafür plädiert dieser Text – muss genau „hingehört“ und ernstgenommen werden, welche Kraft von der eigenen (de-)legitimierenden Reaktion auf Hassgewalt ausgeht. Es gilt zu verstehen, dass diese Reaktion nicht nur die Betroffenen und die Täter*innen beeinflusst, sondern die gesamte Gesellschaft. Dazu gehört die Einsicht, dass schöne Worte allein nicht ausreichen, wenn ihnen nicht auch Taten folgen. Eine vielfältige Gesellschaft braucht Zivilcourage und Solidarität. Eine demokratische Gesellschaft muss vorurteilsmotivierte Hassgewalt konsequent ablehnen und ihr entschlossen entgegentreten.


***********
1    In der soziologischen Forschung wird hierfür der Begriff „Othering“ verwendet (im deutschsprachigen Raum auch „Veranderung“ oder „Besonderung“). Othering findet auch im Mensch-Tier-Verhältnis statt (Ashour 2020) und spielt als Mensch-Tier-Unterscheidung, z. B. als Dehumanisierung, auch im Rassismus und Sexismus eine Rolle (Mütherich 2015).
2    Kübra Gümüşay (2020: insbes. 63–77) beschreibt diese „Bürde der Repräsentation“, einseitige Markierungspraxis und das „Privileg“ der Individualität und Komplexität sehr anschaulich. Zum Privileg der Individualität s. auch Roig (2021), während DiAngelo (2021) die machterhaltende Funktion des zugrundeliegenden Individualismus-Narrativs beschreibt.
3    Hierzu s. Fine/Christoforides (1991).

4    Zur Bezeichnung „bad apples“ im Kontext von strukturellem Rassismus und Polizeigewalt s. news.utexas.edu/2020/06/22/saying-a-few-bad-apples-does-not-end-systemic-racism-in-policing/ [21.10.2021]. Zum historischen Wandel der Bedeutung des Sprichworts s. abcnews.go.com/US/bad-apples-phrase-describing-rotten-police-officers-meaning/story [21.10.2021].


5    Der Begriff der Mehrheitsgesellschaft bezeichnet den Teil der Gesellschaft, welcher die kulturellen Normen –bspw. die Zugehörigkeitsnorm des normalen Menschen (s. o.) – vorgeben kann und repräsentiert. Birgit Rommelspacher (1998[1995]) spricht von „Dominanzkultur“. Vorurteilsmotivierte Gewalttäter*innen verstehen sich selbst dabei oft als Vertreter*innen dieser Dominanzgesellschaft und handeln vermeintlich in ihrem Namen.
6    Anders als in diesem wissenschaftlichen Konzept wird gesellschaftlich und alltagssprachlich in der Regel nur illegitime Gewalt als „Gewalt“ bezeichnet bzw. anerkannt: „Gewalt, die als Gewalt identifiziert wird, ist letztlich immer illegitim. Wer von Gewalt spricht, meint immer etwas, das erstens moralisch verwerflich ist und dem zweitens die staatliche Gewalt entgegentreten muss.“ (Lindemann 2020: 97) Wir beziehen uns im Folgenden auf Gewalt, die gesellschaftlich bereits als solche bezeichnet wird.

7    www.bmi.bund.de/SharedDocs/pressemitteilungen/DE/2021/05/vorstellung-pmk-2020.html [12.10.2021].


8    Derartige „Backlashs“ beschreibt Matthias Quent (2019) in seinem Buch Deutschland rechts außen.
9    Zur Status quo erhaltenden Macht von Schweigen s. auch DiAngelo (2021).

10   www.zeit.de/politik/ausland/2021-04/tod-daunte-wright-polizistin-uteil-totschlag-usa, www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2021-04/polizeigewalt-usa-chicago-tod-13-jaehriger und www.fr.de/politik/usa-north-carolina-schwarzer-polizei-erschossen-polizeigewalt-prozess-tod-george-floyd-90470185.html [21.10.2021].


11   www.ndr.de/fernsehen/sendungen/panorama3/Tod-nach-Polizeieinsatz-Wie-ein-gesunder-19-Jaehriger-starb,delmenhorst1042.html [21.10.2021].


12   Erinnert sei hier an die Aussagen, in Charlottesville habe es „sehr gute Leute, auf beiden Seiten“ gegeben („very fine people, on both sides“) oder an die rechtsradikalen Proud Boys gerichtet, sie sollten sich „zurück- und bereithalten“ („stand back and stand by“), vgl. www.youtube.com/watch [21.10.2021].


13   www.youtube.com/watch [12.10.2021]. Mittlerweile wurde Chauvin zu 22,5 Jahren Haft verurteilt. Floyds Familie hofft weiterhin auf eine Erhöhung der Strafe, u. a. durch einen weiteren, noch ausstehenden Prozess gegen Chauvin und die drei bei der Tat involvierten Polizisten (https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2021-06/george-floyd-prozess-derek-chauvin-strafe-familie-erhoehung-usa) [12.10.2021].


 

Literatur

Ashour, Amani (2020): Tiere als Personen? Bemerkungen zu einer systematischen Leerstelle der Soziologie. Masterarbeit zur Erlangung des wissenschaftlichen Grades Master of Arts. FSU Jena.
Awad, Germine

(2020): Saying ‚A Few Bad Apples’ Does Not End Systemic Racism in Policing. Online: news.utexas.edu/2020/06/22/saying-a-few-bad-apples-does-not-end-systemic-racism-in-policing/ [21.10.2021].


Buchen, Stefan/Pinkert, Reik

o/Tadmory, Sulaiman (2021): Tod nach Polizeieinsatz – Wie ein gesunder 19-Jähriger starb. Online: www.ndr.de/fernsehen/sendungen/panorama3/Tod-nach-Polizeieinsatz-Wie-ein-gesunder-19-Jaehriger-starb,delmenhorst1042.html [31.05.2021].


Bundesministerium des Inneren, für Bau und Heimat (2021): Pressemitteilung – Politisch motivierte Straftaten nehmen 2020 deutlich zu. Online: www.bmi.bund.de/SharedDocs/pressemitteilungen/DE/2021/05/vorstellung-pmk-2020.html [31.05.2021].


CBS Evening News

(2021): Far-right 'Proud Boys' celebrate after Trump's debate callout. Online: www.youtube.com/watch [31.05.2021].


Cholia, Harpreet (2021): „Das schlimmste ist nicht die Tat, sondern dass man allein damit gelassen wird“. In: Cholia, Harpreet/Jänicke, Christin [Hrsg.]: Unentbehrlich. Solidarität mit Betroffenen rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt. Edition Assemblage: Münster, S. 168–172.
Coester, Marc (2008): Hate crimes. Das Konzept der Hate Crimes aus den USA unter besonderer Berücksichtigung des Rechtsextremismus in Deutschland. Peter Lang: Frankfurt a. M.
Cunningham, Malorie

(2020): ‚A few bad apples’: Phrase describing rotten police officers used to have a different meaning. Online: abcnews.go.com/US/bad-apples-phrase-describing-rotten-police-officers-meaning/story [21.10.2021].


DiAngelo, Robin (2021): Nice Racism – How Progressive White People Perpetuate Racial Harm. Beacon Press: Boston, Massachusetts.
Dieckmann, Janine/Geschke, Daniel (i.E.): Antiziganistische Hasskriminalität – ihre Botschaft, Auswirkungen und die Rolle der Polizei. In: Zentralrat Deutscher Sinti und Roma [Hrsg.]: Antiziganismus und Polizei. Zentralrat Deutscher Sinti und Roma: Heidelberg.
El-Mafaalani, Aladin (2021): Wozu Rassismus? Von der Erfindung der Menschenrassen bis zum rassismuskritischen Widerstand. Kiepenheuer & Witsch: Köln.
Fine, Gary Alan/Christoforides, Lazaros (1991): Dirty Birds, Filthy Immigrants, and the English Sparrow War. Metaphorical Linkage in Constructing Social Problems. In: Symbolic Interaction, 14, Heft 4, S. 375–393.
Geschke, Daniel/Quent, Matthias (2021): Sekundäre Viktimisierung durch Polizei und Justiz. In: Cholia, Harpreet/Jänicke, Christin [Hrsg.]: Unentbehrlich. Solidarität mit Betroffenen rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt. Edition Assemblage: Münster, S. 74–81.
Gümüşay, Kübra (2020): Sprache und Sein. Hanser Berlin: München.
Initiative 19. Februar Hanau (2021): Wir klagen an und fordern Taten statt Worte. Erinnerung, Gerechtigkeit, Aufklärung, Konsequenzen. In: Onur, Suzan Nobrega/Quent, Matthias/Zipf, Jonas [Hrsg.]: Rassismus. Macht. Vergessen. Von München über den NSU bis Hanau – Symbolische und materielle Kämpfe entlang rechten Terrors. Transcript: Bielefeld, S. 77–79.
Kahveci, Çağrı (2017): Migrantische Selbstorganisierung im Kampf gegen Rassismus. Die politische Praxis ausgewählter antirassistischer Gruppen türkeistämmiger Migrant*innen. Unrast: Münster.
Kelly, Natasha A. (2021): Rassismus – Strukturelle Probleme brauchen strukturelle Lösungen! Atrium: Zürich.
Law&Crime Network

(2021): Rev Al Sharpton Chauvin Is In The Court Room, But America Is On Trial. Online: www.youtube.com/watch [31.05.2021].


Lindemann, Gesa (2014): Weltzugänge. Die mehrdimensionale Ordnung des Sozialen. Velbrück Wissenschaft: Weilerswist.
Lindemann, Gesa (2020): Die Ordnung der Berührung. Staat, Gewalt und Kritik in Zeiten der Coronakrise. Velbrück: Weilerswist.
Meier, Friederike

(2021): USA – Erneut unbewaffneter Schwarzer bei Polizeieinsatz erschossen. Online: www.fr.de/politik/usa-north-carolina-schwarzer-polizei-erschossen-polizeigewalt-prozess-tod-george-floyd-90470185.html [31.05.2021].


Mütherich, Birgit (2015): Die Konstruktion des Anderen – zur soziologischen Frage nach dem Tier. In: Brucker, Renate [Hrsg.]: Das Mensch-Tier-Verhältnis. Eine sozialwissenschaftliche Einführung. Springer VS: Wiesbaden, S. 49–77.
Nobrega, Onur Suzan/Quent, Matthias/Zipf, Jonas (2021): Von München über den NSU bis Hanau. In: (ebd.) [Hrsg.]: Rassismus. Macht. Vergessen. Von München über den NSU bis Hanau – Symbolische und materielle Kämpfe entlang rechten Terrors. Transcript: Bielefeld, S. 9–23.
Özata, Onur

(2018): Staatliches Versagen und die Folgen für die Opfer mit Blick auf die Taten des NSU und den Anschlag am OEZ. In: Wissen Schafft Demokratie, 4, S. 108–114. Online: www.idz-jena.de/wsddet/wsd4-11/ [31.05.2021].


Perry, Barbara (2001): In the name of hate. Understanding hate crimes. Routledge: New York.
Perry, Barbara

(2018): Hasskriminalität als Herausforderung für Inklusion und Vielfalt. In: Wissen Schafft Demokratie, 4, S. 97–107. Online: www.idz-jena.de/wsddet/wsd4-10/ [31.05.2021].


Puls, Hendrik

(2020): Rechtsmotivierte „Einzeltäter“ in Deutschland. In: Wissen schafft Demokratie, 6, S. 132–141. Online: www.idz-jena.de/pubdet/wsd6-13/ [21.10.2021].


Quent, Matthias (2019): Deutschland rechts außen. Wie die Rechten nach der Macht greifen und wie wir sie stoppen können. Piper: München.
Reimer-Gordinskaya, Katrin/Tzschiesche, Selan

a (2020): Antisemitismus – Heterogenität – Allianzen. Jüdische Perspektiven auf Herausforderungen der Berliner Zivilgesellschaft. Online: berlin-monitor.de/wp-content/uploads/2020/12/BerlinMonitor2020_Web-1.pdf [9.12.2021].


Rommelspacher, Birgit (1998 [1995]): Dominanzkultur – Texte zu Fremdheit und Macht. Orlanda-Frauenverl.: Berlin.
Salzmann, Sasha Marianna (2019): Sichtbar. In: Aydemir, Fatma/Yaghoobifarah, Hengameh [Hrsg.]: Eure Heimat ist unser Albtraum. Ullstein Buchverlage: Berlin, S. 13–26.
Scherr, Albert (2016[2012]): Diskriminierung – Wie Unterschiede und Benachteiligungen gesellschaftlich hergestellt werden. Springer VS: Wiesbaden.
Scherr, Albert (2017): Soziologische Diskriminierungsforschung. In: Scherr, Albert/El-Mafaalani, Aladin/Gökçen Yüksel, Emine [Hrsg.]: Handbuch Diskriminierung. Springer VS: Wiesbaden, S. 39–58.
Southern Poverty Law Center

(2020): The Year in Hate and Extremism 2019. A Report from the Southern Poverty Law Center. Online: www.splcenter.org/sites/default/files/yih_2020_final.pdf [31.05.2021].


Turner, John C./Hogg, Michael A./Oakes, Penelope J./Reicher, Stephen D./Wetherell, Margaret S. (1987): Rediscovering the social group – A self-categorization theory. Blackwell: Oxford.
Watzlawick, Paul; Beavin, Janet (1972): Einige formale Aspekte der Kommunikation. In: Badura, Bernhard/Gloy, Klaus [Hrsg.]: Soziologie der Kommunikation – Eine Textauswahl zur Einführung. Frommann-Holzboog: Stuttgart, S. 179–193.