Gegen die harmonisierende Gemeinschaftlichkeit: Potenziale und Grenzen zivilgesellschaftlicher Dokumentation am Beispiel der Plattform chronik.LE

Der Beitrag setzt sich am Beispiel des Projekts chronik.LE mit den Potenzialen und Grenzen zivilgesellschaftlicher Dokumentationspraxis von Diskriminierungen und extrem rechten Aktivitäten auseinander. Der vorgestellte Ansatz geht von einer Situationsanalyse der „feindseligen Normalität“ aus und wirkt durch Information auf die Aufklärung und Aktivierung der lokalen Bevölkerung hin. Auf Basis gesammelter Erfahrungen benennen die Autor*innen Voraussetzungen guter Dokumentationsarbeit und zeigen wichtige Anknüpfungspunkte für weitere Gegenaktivitäten zu extrem rechten Praxen auf. Nur durch das Zusammenwirken von lokaler Intervention und nachhaltiger Aufklärungsarbeit kann die Schaffung einer „reflexiven Stadtgesellschaft“ gelingen, so die These des Beitrags.

Einleitung

Zivilgesellschaftliche Dokumentationsarbeit leistet einen unverzichtbaren Beitrag zur langfristigen Schwächung von Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit (GMF) und ihrer politischen Mobilisierung durch extrem rechte sowie rechtspopulistische Akteur*innen. In diesem Beitrag diskutieren wir am Beispiel der Leipziger Dokumentations- und Analyseplattform chronik.LE, welche Potenziale und Grenzen Dokumentationspraxis in Bezug auf Medien-, Vernetzungs- und Bildungsarbeit entfaltet und wie sie damit zur Schaffung einer „reflexiven Stadtgesellschaft“ (Heitmeyer/Grau 2013: 31–33) beiträgt. Unter reflexiver Stadtgesellschaft begreifen wir den Umfang an zivilgesellschaftlichem Engagement, das der Abwehr und Verdrängung von Problemdefinitionen entgegentritt; dabei nicht nur offensichtlich extrem rechte Akteur*innen problematisiert, sondern die Normalisierungsprozesse von GMF thematisiert und kritisiert und insbesondere Betroffene von Diskriminierung und rechter Gewalt in ihrer Selbstermächtigung unterstützt. Sie ist das Gegenbild einer feindseligen Normalität, in der GMF und eine sie „harmonisierende Gemeinschaftlichkeit“ (ebd.) dominant zu werden drohen.

Chronik.LE ist ein ehrenamtliches journalistisches Projekt für Leipzig und die umliegenden Landkreise Leipziger Land sowie Nordsachsen, dessen Arbeit im Kern aus der Dokumentation und Recherche extrem rechter rassistischer, sexistischer und anderweitig diskriminierender Ereignisse besteht. Die Gründung der Dokumentationsplattform chronik.LE geht auf das Jahr 2008 zurück, als im Leipziger Osten vermehrt neonazistische Aktivitäten und Angriffe stattfanden, die von der Lokalpresse verharmlosend und entpolitisierend thematisiert wurden. Aus der Notwendigkeit, eine Öffentlichkeit zu schaffen, die diese Zustände und ihre politischen Hintergründe benennt, entstand die Idee für das Dokumentations- und Analyseprojekt. So wurden seit 2008 über 4.200 Ereignisse dokumentiert, die von Propagandataten, extrem rechten Versammlungen und Beleidigungen über Bedrohungen und Angriffe bis hin zu den rechten Morden an Karl-Heinz Teichmann (2008), André K. (2012) und Kamal Kilade (2010) reichen.

Teile der Rechtsextremismusforschung weisen seit Jahrzehnten auf die Verbreitung menschenfeindlicher Einstellungsmuster hin (Heitmeyer 2018; Decker et al. 2020) sowie auf stärker wellenförmig auftretende rechte Gewalttaten (Röpke 2018) und Wahlerfolge extrem rechter Parteien (Arzheimer et al. 2001). Über die Ursachen von menschenfeindlichen Einstellungsmustern, Ungleichwertigkeitsideologien und Erfolgen der extremen Rechten wird seit Langem und breit debattiert (vgl. Frindte et al. 2016; Grimm 2018). Für die Praxis von chronik.LE ist vor allem relevant, dass Ungleichwertigkeitsideologien in Wechselwirkung mit sogenannten rechtsextremen Haltungen und Aktivitäten stehen, diese hervorbringen oder verschärfen können. Dabei ist die Abwertung von Gruppen entlang ethnischer, kultureller, religiöser oder gar vermeintlich ‚biologischer‘ Merkmale „in der Regel Ausdruck und Resultat langer, z. T. jahrhundertealter politischer und kultureller Auseinandersetzungen“ (Becker 2016: 446) und dadurch weder einer politischen Reflexion unmittelbar zugänglich noch einfach zu beseitigen im Zuge rechtlicher Diskriminierungsverbote. Analysen der Wahlerfolge der Alternative für Deutschland (AfD) zeigen zudem, dass menschenfeindliche Einstellungen im Verlauf des letzten Jahrzehnts zunehmend prägend für politische Wahl- und Richtungsentscheidungen der Bevölkerung geworden sind (Mullis/Zschocke 2019: 4ff., vgl. Kaiser 2021: 15). Im Spektrum extrem rechter Akteur*innen vollzog sich parallel eine Fokusverschiebung von der aktionistischen NS-Folklore (Wehrmachtsdemonstration, Hess- und „Bombenholocaust“-Gedenkmärsche) hin zur mittel- bis langfristigen Orientierung auf aktuelle gesellschaftliche Konfliktfelder wie Migration oder die gegenwärtige COVID-19-Pandemie (Quent 2019: 100f.; chronik.LE 2021). Das bedeutet keineswegs, dass weniger faschistische, rassistische oder antisemitische Vorfälle verübt werden bzw. die Verklärung des Nationalsozialismus durch die extreme Rechte bedeutungslos wäre. Jedoch versuchen extrem rechte Akteur*innen zunehmend, durch rechte Raumnahme Orte und Regionen zu dominieren und dadurch eine „feindselige Normalität“ (Heitmeyer/Grau 2013: 11) zu schaffen, in der ihre Ungleichwertigkeitsideologien unbestritten bleiben und Gegner:innen systematisch Angriffen und Verdrängung ausgesetzt sind.

Feindselige Normalität

Dokumentationsarbeit als politische Praxis setzt genau an der feindseligen Normalität an. Die Situation in Leipzig ist, wie in vielen anderen Städten, durch Ambivalenz gekennzeichnet: Einerseits existiert ein erdrückendes Ausmaß an Vorfällen von Diskriminierung und rechter Gewalt sowie deren Ignoranz, Verdrängung und Verstärkung durch „feindselige Mentalitäten in der Bevölkerung“ (Grau/Heitmeyer 2013: 11). Auf der anderen Seite gibt es Ansätze einer reflexiven Stadtgesellschaft, die sich dieser Normalität mit bürgerschaftlichem und politischem Engagement stellt. Die Bereitstellung von Informationen über diskriminierende Ereignisse und Analysen können das Engagement unterstützen und verstärken.

Unserer Erfahrung nach braucht eine sich fortwährend aufklärende Bevölkerung eine faktenbasierte Situationsbeschreibung des eigenen Lebensumfeldes. Das Ziel dieser Situationsbeschreibung ist nicht einen objektiven Maßstab für die Diskriminierungsrealität vor Ort zu liefern. Denn das Erkennen dieser Wirklichkeit ist selbst „Teil der öffentlichen Debatte und hängt damit auch vom Sensibilisierungsgrad der einzelnen Menschen und Gruppen“ (ebd.: 13) ab. Die Dokumentationspraxis von chronik.LE interveniert in die Öffentlichkeit, indem sie grundlegend über das Ausmaß und die Alltäglichkeit von Ideologien der Ungleichwertigkeit aufklärt, diskriminierende Fälle dokumentiert und auf Entwicklungen extrem rechter Aktivitäten hinweist. Die Arbeit der letzten elf Jahre zeigt dabei: Nur ein geringer Teil der Taten wird von Akteur*innen der extremen Rechten begangen. Häufig sind es alltägliche Situationen, in denen Menschen herabgewürdigt, bedroht oder sogar angegriffen werden. Wie umfangreich eine solche Situationsbeschreibung sein kann, hängt u. a. davon ab, wie weit ihr Blick reicht. Die Dokumentation von chronik.LE kann als ehrenamtliche und unabhängige Arbeit stets nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit abbilden, „von einer hohen Dunkelziffer muss weiterhin ausgegangen werden“ (Mayer 2021: 6). Oftmals besteht in Städten und Gemeinden kein allgemeines Problembewusstsein für das Ausmaß und die Motive diskriminierender Taten – auch nicht in Leipzig, einer Großstadt mit stabiler rot-rot-grüner Mehrheit im Stadtrat seit 1990.

Die Praxis von chronik.LE bewegt sich im Spannungsfeld von Professionalität und ehrenamtlicher Freiwilligkeit. Es gibt nur begrenzte Ressourcen, mit denen die Qualität der Dokumentation sichergestellt wird: Gemeldete Ereignisse werden durch Recherchen weiterer Quellen, z. B. Behörden- und Medieninformationen, Zeug*innen sowie Bildmaterial verifiziert. Dadurch kann die Plattform nicht tagesaktuell sein. Ziel ist eine Qualität zu sichern, die nötig ist, damit aus einer bloßen Fallsammlung eine verifizierbare Situationsbeschreibung wird, die Praktiker*innen und wissenschaftlichen Vertiefungen nützlich ist und von Betroffenen als Ressource genutzt wird. Die hohe und stetig zunehmende Zahl an Ereignismeldungen zeigt, dass eine unabhängige Dokumentation von diskriminierenden Fällen, rechter Gewalt und Aktivitäten der extremen Rechten unentbehrlich ist – wer erfasst sonst diese Fälle, um anhand fundierter Informationen auskunftsfähig zu sein über den Einfluss der Diskriminierungsrealität auf „die Qualität des lokalen Zusammenlebens“ (Heitmeyer/Grau 2013: 14)?

Journalismus mit Haltung

Der NSU-Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages (BT 2013: 736) und die Unabhängige Expertenkommission Antisemitismus (BT 2017: 95) haben festgestellt, dass Perspektiven von Betroffenen rassistischer und antisemitischer Gewalt in der öffentlichen Debatte kaum beachtet werden, sondern vielmehr unsichtbar sind. Die Dokumentationspraxis von chronik.LE rückt die Wahrnehmung von Betroffenen rechter Gewalt und Propaganda in den Fokus. Im Unterschied zur staatlichen Erfassungspraxis richtet sie sich nicht an der Strafbarkeitsgrenze oder dem fragwürdigen Extremismusmodell der Verfassungsschutzämter aus. In diesem Sinne ist die Dokumentationspraxis nicht ‚neutral‘. Sie orientiert sich an der Perspektive von Betroffenen, setzt deren Situationsdefinition zentral und untermauert sie durch verifizierte Informationen. Damit verhilft die Arbeit von chronik.LE der Betroffenenperspektive zur Sichtbarkeit und wirkt dem Problem einer „sekundären Viktimisierung“ (Schestak-Haase/Adorf 2020) entgegen. Eine rassistische Täter-Opfer-Umkehr prägte zum Beispiel die öffentliche Berichterstattung im Anschluss an Kamal Kilades Ermordung im Jahr 2010. Der Initiativkreis Antirassismus sowie Chronik.LE wirkten dieser entgegen, sodass Kamal als Todesopfer rechter Gewalt anerkannt wurde und die Erinnerung daran heute ins Stadtbild eingeschrieben ist (vgl. Abb. 1).

Das „situierte Wissen“ (Perinelli 2017) von Betroffenen ist für eine Veränderung der öffentlichen Debatte unentbehrlich. Zentral ist, Betroffene nicht paternalistisch zu instrumentalisieren, sondern ihre Perspektiven in der öffentlichen Wahrnehmung zu stärken – auch um der Dominanzgesellschaft ihre blinden Flecken entgegenzuhalten. Gerade hier erfährt die Praxis von chronik.LE gegenwärtig Grenzen. Es gilt fortwährend Sprachbarrieren zu überwinden und fehlende Zugänge zu (post-)migrantischen Communitys zu finden.

Neben der Recherche in öffentlichen Quellen wie Tageszeitungen und Polizeimeldungen stammt ein Großteil der dokumentierten Ereignisse aus unmittelbarem Kontakt mit Betroffenen, Unterstützenden und Zeug*innen. Ausgehend von der Erfassung der Fälle werden Betroffene an professionelle Opferberatungsstellen verwiesen und zugleich kritische Medienarbeit betrieben, z. B. wird auf die Umstände der Tat bei Kontakt mit Ermittlungsbehörden und Tagespresse hingewiesen. Die regionale Vernetzung und Bekanntheit ist damit ein weiterer wichtiger Aspekt erfolgreicher Dokumentationspraxis. Im Umland und in kleinstädtischen Regionen, in denen zivilgesellschaftliche Akteur*innen, alternative Infrastrukturen und eine individuelle Interventionsbereitschaft zur Schaffung „produktive[r] Unruhe“ (Grau/Meitmeyer 2013: 32) nur gering ausgeprägt sind, werden weniger Fälle gemeldet und erfasst als in einer urbanen, studentisch geprägten Metropole wie Leipzig. Ansätze einer reflexiven Stadtgesellschaft sind insofern nicht nur Ziel der Bemühungen, sondern zugleich auch Voraussetzung aller Tätigkeiten von chronik.LE. Um die erfassten unzähligen ‚Einzelfälle‘ in Zeit und Raum einordnen zu können, muss die Chronik technisch und sprachlich aufbereitet werden. Die Dokumentation ist nur so gut, wie sie von Zielgruppen wahrgenommen wird. Dazu zählen in heutigen Zeiten allen voran die technischen Möglichkeiten auf der Höhe der Zeit: digitale, kostenfreie Zugänge zu Publikationen, visuelle und kartografische Aufbereitung, Schaffung von Anknüpfungspunkten für Medien- und Bildungsarbeit. Ergänzende Hintergrundinformationen zu einzelnen Fällen reichern eine Dokumentation an und eröffnen erste Möglichkeiten für weitere Gegenmaßnahmen. Die bloßen Ereignismeldungen liefern selbst nur Beschreibungen des Geschehens – nicht deren Erklärung (Mayer 2021: 21).

Analysen für eine reflexive Stadtgesellschaft

Über die Dokumentationspraxis hinaus veröffentlicht chronik.LE im 2-jährigen Abstand die Broschüre Leipziger Zustände (LEZ). Sie nimmt eine umfangreiche Situationsanalyse diverser Diskriminierungsfelder sowie der aktuellen Dynamiken und Entwicklungstendenzen der extremen Rechten vor. Auch die Analysen der Redaktion und externer Autor*innen, die aufgrund von Betroffenheiten und fachlichem Hintergrund Expert*innen im jeweiligen Feld sind, stellen nur einen Ausschnitt der Diskriminierungsrealität dar. Zudem bleiben sie notwendig auch da blind, wo die Dokumentation aufgrund von Positionalität und anderen Zugangshürden (teils erhebliche) Lücken aufweist. Auch die Analyse leistet einen Beitrag, das Dunkelfeld weiter zu erhellen und allgemeine Entwicklungstendenzen der Diskriminierungsrealitäten aufzuzeigen, sodass proaktive Bearbeitung entlang von Ursachen möglich wird. Beispielsweise wurde schon in der LEZ 2012 angesichts der eskalierenden Diskussion um die Asylunterbringung in Leipzig auf die Anschlussfähigkeit der extremen Rechten an alltagsrassistische Einstellungen in konkreten Situationen hingewiesen (Initiativkreis 2012; Kausch et al. 2012) – lange bevor die NPD mit der NEIN ZUM HEIM-Kampagne den Grundstein für die rassistische Protestwelle der Jahre 2015 bis 2017 legte. Solche Reflexionsprozesse sind unmittelbar praxisrelevant und befördern die intensive Begleitung der städtischen Unterbringungspraxis durch zivilgesellschaftliche Akteur*innen.

Am Beispiel wird auch deutlich, dass das Publikationsangebot und die Zielgruppe der LEZ in erster Linie zivilgesellschaftliche Aktive, städtische Akteur*innen sowie Betroffenengruppen adressiert. Im Kern bilden diese Gruppen zugleich die ‚Milieus‘ ab, die nach dem Verständnis von chronik.LE die Basis einer reflexiven Stadtgesellschaft sind und sie institutionalisieren können. Der publizistischen und analytischen Arbeit von chronik.LE liegt der Gedanke zugrunde, im situierten Wissen von Betroffenen einen unersetzlichen Beitrag für die Wahrnehmung gesellschaftlicher Realität zu sehen und dieses Wissen (gemeinsam) in ein größeres Bild städtischer und regionaler Entwicklungen einzuordnen, um damit Handlungsdruck gegenüber kommunalen und polizeilichen Akteur*innen aufzubauen. Die Anerkennung der Diskriminierungsrealitäten durch kommunale Akteur*innen ist ein erster unhintergehbarer Schritt. Nach jahrelangem Engagement hat sich insbesondere mit der Stadt Leipzig ein kontinuierlicher Wissenstransfer im Arbeitsgebiet von chronik.LE etabliert. Zu den – ohnehin nicht öffentlichen – polizeilichen Lagebildern steht die Dokumentationsarbeit von chronik.LE jedoch eher in Konkurrenz.

Eine Kleinstadt am Rande Leipzigs

Neben der Dokumentations- und Analysearbeit initiiert chronik.LE Vernetzungen zwischen Einzelpersonen und Gruppen. Ausgangspunkt dieser Arbeit waren in der Vergangenheit wiederholt Meldungen aus der Zivilgesellschaft, die über Versuche rechter Raumnahme in den jeweiligen Stadtteilen berichteten. Die erhöhten Vorkommnisse neonazistischer Aktivitäten und Angriffe führten dazu, dass Betroffene proaktiv Unterstützungsbedarf signalisierten. Oftmals verfügten die Personen nicht über die entsprechenden Ressourcen oder die notwendigen Netzwerke innerhalb ihres Lebensumfeldes, um erfolgreich eine Öffentlichkeit für die Problemlage zu schaffen und damit Handlungsbedarf gegenüber kommunalen Akteur*innen zu artikulieren. Aufgrund der Reichweite sowie Positionierung zwischen Aktivist*innen und öffentlichen Akteur*innen wird chronik.LE hier eine günstige Vermittlungsposition zuteil. Mit der Vernetzungsarbeit geht eine kritische Presse- und Öffentlichkeitsarbeit einher, die auf der Dokumentationspraxis fußt und Aufmerksamkeit für aktuelle Entwicklungen generieren kann. Chronik.LE kann für eine solche Vernetzung Impulse setzen. Dennoch braucht es neben einem gewissen Problembewusstsein auch die weiterführende Selbstorganisation von Betroffenen und Unterstützer*innen. Diese sind entscheidend, um eine nachhaltige Vernetzung zu erreichen. Ist eine solche Vernetzung erfolgreich, birgt sie das Potenzial der Etablierung zivilgesellschaftlicher Strukturen, die dauerhaft zur Stärkung einer reflexiven Stadtgesellschaft und somit zur Schwächung von Ungleichwertigkeitsideologien beitragen können.

Beispielhaft zeigt sich dies anhand der nordöstlich von Leipzig gelegenen Kleinstadt Taucha. Seit dem Jahr 2018 häufen sich die Meldungen über rechte Propagandadelikte und verbale Bedrohungen gegenüber politischen Gegner*innen. Die Dokumentation der Ereignisse und weiterführende Recherchen ermöglichten es, rechte Strukturen und Aktivitäten, ihre Kontinuität und Zusammenhänge vor Ort aufzuzeigen. Bereits in den 2000er-Jahren formierten sich in Taucha neonazistische Strukturen, die der NPD nahestanden und sich personell aus der Hooliganszene des heutigen 1. FC Lokomotive Leipzig zusammensetzten. Auch gegenwärtig handelt es sich bei der (extrem) rechten Fußball- und Kampfsportszene um die zentrale Verbindungslinie der mehrheitlich an den Aktionen beteiligten rechtsoffenen und rechtsextremen Jugendlichen in Taucha (vgl. Klein 2021: 90f.).

Neben dem Verständnis der lokalen Strukturen wurde durch die Dokumentation neonazistischer Aktivitäten auch eine rechte Raumnahmestrategie ersichtlich. Mit propagandistischen Graffiti und Stickern, die eine „NS-Zone“ oder einen „Nazi-Kiez“ proklamieren, werden Hoheitsansprüche im städtischen Raum markiert. Verstärkt wird das durch gezielte Bedrohungen und Einschüchterungsversuche gegenüber Personen, die sich in Taucha für ein demokratisches Miteinander engagieren (Barth 2021).

Die Schaffung produktiver Unruhe

In Folge einer Putzaktion, die sich gegen die zunehmende rechte Raumnahme in der Kleinstadt richtete, gründete sich Ende 2018 der Verein SAfT – Solidarische Alternativen für Taucha. Mit verschiedenen öffentlichen Veranstaltungen, Aktionen sowie Bildungs- und Kulturprojekten möchte der Verein nicht nur ein demokratisches Gegenangebot, sondern auch Aufmerksamkeit für die Situation schaffen. Zu diesem Zweck erstellte die Initiative eine Broschüre, die inhaltlich auf der Dokumentation von chronik.LE basiert und diese Informationen für die Tauchaer Zivilgesellschaft aufbereitete. Im Folgejahr fand sich zudem erstmalig der Runde Tisch Taucha zusammen – ein Zusammenschluss zivilgesellschaftlicher Akteur*innen, den neben der Mobilen Beratung des Kulturbüros Sachsen u. a. auch chronik.LE durch die Bereitstellung von Informationen und Gespräche begleitete. Gemeinsam wurde ein Positionspapier erarbeitet, in dem neben einer Situationsbeschreibung konkrete Handlungsvorhaben für ein „lebenswertes Taucha“ (Runder Tisch 2019) dargelegt wurden. Das Positionspapier wurde 2020 im Rahmen einer öffentlichen Veranstaltung vorgestellt, an der auch der Bürgermeister und einige Stadträt*innen teilnahmen.

Aus dem Umfeld von SAfT gründete sich im Jahr 2019 die Schüler*innengruppe DuFTE („Demokratie und Freiheit, Toleranz erleben“). Die Gruppe möchte u. a. ein alternatives Angebot für Jugendliche in Taucha etablieren. Insbesondere die Schaffung alternativer Räume und Aktivitäten ist für Jugendliche in kleinstädtischen Regionen von Relevanz. Ihnen wird dadurch die Selbstorganisation und -ermächtigung abseits rechtsextremer Jugendkulturen ermöglicht. Das politische Engagement und die Unterstützung werden in Taucha folglich in Form selbstläufiger Strukturen aus einem Teil der Zivilgesellschaft heraus geleistet, die dem, was wir als reflexive Stadtgesellschaft verstehen, Vorschub leistet. Durch die Vernetzungsarbeit können progressive zivilgesellschaftliche Kräfte gebündelt werden, um der feindseligen Normalität langfristig entgegenzutreten.

Fazit

Mit den dargestellten Praxen der Dokumentations- und Recherchearbeit, einer kritischen Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, der Bereitstellung von Analysen in der Reihe Leipziger Zustände sowie der Vernetzung mit zivilgesellschaftlichen Akteur*innen kann chronik.LE die Potentiale einer reflexiven Stadtgesellschaft verstärken. Nur eine mündige Zivilgesellschaft, die der feindseligen Normalität mit Widerspruch begegnet und damit einer „harmonisierenden Gemeinschaftlichkeit“ (Grau/Heitmeyer 2013: 32f.) entgegentritt, kann dauerhaft zur Schwächung von Ungleichwertigkeitsideologien beitragen. Die ehrenamtlich geleistete Dokumentation stellt dafür die Grundlage dar: Aus Alltagserfahrungen heraus werden konkrete Ereignisse Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit in Propaganda und Gewalttaten identifiziert und analysiert. Dazu werden dokumentierte Ereignisse aufbereitet und für die weiterführende Praxis anschlussfähig gemacht (Beratungen von Betroffenen, Analysen und Öffentlichkeitsarbeit). Erste Versuche, über computergestützte Analyseverfahren qualitative wie quantitative Auswertungen der dokumentierten Fälle vorzunehmen (Mayer 2021), zeigen das Potenzial einer engen Verschränkung von Wissenschaft und Praxis.

 

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