Prävention als sozialpädagogisches Mittel gegen Ungleichheitsideologien

Nach dem Konstruktivismus baut ein Individuum sein Weltbild von Kindheit an allmählich auf. Vorurteile werden bereits in jungen Jahren in der Familie und im sozialen Umfeld gebildet. Individuen neigen dazu, in ihren Denkprozessen die Komplexität von Sachverhalten zu reduzieren und in einfachen Kategorien zu denken. Es ist eine wichtige sozialpädagogische Aufgabe, bei Kindern und Jugendlichen Ängste gegenüber anderen Kulturen abzubauen. Ein Ziel ist die Entwicklung einer differenzierten Art zu denken. Es ist notwendig, kontinuierlich und konsequent gegen Ungleichheitsideologien vorzugehen. Die Erlebnispädagogik sowie Schulprojekte sind in diesem Zusammenhang wirkungsvoll. Eine breit gefächerte Demokratieerziehung und die wiederholte Behandlung der Menschenrechte in verschiedenen Jahrgangsstufen sind unumgänglich.

Konstruktivistische Sicht der Ungleichheitsideologien

Individuen denken und handeln in der Art und Weise, die mit dem bereits vorhandenen Weltbild kompatibel ist und die sie „zum erwünschten Ziel“ führt (von Glasersfeld 2016: 29f.). Sie nehmen ihre Umwelt nicht objektiv wahr, sondern konstruieren ihre eigene Wirklichkeit der Umwelt und Ereignisse (ebd.: 33). Nach dem Konstruktivismus baut ein Individuum sein Weltbild von Kindheit an auf bereits vorhandenen subjektiven Kenntnissen, Deutungen und Erfahrungen allmählich auf. Auf dieser Basis entwickeln Kinder in unmittelbarer Interaktion mit ihrer Umgebung ihre Identität:

Im Gegensatz zum Tier nun hängen beim Menschen die wichtigsten Voraussetzungen des Gemeinschaftslebens – die technischen Mittel der Produktion, die Sprache samt dem von ihr ermöglichten Begriffsgefüge, die Moral sowie sonstige Regeln aller Art – nicht mehr von innerlich verankerten, fertig ererbten Abläufen ab, die durch die Begegnung mit Dingen und Mitmenschen automatisch ausgelöst würden, sondern von Verhaltensweisen, die durch eine von Generation zu Generation fortgesetzte Übermittlung von außen [...]. (Piaget 1975: 11f.)

Die eigenen bereits internalisierten Wertvorstellungen, Normen und Einsichten dienen den Urteils- und Handlungsprozessen als Basis (von Glasersfeld 2016: 35f.). Von der Gesellschaft wird dem Kind in seinem Entwicklungsprozess eine Identität gegeben und sie akzeptiert die Identität dieses Kindes. Es entsteht dadurch eine Gruppenidentität und es werden Gruppengrenzen gebildet (Auernheimer 1996: 142f.). Kinder können die Andersartigkeit der Kulturen sowie andere Lebensarten voneinander unterscheiden, sie sind in ihren Denkmustern flexibel und lernfähig. Diese Flexibilität nimmt mit steigendem Alter ab und Gedankenmuster verfestigen sich kontinuierlich. Dementsprechend liegt bei der Bekämpfung von Ungleichheitsideologien der Schlüssel zum Erfolg in der schulischen und sozialpädagogischen Arbeit.

Individuen neigen dazu, die Komplexität von Sachverhalten zu reduzieren und in einfachen Kategorien zu denken. Ungewöhnliche neue Eindrücke, etwa von fremden Personen, werden mühevoll verarbeitet und der Verstand neigt dabei zu Fehlinterpretationen. Wenn dieser Umstand mit „einem Mangel an Informationsverarbeitungskapazität“ einhergeht, entstehen Stereotypen, Vorurteile und Ängste (Auernheimer 1996: 140f.). Vorurteile werden bereits in jungen Jahren in der Familie und im sozialen Umfeld gebildet und verinnerlicht (ebd.: 142). Wenn eine fremde Kultur einmal negativ kategorisiert wird, kann diese negative Einstellung nicht nur durch das Verhalten und die Wertvorstellungen der fremden Kultur gestärkt werden. Allein zum Beispiel die Hautfarbe oder ein langer Bart kann die ablehnende Haltung gegenüber Fremden durch die bereits vorhandenen Vorurteile begünstigen (Apeltauer 1996: 774). Hier setzen die rechtsorientierten Organisationen an und gewinnen Jugendliche als Mitglieder oder Sympathisant:innen. „Es ist ihr Kerngeschäft, Pessimismus und irrationale Ängste zu mobilisieren und zu schüren“ (Quent 2020: 180). Die pädagogische und soziale Arbeit hat dies zu berücksichtigen und zu versuchen, die Ängste der Jugendlichen in Bezug auf andere Kulturen abzuschwächen. Es gibt in der pädagogischen Arbeit bereits bewährte Methoden und Inhalte, dieses Problem anzugehen.

Prävention als pädagogisches Mittel

Entwicklungsbedingt sind Jugendliche durch ihre kritische Haltung gegenüber gesellschaftlichen Normen und durch ihre rebellische Art für Ungleichheitsideologien empfänglich. Es besteht die Gefahr, sich Individuen und insbesondere Jugendlichen gegenüber, die anders denken und handeln, intolerant zu verhalten (Logvinov 2015: 21). Jugendliche neigen altersbedingt zu diskriminierendem Verhalten (Auernheimer 1996: 142). „Zugleich vermögen es junge Menschen nicht in jeder Situation, die Kosten des abweichenden Verhaltens einzuschätzen, obgleich das Streben nach dem Austesten der Grenzen dieser Entwicklungsphase immanent ist“ (Logvinov 2015: 21). Dies zeigt, wie wichtig es ist, in der pädagogischen und sozialen Arbeit kontinuierlich und konsequent gegen Ungleichheitsideologien vorzugehen. In diesem Kontext sind die Demokratieerziehung und die Behandlung der Menschenrechte in verschiedenen Jahrgangsstufen unumgänglich.

Die soziale Arbeit mit jungen Menschen und der Unterricht in der Schule sind die wichtigsten Vehikel im Kampf gegen Ungleichheitsideologien. In diesem Alter lassen sich die Grundsteine für die spätere Entwicklung in Bezug auf eine tolerante Haltung gegenüber andersdenkenden und -handelnden Individuen legen. Zudem lassen sich bereits festgefahrene Denkweisen und Haltungen mit steigendem Alter schwer ändern. Ein Individuum hat zwar in jedem Alter ein Entwicklungspotenzial, aber die Entwicklung der Denk- und Handlungsmuster ist in jungen Jahren einfacher.

Die Schulsozialarbeit und die politische Bildung haben die Aufgabe, bei Kindern und Jugendlichen Ängste gegenüber anderen Kulturen abzubauen und die „Informationsverarbeitungskapazität“ auszubauen. Prävention gegen Ungleichheitsideologien kann die konstruktivistische Eigenschaft der menschlichen Lernprozesse nutzen. Es ist unumgänglich, ein differenziertes kulturelles sowie politisches Denken und Empathie durch die Beschäftigung mit Texten, Filmen oder Schulprojekten zu fördern. In sozialpsychologischen Experimenten konnte belegt werden, dass durch gemeinsame Aufgaben, die eine Gruppe Jugendlicher zusammen bewältigt, Vorurteile gegenüber fremden Gruppen abgebaut werden können. Wettbewerbe zwischen den Gruppen führen hingegen zur Bildung weiterer Vorurteile (Auernheimer 1996: 143). Daher ist es sinnvoll, dass Jugendliche aus unterschiedlichen Kulturkreisen an gemeinsamen Aufgaben arbeiten.

Das Trainieren der Empathiefähigkeit stärkt die Bereitschaft, fremde Kulturen besser kennenzulernen. Nach Apeltauer gibt es „einen Bedarf an systematischem Wissen und an der Entwicklung von Grundfertigkeiten für diesen Bereich“ (Apeltauer 1996: 773). Um Ungleichheitsideologien längerfristig entgegenzusteuern, gilt es im Grundschulalter mit der politischen Bildung anzufangen und interkulturelle Kompetenzen aufzubauen. Damit bleibt bereits in jungen Jahren wenig Raum für die Konstruktion von Vorurteilen und Ängsten. Schule kann die Kontaktbereitschaft fördern und Lernenden beibringen, dass verschiedene Gemeinschaften verschiedene Kulturen und Verhaltensregeln haben, die das Leben bereichern können. Es ist nach der konstruktivistischen Theorie zu erwarten, dass bei der interkulturellen Interaktion Unsicherheiten entstehen. Diese lassen sich durch geplante Begegnungen reduzieren. Die Schule hat demnach die Aufgabe, die Kontaktbereitschaft und -fähigkeit im interkulturellen Kontext zu fördern. Die Bedeutung von Pluralität in der Gesellschaft kann in verschiedenen sozialpädagogischen und unterrichtlichen Projekten, z. B. durch das Projekt Dialog der Kulturen, spielerisch erarbeitet werden. Unsicherheiten lassen sich durch Interaktionen und Handlungen in Form gemeinsamer positiver Aktivitäten reduzieren. Die Erlebnispädagogik ist in diesem Zusammenhang ein gutes Vehikel. So können die Lernenden erfahren, dass kulturelle Vielfalt auf verschiedenen Ebenen für ein harmonisches gesellschaftliches Leben förderlich sein kann.

In einem Kulturkreis werden Stereotype über vermeintlich typische Verhaltens- oder Handlungsmuster von Individuen aus anderen Kulturkreisen erzählt. Diese implizieren ein Konfliktpotenzial und sind ein Hindernis für die interkulturelle Kommunikation. Ein Ziel der sozialpädagogischen Projekte sowie des Deutsch-, Politik-, Religion- und Ethikunterrichtes sollte sein, dass sich Jugendliche mit Selbst- und Fremdwahrnehmung eingehend beschäftigen. So können Ängste und Ressentiments gegenüber Individuen aus anderen Kulturen abgebaut werden.

Zum menschlichen Leben gehören bestimmte Regeln, Routinen und Rituale. Sie bilden eine Art soziale Praxis, deshalb sind sie im Leben sehr wichtig. Schulen haben ebenso ihre Regeln und Rituale in ihrer Praxis – etwa Feierlichkeiten zum Schulanfang oder Schulabschluss usw. Durch bestimmte Regeln, Rituale und Wiederholungen ist eine Rhythmisierung des Verhaltens eines Kindes möglich und es lässt sich in der Schule eine Bindungskraft herstellen. Kinder können so die nötige soziale Ordnung einer Schule oder Klasse besser verstehen. Wenn man Kindern Regeln und Rituale sinnbezogen beibringt, können sie diese mit Spaß praktizieren. Rituale, z. B. Montagsmorgenkreise, Geburtstagsfeierlichkeiten oder Klassenratsstunden, können in den Klassenräumen gezielt dazu eingesetzt werden, um interkulturelle Kompetenzen von Kindern und Jugendlichen zu fördern.

Das Centrum für angewandte Politikforschung CAP der Ludwig-Maximilians-Universität München führte ein Projekt durch, um bei Kindern den respektvollen Umgang mit Menschen aus anderen Kulturen zu fördern (Bundesministerium für Familie 2018: 28). Im Rahmen dieses Projektes diskutierten die Lernenden einer vierten Klasse über das Zusammenleben in einer multikulturellen Gesellschaft und erarbeiteten Ideen für ein bereicherndes Zusammenleben. Solche Projekte müssen weiterentwickelt und flächendeckend durchgeführt werden.

Ausblick

In den Klassenräumen bilden die Lernenden mit unterschiedlichem kulturellen Hintergrund nicht selten ihre eigenen Gruppen und kommunizieren weniger mit den Mitgliedern anderer Gruppen. Die Verständigungsprobleme der Menschen aus unterschiedlichen Kulturen, die in derselben Gesellschaft zusammenleben, werden in den Klassenräumen oft nicht überwunden. Es besteht ein großer Förderbedarf in der Schule, um in der multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft, trotz bestehender gravierender Unterschiede in der Denk- und Lebensweise, ein friedliches Zusammenleben zu ermöglichen. Auch wenn es schwierig ist, Ängste und Vorurteile gegenüber anders sozialisierten Menschen abzubauen, kann in der Schule ein Bewusstsein für Toleranz entwickelt werden: „Bildung ist das wirksamste Mittel gegen Intoleranz“ (UNESCO-Toleranzdeklaration 1995). Wenn keine Diskussion über Vorurteile und Ängste stattfindet, wenn die Kompetenz „Empathie“ nicht gefördert wird, wird das harmonische Zusammenleben in der Gesellschaft beeinträchtigt.

Laut der UNESCO-Toleranzdeklaration anlässlich der 28. Gewaltkonferenz von 1995 bedeutet Toleranz: „Respekt, Akzeptanz und Anerkennung der Kulturen unserer Welt, unserer Ausdrucksformen und Gestaltungsweisen unseres Menschseins in all ihrem Reichtum und ihrer Vielfalt. Toleranz ist Harmonie über Unterschiede hinweg.“ Denk-, Gewissens- und Religionsfreiheit stehen im Mittelpunkt der Toleranzdefinition. Laut obiger Deklaration kann Toleranz u. a. durch Wissen über andere Menschen, Offenheit und Kommunikation mit Menschen, die andere Denkstrukturen haben, gefördert werden, d. h., interkulturelle Kommunikation ist in der Toleranzerziehung bedeutend. Die Akzeptanz von Fremden und ihrer Überzeugungen ist nicht angeboren, sondern muss erlernt werden. Die Förderung „der knappen Kompetenz Toleranz“ (Fritzsche 2004: 3f.) ist notwendig, damit Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen und Überzeugungen in dieser Gesellschaft unter wechselseitiger Achtung leben können. Dies zu fördern, ist in erster Linie die Aufgabe von Bildung.

 

Literatur

Apeltauer; Ernst (1996): Lernziel: Interkulturelle Kommunikation. In: Wierlacher, Alois/Stötzel, Georg [Hrsg]: Blickwinkel: Kulturelle Optik und interkulturelle Gegenstandskonstitution. Iudicium Verlag: München, S. 773–786.
Auernheimer, Georg (1996): Einführung in die Interkulturelle Erziehung. Primus Verlag: Darmstadt.
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

(2018): Projekte zur Prävention von Rassismus und rassistischer Diskriminierung im Bundesprogramm „Demokratie leben!“. Online: www.vielfalt-mediathek.de/wp-content/uploads/2020/12/bmfsfj_projektezurpraeventionvonrassismusundrassistischerdiskriminierug_vielfalt_mediathek.pdf [26.04.2021].


Fritzsche, K. Peter (2004): Toleranz in Zeiten des Terrors. In: Lademacher, Horst/Loos, Renate/Groenveld, Simon [Hrsg.]: Ablehnung – Duldung – Anerkennung: Toleranz in den Niederlanden und in Deutschland. Ein historischer und aktueller Vergleich. Waxmann Verlag: Münster, S. 1–12.
Logvinov, Michail (2015): Radikalisierung und Gewalt in rechtsextremen Milieus: Versuch einer multifaktoriellen Analyse. Forum Kriminalprävention 3/2015. Online: 2015-03_radikalisierung_u_gewalt_in_rechtsextremen_milieus.pdf(forum-kriminalpraevention.de) [ 29.05.2021].
Piaget, Jean (1975): Das Recht auf Erziehung und die Zukunft unseres Bildungssystems. Piper Verlag: München.
Quent, Matthias (2020): Deutschland rechts außen: Wie die Rechten nach der Macht greifen und wie wir sie stoppen. Piper Verlag: München.
UNESCO-Toleranzdeklaration

anlässlich der 28. Gewaltkonferenz von 1995: Erklärung von Prinzipien der Toleranz. Online: www.unesco.de/erklaerung_toleranz.html [26.04.2021].


Von Glasersfeld, Ernst (2016): Konstruktion der Wirklichkeit und des Begriffs der Objektivität. In: Einführung in den Konstruktivismus. Piper Verlag: München, S. 9–39.