Wozu Rassismus?

Auch in der deutschen Öffentlichkeit wird seit geraumer Zeit offen, kontrovers und hitzig über Rassismus debattiert. Im Gespräch über sein neues Buch „Wozu Rassismus?“ geht Aladin El-Mafaalani u. a. den Fragen nach, was „strukturelle“ und „institutionelle“ rassistische Diskriminierung bedeuten, wie sie definiert werden, was Rassismus mit gesellschaftlichem Zusammenhalt zu tun hat und welche Rolle Konflikte und Konfliktfähigkeit dabei spielen.

Amani Ashour:

Ich freue mich sehr, Sie im Rahmen der Fachtagung „Gesellschaftlicher Zusammenhalt & Rassismus“ begrüßen zu dürfen und mit Ihnen über Ihr kürzlich erschienenes Buch „Wozu Rassismus – von der Erfindung der Menschenrassen bis zum rassismuskritischen Widerstand“ sprechen zu dürfen. Sie schreiben, dass Sie „Wozu Rassismus“ geschrieben haben, um einem größer und dadurch niveauloser werdenden Diskurs eine wissenschaftlich fundierte Basis zu geben. Gab es einen weiteren spezifischen Anlass, der dazu geführt hat, dass Sie das Buch geschrieben haben oder hat sich das Projekt länger angebahnt?

Aladin El-Mafaalani:

Ja, es stimmt schon, im Buch rekonstruiere ich das leidige Thema einer jeden Bewegung bzw. von jeder Form von Mainstreaming: dass das Diskursniveau meist sinkt, dadurch dass mehr Menschen an einem Diskurs teilhaben. Das ist logisch, eigentlich fast schon notwendig. Der Mord an George Floyd im Mai 2020 war der zentrale Auslöser dafür, dass der Diskurs in Deutschland ein Mainstream-Thema wurde, und so habe ich mich mit den Rahmenbedingungen in Deutschland beschäftigt, die die intensive Auseinandersetzung begünstigten.

Amani Ashour:

Zentral in Ihrem Buch ist der Blick auf strukturelle Diskriminierung, die an drei Merkmalen festgemacht werden kann: Es geht nicht um Individuen, sondern um Strukturen; es geht also auch nicht um Intentionen von Individuen, sondern um die Wirkung von Abläufen und Prozessen; und es gibt in der Gesellschaft kein Jenseits der diskriminierenden Strukturen. Die institutionelle Diskriminierung ist ein Sonderbereich innerhalb der strukturellen Diskriminierung. Sie beschreiben anhand festgelegter Kriterien, wie man ein Risikoprofil für Institutionen erstellen könnte. Warum so ein Vorschlag und können Sie das Risikoprofil genauer beschreiben?

Aladin El-Mafaalani:

Ich unterscheide drei strukturelle Bereiche: kulturelle Strukturen, ökonomische Strukturen und normative Strukturen. Es lässt sich metaphorisch als Wellenbewegung beschreiben: Jeder Fels ist eine Institution und es geht darum nachzuvollziehen, wie das Strukturelle an der Institution bricht. Das Strukturelle ist in jeder Institution deshalb anders wirksam, weil jede Institution anders ist und dieses Anderssein, bezogen auf die allgemeinen Rahmenbedingungen, systematisiere ich mittels fünf Clustern. Institutionen unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht und meiner Meinung nach ist die Funktion bzw. der Auftrag einer Institution am entscheidendsten. Nehmen wir als Beispiel die Polizei oder andere Sicherheitsbehörden: Hier ist der Auftrag nicht Gerechtigkeit oder Fairness, vielmehr geht es primär um die Wiederherstellung oder Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung und es gilt das Verhältnismäßigkeitsprinzip. Dieses Prinzip besagt im verwaltungsrechtlichen Sinne, dass Ungerechtigkeiten systematisch in Kauf genommen werden, aber dass sie verhältnismäßig sein sollen. Daran merkt man, dass Fairness und Gerechtigkeit kein Kriterium sind, sondern eigentlich nur Bremsen – klar, man muss Fairness und Gerechtigkeit ein bisschen berücksichtigen, aber der Auftrag ist ein anderer und das ist automatisch ein großes Risiko. Und: Es gibt Vorurteile in der Gesellschaft und Menschen mit Macht beurteilen andere Menschen – in unserem Beispiel ohne den Fokus Fairness und Gerechtigkeit. Hinzu kommen ökonomische Strukturen: Diejenigen, die von Rassismus betroffen sind, sind häufiger in prekären Lagen und deshalb häufiger in Kontakt mit der Polizei. Das wiederum führt zu einem zusätzlichen Problem. Am zweitwichtigsten sind Prozesse und ganz besonders, wie transparent Prozesse sind. Wenn Prozesse wie bei der Polizei oder anderen Sicherheitsbehörden intransparent sind und Ungleichverhältnisse haben, ist das noch mal ein großes Risiko – und zwar unabhängig davon, wer Innenminister ist, wer die Polizisten sind usw. Das Risikoprofil dieser Institution ist enorm, es leuchtet rot – und zwar immer. Übrigens würde ich nirgendwo grün sehen, aber es gibt andere Institutionen, bei denen es weniger stark ausgeprägt ist.

Amani Ashour:

Spannend finde ich auch, wie Sie Privilegien im Erkennen von Diskriminierung deuten. Privilegien sind bei Ihnen nicht nur Vorteile, die Privilegierte haben, sondern auch wichtig für Diskriminierte, um zu erkennen, wie sie diskriminiert werden. Ich zitiere Sie nun: „Privilegierte PoCs können nicht nur latente Form von Rassismus identifizieren, sondern für sie ist auch die Intention nachrangig. Während also offener und auch intendierter Rassismus von allen wahrgenommen und problematisiert werden würde, ist latenter und/oder nicht-intendierte Rassismus weitgehend nur hochgebildeten und statushöheren PoC als solcher zugänglich.“ (El-Mafaalani 2021: 95) „Es setzen sich also in aller Regel nicht die Benachteiligten gegen Benachteiligung ein, sondern hochgebildete und statushohe Menschen, die einer benachteiligten Gruppe angehören oder ein benachteiligendes Merkmal aufweisen.“ (ebd.: 133) Können Sie diesen Ansatz ausführen?

Aladin El-Mafaalani:

Es lässt sich historisch konstatieren: Diejenigen, die am stärksten ausgegrenzt werden, rebellieren in der Regel nicht, sie prägen in der Regel nicht die Diskurse und selbst das Protestieren geht über einen längeren Zeitraum nicht von der diskriminierten Gruppe aus. Akteure, die eine solche Bewegung antreiben, sodass es nachhaltig zu sozialem Wandel und Veränderungen kommt, sind in aller Regel Personengruppen, die in irgendeiner Hinsicht privilegiert waren. Nehmen wir wieder ein Beispiel, die „Black Lives Matter“-Bewegung: Das sind BPoCs, also überwiegend Schwarze Menschen, aber tendenziell hoch gebildet und häufig ökonomisch in einer sehr guten Position. Das bedeutet nicht, dass der „Black Lives Matter“-Diskurs deswegen disqualifiziert wäre, aber die richtig Ausgegrenzten verstehen die Diskussion tendenziell eher nicht. Das hat nichts mit Rassismus zu tun. Es wäre auch bei feministischen Diskussionen so, dass eine alleinerziehende Mutter, bei der es akut existenziell an allem mangelt, nicht mitbekommt, was für eine Diskussion über das Gendern geführt wird. Es ist interessant, dass sie das nicht mitbekommen und wenn sie es mitbekommen, dass sie es nicht verstehen – und daran sieht man, wie unsere Gesellschaft ist: Das ist kein Defizit von rassismuskritischen oder feministischen Akteuren, sondern so ist unsere Gesellschaft. Man muss Bestimmtes geschafft und erreicht haben, um in der Lage zu sein, Diskurse mitzuführen, Öffentlichkeit herzustellen usw. Man braucht einen sozialen Status, damit die anderen einem überhaupt zu hören und dann muss man auch noch ein Kollektiv bilden. Und wenn man das alles macht, dann wird man Gegenstand der Kritik à la: „Ihr macht Identitätspolitik!“ So wird der Diskurs noch mehr zu einem Rand-Diskurs, wo es um fragmentierte Interessen geht, und leider passiert es dann sehr häufig, dass der Klassenkonflikt, der in jedem dieser Diskurse stecken könnte, abgespalten wird.

Amani Ashour:

Sie schreiben, dass es die weißen Männer gibt, die das Privileg haben, in keine Kategorie gedrängt zu werden. Was genau ist das Problem mit den „alten weißen Männern“ oder mit dieser Formulierung?

Aladin El-Mafaalani:

Die Formulierung ist nicht sinnvoll, wenn man sie wörtlich meint. Man muss sich im Klaren darüber sein, die offene Gesellschaft, die wurde auch ermöglicht von alten weißen Männern, also darum geht es nicht, sondern es ist ein Bild dafür, dass man in keiner Kategorie steckt. Ein Beispiel: Wenn ein weißer Mann aggressiv ist, weil Menschen eben manchmal aggressiv sind, dann ist das kein Symptom für eine schwere Erkrankung, sondern das ist eine typische Variante menschlichen Verhaltes. Bin ich aber aggressiv, ist das ein „Aladin“. Bei mir gibt es eine kollektive Kategorie, bei weißen Männern gibt es diese kollektive Kategorie nicht. Daran sieht man, dass sie historisch gesehen die dominante Gruppe sind, und diese Gruppe hat jetzt ein Problem. Die Gruppe fühlt Verlust und das ist nicht ganz verkehrt. Jüngere, heute sozialisierte Jungs und Männer kommen damit tendenziell besser klar. Aber nehmen wir jetzt wirklich die Figur alter weißer Männer: Sie müssen damit leben, dass sie sich nicht mehr wie ein Elefant im Porzellanladen verhalten können und dass sie jetzt auch tun müssen, was alle anderen schon immer gemacht haben: vorsichtig sein. Wenn man aber bisher sein Leben geführt hat und nie vorsichtig sein musste, sondern ganz im Gegenteil lospreschen konnte und sogar noch belohnt wurde, dann hat man jetzt ein Problem. Das Thema Vorsicht können wir vielleicht noch später aufgreifen.

Stellen wir uns nur vor, wie das früher war: In einem Raum oder an einem Tisch waren zehn weiße Männer und da endete meine Freiheit, wo die andere anfing. Die Männer dachten aber recht ähnlich, deswegen kamen sie sich nicht so sehr in die Quere und hatten viel Beinfreiheit und Armfreiheit. Heute sind nicht mehr 10, sondern 25 am Tisch und darunter sind Frauen und PoCs – unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Interessen. Jetzt gibt es also mehr als doppelt so viele Enden ihrer Freiheit und das fühlt sich für die Gruppe, die bisher rumwirbeln konnte, ohne jemandem direkt ins Gesicht zu hauen, an, als könnten sie nicht mehr sagen, was sie sagen möchte. Das, was jetzt passiert, bedeutet: Symbolische Privilegien gehen tatsächlich verloren, zum Teil auch materielle. Als Soziologe würde ich zusammenfassen: Na klar, alle kommen gut damit zurecht, wenn wir einer anderen Person gegenüber entgegenkommend sind, weil wir es wollen, aber wenn die Verhältnisse uns dazu zwingen, dass wir einen kleineren Spielraum haben und den anderen entgegenkommen müssen, und eben nicht weil wir es gewollt haben, dann haben Menschen damit ein Problem.

Amani Ashour:

Ich möchte auf Ihr Angebot eingehen, über „Vorsicht“ zu sprechen. Was kann man denn alles unter „Vorsicht“ verstehen?

Aladin El-Mafaalani:

In offenen Gesellschaften werden Konflikte wahrscheinlicher. Das muss man verstehen, sonst sind wir die ganze Zeit unglücklich, weil wir andauernd Konflikte sehen und denken, es läuft etwas verkehrt. Dabei ist es genau richtig. Zugleich hängen offene Gesellschaften davon ab, dass die Menschen das nicht ausreizen. Wenn wir andauernd mit vielen Menschen jedes Mal anecken und jedes Mal aufs Neue anecken, dann haben wir bald alle viele blaue Flecken. Wenn das noch 10, 20, 30 Jahre so weitergeht, liegt eine sehr ungemütliche Zeit vor uns. Das bedeutet: Vorsicht im Sinne von Vorsicht vor unnötigen Streitereien und Konflikten. In einer offenen Gesellschaft sollte so wenig wie möglich „nicht gesagt werden dürfen“, aber man sollte so wenig wie möglich von dem, was man dürfte, ausreizen, weil wir sonst permanent einen Overload haben. Der gesellschaftliche Zusammenhalt lebt von Konflikten und deswegen sollte man Konflikte annehmen, sich sogar über manche freuen, denn diese Konflikte sind auch entstanden, weil bestimmte emanzipatorische Bewegung so erfolgreich waren. Wichtig zu bedenken ist dabei: Wir müssen uns darüber klar sein, dass wir in einer ungerechten Gesellschaft leben. Und wenn wir ein Problem mit dem Bestehenden haben, dann liegt das auch am Zusammenhalt, der das Bestehende so lange zusammengehalten hat. Das Aufbrechen und Thematisieren rassistischer Strukturen hat also einen Großteil des gesellschaftlichen Zusammenhalts erodieren lassen. Die Vorstellung, gesellschaftlicher Zusammenhalt sei per se etwas Gutes, geht aus meiner Perspektive letztlich am eigentlichen Problem vorbei.

Amani Ashour:

Müssen wir also konfliktfähiger werden und dafür umdefinieren, was Konflikte für uns bedeuten?

Aladin El-Mafaalani:

Absolut! Das Wichtigste überhaupt ist ein Bewusstsein dafür, dass wir uns die Konflikte, die wir haben, redlich verdient haben – und zwar nicht aus Blödheit, vielmehr war es harte Arbeit, dahin zu kommen. Mir fallen wenige gesellschaftliche Konflikte ein, die nicht vor dem Hintergrund von echt positiven Entwicklungen entstanden sind. Ich finde den Begriff Konflikt viel besser als Polarisierung oder Spaltung. Immer, wenn Menschen über Spaltung und Polarisierung sprechen, erscheinen mir die Begriffe wenig hilfreich und analytisch unpräzise, aber klar: Wenn solche Begriffe oder Diagnosen kommen, dann handelt es sich häufig um Konflikte. Konflikte sind Resultat echter Prozesse. Wir müssen einsehen, dass die offene Gesellschaft eine Gesellschaft ist, um das mit Ulrich Beck zu sagen, die permanent mit ungewollten Nebenwirkungen, medizinisch gesprochen, klarkommen muss. Die offene Gesellschaft erreicht ihre Ziele, doch das Problem ist: Es gibt so viele Nebeneffekte, an die keiner vorher gedacht hat, dass die offene Gesellschaft permanent mit Nebenfolgen konfrontiert ist und gar nicht mehr erkennt, was alles Geniales passiert ist. Die Vordenker der offenen Gesellschaft hätten nie geglaubt, dass wir mal in so einer Gesellschaft leben werden, nicht nur in Hinblick auf Wohlstand, sondern auch in Hinblick auf die Liberalität!

Konflikte sind also überwiegend Ergebnis positiver Entwicklungen einer integrativen offenen Gesellschaft. Wichtig dabei ist es, Konflikte auf eine günstige Weise auszutragen. Vorsichtig zu sein ist dafür sinnvoll, zudem braucht es eine komplexe Konfliktkultur, die in Deutschland noch nicht ausgeprägt ist. Das, was ich heute hier sehe, würde ich als hitzig geführte „Anstreitkultur“ bezeichnen. In den USA dagegen hat viele Jahre eine Konfliktvermeidungsstrategie überwogen. Dadurch sind zwei parallele Welten entstanden, zwei parallele Diskurse. Manchmal gibt es in den USA Ereignisse, bei denen sich die Amerikaner:innen gegenseitig wahrnehmen, ansonsten haben die Menschen eigene Fernsehsender, eigene Algorithmen usw., alles läuft parallel. Die andere Seite wurde zu lange ignoriert, lächerlich gemacht, es wurden keine richtigen Diskurse geführt und deswegen gibt es eine wirklich auseinandergehende Lebensrealität.

Amani Ashour:

Wie hängen nun Strukturen und Individuen in dieser Diskussion zusammen?

Aladin El-Mafaalani:

Das ist eine sehr komplexe Fragestellung, die kann ich so gar nicht beantworten. Unsere Gesellschaft krankt eher daran, die Teilhabe von vielen Menschen zu organisieren und zu ordnen und weniger daran, dass unsere Gesellschaft es nicht schafft, Teilhabe zu erzeugen. Das Grundgesetz erzeugt bestimmte Konflikte – nein, es löst sie nicht, sondern es erzeugt diese. Wir haben mit dem Grundgesetz einen analogen Algorithmus, der permanent Konflikte erzeugt, je näher wir uns dem Grundgesetz in der Empirie annähern, das ist unser Problem. Das Grundgesetz hilft bei der gesellschaftlichen Realität heute gar nicht, es hat diese ganzen Konflikte überhaupt erst zugelassen. Das sind die bereits angesprochenen Nebenfolgen. Menschen wie ich, die über 40 sind, haben die beschaulichen 80er-Jahre und dann die 90er-Jahre mitbekommen – und damit in der eigenen Biografie erlebt, wie sich diese enorme Entwicklung zur offenen Gesellschaft vollzogen hat. Frauen waren damals kaum in Führungspositionen, heute sind sie es immer mehr. Die Art und Weise, wie über Sexualität und Geschlechter gesprochen wird, hat sich gewandelt, ebenso die Teilhabe von Migrant:innen. Wir sind eine offene und liberale Gesellschaft geworden im Vergleich zu den 90er-Jahren und das ist wirklich nicht lange her! Es gibt einen großen Harmoniedrang in Teilen der Bevölkerung und der beißt sich mit den Konflikten und geht mit dem Gefühl einher, dass der Zusammenhalt flöten geht. Ich bin mir nicht sicher, ob wir eine Krücke brauchen, einen Ersatz-Klebstoff. Vielleicht verstehen aber in zehn Jahren die dann 25- bis 35-Jährigen dieses Gefühl gar nicht mehr. Das wäre zumindest eine gute Auflösung, auf die wir heute vielleicht nicht kommen, weil wir glauben, wir bräuchten einen Ersatz. Die größte Herausforderung in diesem Jahrzehnt wird sein, wie Diskurse in einer fragmentierten digitalen Gesellschaft ausgetragen werden können. Die meisten Diskurse finden mittlerweile im Digitalen einen Anfang und ein Ende und schwappen dann in die analoge Welt. Die Art und Weise, wie die digitale Welt Einfluss auf Gesellschaft und gesellschaftlichen Zusammenhalt nimmt, ist meines Erachtens eine zentrale Frage.

Amani Ashour:

Vielen Dank, dann möchte ich Ihnen gern noch Fragen aus dem Zoom-chat stellen. Die erste lautet: Über welche kollektive Idee kann denn solidarischer Zusammenhalt entstehen? Sind es Kategorien wie ‚Volk‘ oder ‚Nation‘ oder sind diese nicht per se durch Ausschlussgedanken eher ungünstig?

Aladin El-Mafaalani:

Es gibt ein Problem, das Zygmunt Bauman beschrieben hat, am schönsten in seinem allerletzten Werk „Retrotopia“ kurz vor seinem Tod: Früher stand die Zukunft für Hoffnung, heute steht sie für Horror. Zygmunt Bauman legt dar, dass alle Ideologien, die in der Vergangenheit wirksam waren, immer gegen etwas gerichtet waren – sei es Volk oder Nation. Er beschreibt, dass es selbst die Europäische Union nur deshalb gibt, weil sie das überzeugendste Argument war, um zusammenzuhalten gegen China usw. Auch die besten Zeiten, bspw. der sozialen Marktwirtschaft, war bezogen auf ein „Gegen“. Eine große Herausforderung also ist, auch für die offene Gesellschaft, dass man eine neue Zukunftsperspektive braucht. Und Konflikte werden dann ein Problem, wenn wir keinen Kompass und kein Ziel haben. Wenn Menschen in der Gegenwart Konflikte sehen, dann gibt es Menschen, die sagen: „Früher war alles besser“. Das ist die Krise unserer Zeit und der Grund, warum ich die Einschätzung der wichtigsten theoretischen Soziolog:innen im Augenblick teile, dass man daran ein gutes Indiz für einen Epochenwandel erkennt. Wenn andauernd Krisen kommen und nicht mehr gehen und niemand es schafft, eine Zukunftsvision zu entwerfen, sondern die Vergangenheit schön geredet wird – und das ist so eine Situation, in der wir alles erreicht haben, was wir erreichen wollten und nur noch Nebenfolgen zu bearbeiten haben –, spricht viel dafür, dass wir mitten im Epochenwandel, einer Zäsur stecken und nicht wissen können, was am Ende dabei rauskommt.

Amani Ashour:

Eine weitere Frage im Chat lautet: Ist die zum Teil geäußerte Diagnose eines drohenden „conservative backlashes“ in Deutschland unzutreffend?

Aladin El-Mafaalani:

Konservative Akteure beschreibe ich als entscheidende Akteure in einer Gesellschaft, denn sie sind die Bremsen einer offenen Gesellschaft – und jeder weiß, man kann nur vernünftig fahren, wenn man sich nach den Bremsen richtet, nicht nach dem Gaspedal oder der PS-Zahl. Ein wirklich großes Problem in der offenen Gesellschaft besteht darin, und das nicht nur für Konservative, Traditionen zu bewahren. In meinem aktuellen Buch stelle ich deutlich heraus: Alles, was uns lieb und teuer ist, sogar die Aufklärung, die Entwicklung der Menschenrechte usw., ist in einer von Rassismus und Sexismus durchsetzen Zeit entstanden – im Prinzip wird jetzt alles umfassend kritisierbar. Ich würde in diesem Zusammenhang empfehlen, sich mit Natascha Strobls Buch „Radikalisierter Konservatismus“ zu beschäftigen – eine zugespitzte und spannende Analyse, denn Natascha Strobl geht in ihrem Buch anhand chronologischer Darstellungen der Frage nach, wie die konservative Partei in den USA und die konservative Partei in Österreich so weit nach rechts rutschen konnten und was genau eigentlich in den konservativen Milieus und Parteien passiert. Der Backlash ist eine Option, aber er funktioniert ganz offensichtlich nicht überall gleichermaßen und deshalb würde ich ihn auf keinen Fall ausschließen.