Einleitung

Inwieweit steht unsere Demokratie derzeit unter Druck? Zahlreiche Krisensituationen und damit verbundene Krisenerzählungen prägen das gesellschaftliche Leben. Alle Menschen sind unmittelbar und spürbar in ihrem Alltag durch die Auswirkungen tiefgreifender Veränderungen berührt: die Corona-Pandemie, die erhöhte Aufmerksamkeit für Klimawandelfolgen, der russische Angriffskrieg auf die Ukraine seit Februar 2022 und die Energiekrise fordern die Menschen aktuell in hohem Maße – ebenso wie die Politik, die staatliche Infrastruktur und ihre Institutionen. Als Indikator für die angespannte Lage gilt die „Verrohung der öffentlichen Diskurse“, v. a. enggeführt auf „Hate Speech“ im digitalen Raum, sowie die „Polarisierung der Gesellschaft“ generell, aber auch in Bezug auf spezifische Themen (etwa: Maskentragen ja/nein, Waffenlieferung ja/nein, Energiesparen ja/nein). Das derzeit erhöhte Protestgeschehen in diesem Land zeugt von einem hohen Druck aus der Bevölkerung auf Politik, der themenspezifisch und zugleich diffus verwoben ausgeübt wird. Dieser Druck lastet auf dem gesellschaftlich geteilten Grundverständnis und den Säulen der Demokratie.

Bei allem Verständnis für die Verunsicherung der Bevölkerung aufgrund der wahrgenommenen Bedrohungsszenarien und ihrer Komplexität gilt es, die Schwelle zur Demokratiefeindlichkeit und Prozesse der Demokratiegefährdung im Auge zu behalten. Jegliche gesellschaftlichen Entwicklungen, die mit Unsicherheiten und Unzufriedenheit in Teilen der Bevölkerung einhergehen, stellen ein geeignetes Einfallstor für rechten Populismus und antidemokratische Demagogie dar. Es ist ein Leichtes für Rechtspopulist*innen und Anhänger*innen von Verschwörungserzählungen, gegen „die da oben“ zu agitieren, wenn sich nachteilige Veränderungen im Alltag Einzelner mit althergebrachten Vorurteilen und Sündenbockerzählungen verbinden. Strategien der Raumnahme extrem rechter Akteur*innen und ihres parlamentarischen Arms erhalten durch die bloße Übernahme bestehender Unzufriedenheitsnarrative Aufwind.

Betroffene dieser Entwicklung sind all diejenigen, die sich für Demokratie und das Gelingen eines demokratischen Zusammenlebens, für demokratische Teilhabe und gegen demokratiefeindliche Ideologien einsetzen. So ist die demokratische Zivilgesellschaft angesichts der Krisenverdichtung zunehmend gefordert, sich gleichzeitig mit vielen Herausforderungen und deren Konsequenzen auseinanderzusetzen. Gehäuft werden zivilgesellschaftlich Engagierte, demokratische Politiker*innen auf allen Ebenen, Journalist*innen, Aktivist*innen, Behördenmitarbeitende sowie Wissenschaftler*innen und Ärzt*innen angefeindet, bedroht und angegriffen. Diese Angriffe stehen symptomatisch für den Druck, mit dem nicht nur einzelne Demokrat*innen und Institutionen konfrontiert sind, sondern auch die Demokratie als Staats-, Gesellschafts- und Lebensform an sich.

Der 12. Band der IDZ-Schriftenreihe dokumentiert und reflektiert, in welchen Bereichen und in welcher Form demokratische Akteur*innen und Prinzipien aktuell unter Druck geraten, beispielsweise durch Anfeindungen und Angriffe. Über diese Zustandsbeschreibung hinausgehend nehmen die Beiträge Einordnungen in die jeweiligen gesellschaftlichen Kontexte vor und unterbreiten Handlungsempfehlungen. Eine Vielzahl der Beiträge beschäftigt sich mit bestehenden Maßnahmen zum Schutz von Demokrat*innen, mit notwendigen Ansatzpunkten sowie mit positiven Beispielen, wie das Verbreiten extrem rechter Positionen eingedämmt werden kann und wie Einzelpersonen bzw. gesellschaftliche Akteur*innen geschützt und gewappnet werden können, um den „Druck auf die Demokratie“ zu verringern:

Teil I des Bandes widmet sich Angriffen auf demokratische Arbeit und demokratische Akteur*innen. Das Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft hat im Sommer 2022 die erste Befragung in Thüringen zu Erfahrungen mit Anfeindungen und Angriffen in der Kommunalpolitik verwirklicht. Viktoria Kamuf, Marc Blüml, Janine Dieckmann & Axel Salheiser stellen erste Ergebnisse vor und konstatieren: Vor allem verbale und schriftliche Beleidigungen und Bedrohungen gehören für viele Amtsträger*innen und Verwaltungsangestellte zum Arbeitsalltag. Peter Imbusch & Joris Steg wiederum legen die Ergebnisse einer 2021 durchgeführten Online-Befragung vor, in der Politiker*innen im bergischen Städtedreieck zu ihren Gewalterfahrungen befragt wurden. Sie zeigen, dass bereits ein Drittel der befragten Politiker*innen Gewalt erlebt hat und verbale Gewalt weitaus häufiger vorkommt als physische Gewalt. Marieluise Mühe untersucht in ihrem Beitrag, wie die AfD auf zivilgesellschaftliche Organisationen einwirkt. Sie fasst die Einflussversuche von rechts außen in Kategorien zusammen und erläutert, mit welcher Rhetorik die Angriffe unterlegt sind. Dass politisch und ehrenamtlich aktive Frauen, die sich kommunalpolitisch bzw. gleichstellungspolitisch engagieren, spezifischen Formen von Gewalt ausgesetzt sind, legt Wiebke Eltze dar und schlussfolgert: Ohne ausreichende Maßnahmen zum Schutz, ohne Solidarität und aktive Unterstützung stellen die Angriffe eine Gefahr für politisches und zivilgesellschaftliches Engagement von Frauen dar.

Die Beiträge des II. Teils setzen sich mit Angriffen auf demokratische Prinzipien auseinander. Im Rahmen eines transkribierten Foyergesprächs in Kooperation mit dem Deutschen Nationaltheater Weimar, das am 25. Mai 2022 stattfand, diskutieren Fritz Reusswig, Ida Loesche, Carel Mohn & Viktoria Kamuf u. a., warum die Infragestellung wissenschaftlicher Erkenntnisse für viele Menschen so attraktiv ist und wie Wissenschaft besser kommuniziert werden kann. Mit der „GegenUni“ und der „Hannah Arendt Akademie“ nehmen Christoph Haker, Lukas Otterspeer & Lukas Schildknecht zwei Fälle eines reaktionären Antiakademismus in den Blick. Abschließend bringen sie einen demokratisierenden Antiakademismus in Stellung, der sich nicht nur gegen die untersuchten reaktionären Positionen wendet, sondern auch gegen die bestehende Hochschule. Daniel Bartel führt im Gespräch mit Janine Dieckmann die wichtigsten Ergebnisse einer neuen Studie der Antidiskriminierungsstelle des Bundes aus, beschreibt konzeptuelle Aspekte und die gesellschaftliche Bedeutung von Antidiskriminierungsberatung. Dass rechte Hetze, Bedrohungen und Gewalt auch in Thüringen zum Alltag von Medienschaffenden gehören, die von rechten Versammlungen berichten, veranschaulichen Theresa Lauß, Franziska Schestak-Haase & Franz Zobel qualitativ mit Beispielen, u. a. vom sogenannten Fretterode-Prozess. Sie schließen mit der Vorstellung von Handlungsempfehlungen im Bereich des Opferschutzes sowie der Initiative schutzkodex.de.

Teil III beschäftigt sich mit Demokratiestärkung durch Beteiligung und Schutzmaßnahmen. Anton Brokow-Loga fokussiert die kommunale Beteiligungskultur und stellt Strategien dar, die Stadtverwaltungen und -gesellschaften im Zuge der Corona-Pandemie ergriffen haben. Er diagnostiziert eine gesellschaftliche Teilhabe-Krise und veranschaulicht davon ausgehend Handlungsspielräume zweier Thüringer Mittelstädte im peripherisierten Raum. Am Beispiel der von 2015 bis 2017 am Kyffhäuserdenkmal veranstalteten Kyffhäusertreffen des „Flügels“ diskutiert Julia Gilfert, wie Geschichtsorte in Deutschland einer Vereinnahmung durch politisch rechte Kräfte begegnen. Ihr vergleichender Blick auf den Landkreis als Denkmalinhaber und die lokale Zivilgesellschaft zeigt verschiedene Facetten im Umgang auf. Niklas Habbel, Alexandra Mehnert & Tobias Lehmeier machen deutlich, dass zivilgesellschaftliches Engagement immer wieder Sicherheitsrisiken ausgesetzt ist. Anhand von Überlegungen zum Thema Sicherheit in den Ausstiegs- und Distanzierungsberatungen aus der extremen Rechten legen sie dar, wie Bedrohungen und Risiken entgegengetreten werden kann.

Der Schwerpunkt des IV. Teils liegt auf Demokratiestärkung durch politische Partizipation und Bildung. Ulrike Geisler, Christin Fichtel & Melissa Alisch deuten gespaltene Meinungen, die sich destruktiv gegenüberstehen, die zunehmende Unterwanderung bzw. Instrumentalisierung von Protesten durch extremistische Gruppen sowie eine allgemeine „Verrohung“ des Tonfalls im Diskurs untereinander als Beispiele für Teilerscheinungen eines spürbar zunehmenden Drucks. Anhand eigener vergangener und aktueller Projekte des Instituts für Beratung, Begleitung und Bildung e. V. skizziert der Beitrag eine Herangehensweise für eine demokratische Konfliktbewältigung. Tobias Johann & Eva Zimmermann betrachten Modellprojekte der Demokratieförderung, die innovative pädagogische Angebote für junge Menschen entwickeln und dabei auch die (politischen) Herausforderungen der digitalen Transformation der Gesellschaft thematisieren. Der Beitrag analysiert aktuelle Konzepte von im Bundesprogramm „Demokratie leben!“ geförderten Modellprojekten und stellt dar, welche (Innovations-)Potenziale diese Projekte als Experimentierräume für eine interdisziplinäre politische Medienbildung in sich bergen. Der Druck, unter dem Politiker*innen in unserer Gesellschaft stehen, ist Christian Boeser & Florian Wenzel zufolge nicht nur eine Konsequenz aktueller gesellschaftlicher Herausforderungen, sondern resultiert auch aus einer Vertrauenskrise zwischen Politiker*innen und Bürger*innen. Der Beitrag veranschaulicht unter Bezugnahme auf die Corona-Pandemie die zentralen Überlegungen und Bausteine des Argumentationstrainings „Stammtischparolen über Politiker*innen“, das der Vertrauenskrise entgegenwirken und die politische Urteilsfähigkeit und Handlungsfähigkeit von Bürger*innen erhöhen möchte.

Der Band schließt mit unserer Rubrik Aktuelles aus der Forschung, in der Zusammenfassungen ausgewählter wissenschaftlicher Publikationen internationaler Autor*innen präsentiert werden – aus den Arbeits- und Forschungsfeldern des IDZ: der Rechtsextremismus- und Demokratieforschung sowie aus der Forschung zu Diversität, Engagement und Diskriminierung.