„Klimawandel? Gibt’s doch gar nicht.“ Über die Gefahren von Wissenschaftsfeindlichkeit in Zeiten der Klimakrise

Verschwörungsmythen, Fake News, „alternative Fakten“ – wissenschaftliche Erkenntnisse werden immer öfter angezweifelt, angegriffen und in ihr Gegenteil verkehrt. Besonders am Beispiel des Klimawandels wird diese Wissenschaftsfeindlichkeit deutlich: Obwohl die überwältigende Mehrheit der Wissenschaftler*innen den menschengemachten Klimawandel bestätigt, versuchen selbst ernannte „Klimaskeptiker*innen“, die Forschung in Zweifel zu ziehen und Klimaschutzmaßnahmen zu verhindern. Warum ist die Infragestellung wissenschaftlicher Erkenntnisse für viele Menschen so attraktiv? Und wie kann Wissenschaft besser kommuniziert werden? Diese und weitere Fragen diskutierte Viktoria Kamuf, wissenschaftliche Mitarbeiterin am IDZ, mit Fritz Reusswig, Soziologe am Potsdamer Institut für Klimafolgeforschung, Ida Loesche, Mitglied der Ortsgruppe Weimar von Fridays for Future, und Carel Mohn, Chefredakteur von klimafakten.de, im Rahmen eines Foyergesprächs in Kooperation mit dem Deutschen Nationaltheater Weimar am 25. Mai 2022.

 

Viktoria Kamuf

Herzlich willkommen. Zunächst möchte ich Fritz Reusswig, Ida Loesche und Carel Mohn fragen: Welche Rolle spielt Wissenschaft in Ihrem Arbeitskontext bzw. im aktivistischen Kontext, also aus welcher Position heraus erfolgt Ihre Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Erkenntnissen? Produzieren Sie Wissenschaft, nutzen Sie Wissenschaft, hinterfragen Sie Wissenschaft …?

Fritz Reusswig
Welche Rolle spielt für mich als Wissenschaftler Wissenschaft? Damit verdiene ich meine Brötchen, könnte ich jetzt sagen, aber das ist nicht natürlich nicht hinreichend. Zunächst einmal machen wir viel Forschung, d.h. wir produzieren selbst Wissen. Folglich rezipieren wir es auch. Sie können keinen Forschungsantrag stellen, ohne dass sie andere Forschende zitieren. Und letztendlich publizieren wir dieses Wissen. Die Auseinandersetzung mit Wissenschaft gehört zur Wissenschaft. Wir sind teilweise unsere schärfsten Kritiker*innen und das führt manchmal zu sehr heftigen Auseinandersetzungen. Für das wissenschaftliche System ist das jedoch gut: Wissenschaft ist keine geschlossene Phalanx, sondern es gibt viele Diskussionen innerhalb der Wissenschaft und nach außen. Als Soziologe ist mein Thema der gesellschaftliche Umgang mit Klima und Klimawandel, also: Welche Gruppen tun sich eventuell schwer, welche leicht? Welche Probleme gibt es? Diese Fragen sind selbst ein Forschungsgegenstand. In letzter Zeit wird das immer wichtiger. Mittlerweile nehmen auch Formate wie Podcasts eine immer größere Rolle ein. Wissenschaft geht also stark an die Öffentlichkeit und versucht, auch die Politik zu beraten – wenn die sich beraten lässt. Aber die Kommunikation zwischen Politik und Wissenschaft ist sehr wichtig, weil wir als Bürger*innen eine gut informierte Politik brauchen.

Ida Loesche
Als Vertreterin der Zivilgesellschaft würde ich damit anfangen, welche Rolle Wissenschaft in meinem Leben spielt, denn darüber bin ich dazu gekommen, jetzt als Vertreterin für eine zivilgesellschaftliche Bewegung hier zu sitzen. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass wissenschaftliche, evidenzbasierte Erkenntnisse der gemeinsame Nenner sind, auf denen sich Gesellschaften aufbauen können und mit denen wir als Individuen einer Gesellschaft Erkenntnisse gewinnen können. So individuell, wie wir alle sind, würde es nicht funktionieren, wenn wir alle unsere eigenen Wahrheiten hätten, an denen wir festhalten. Wenn wir als gemeinsamer Organismus funktionieren wollen, dann müssen wir uns auf gemeinsame Fakten einigen. Bei mir setzte das relativ früh ein, parallel mit meiner Schullaufbahn Richtung Abitur und den Erkenntnissen der Geografie zum Klimawandel. Das war einleuchtend und ich habe dann erkannt: Wir steuern auf eine Katastrophe zu, wenn nicht politisch gehandelt wird und CO2-Emissionen drastisch gesenkt werden. Die zivilgesellschaftlichen Probleme wie Rassismus, Sexismus, soziale Ungleichheit usw. werden sich dadurch weiter verschärfen. Das lässt sich nicht voneinander trennen. Deshalb würde ich sagen: Wir als Fridays for Future sind eine Art Verstärker oder Lautsprecher der wissenschaftlichen Erkenntnisse. Wir produzieren sie nicht, sondern wir sind Leute, die die Erkenntnisse zum Klimawandel individuell verstanden haben und zugleich sehen, dass es nicht ausreicht, diese individuell zu verstehen. Es braucht vielmehr eine gesellschaftliche Bewegung, welche die Erkenntnisse in der Praxis laut auf die Straße trägt und zeigt, dass sie existieren. Es gibt evidenzbasierte Fakten und man muss nach ihnen handeln, damit wir von der rationalen „kalten“ Wissenschaft wegkommen zu einer „warmen organischen“ Gesellschaft. Hierfür müssen wir diese Fakten nutzen und sie umsetzen, damit wir weiterhin in Zukunft als Gesellschaft funktionieren und in Peace, Love und Happiness zusammenleben können.

Carel Mohn
Wir von klimafakten.de beschäftigen uns mit Fragen wie: Wie geht die Gesellschaft mit dem um, was Wissenschaft ihr liefert? Wie findet die Kommunikation darüber statt? Dass wir das machen, ist das Ergebnis einer Lernreise, die wir 2011 begonnen haben. Damals hatten wir einen Ansatz, der sich immer noch in unserem Namen widerspiegelt: Unser Fokus lag auf Klima-Fakten, weil eine Welle von Wissenschaftsverleugnung aus den angelsächsischen Ländern drohte – und so haben wir beschlossen, eine Brandmauer aus Fakten zu errichten. Ziel war es, die Leute aufzuklären. Das kann man immer noch auf unserer Webseite finden und wird sehr stark nachgefragt. Irgendwann sind wir dann indes auf Artikel von Soziolog*innen, Sozialpsycholog*innen und Kognitionsforschenden gestoßen, die sich damit auseinandersetzen, wie Menschen mit Wissenschaft umgehen. Es gibt das sogenannte Informationsdefizitmodell, das ist die Vorstellung, dass die Köpfe leer sind, die Wissenschaft oder Fridays for Future dann Wissen hineingießen und die Leute daraufhin Klimaschutz machen. Das war eine Hoffnung, die ich bis dahin ehrlich gesagt mein ganzes Leben hatte. Aber ich erlebe, dass es für Menschen vielfach egal ist, ob es wissenschaftliche Expertise zu einem Thema, wie zum Beispiel dem Tempolimit, gibt. Das ärgert mich zwar, aber Menschen funktionieren eben nicht so, dass sie ihr Denken primär an Fakten ausrichten. Deswegen wollen wir gerne über das Informationsdefizitmodell hinauskommen.

Viktoria Kamuf
Wo wir nun Ihre verschiedenen Perspektiven auf die Wissenschaft kennengelernt haben, möchte ich Sie fragen: Inwiefern erleben Sie in dem gerade beschriebenen Kontext Wissenschaftsfeindlichkeit?

Ida Loesche
Ich kann nicht so viele Beispiele nennen, in denen ich als Aktivistin mit Individuen oder Organisationen, die wissenschaftsfeindlich sind, aufeinandergestoßen bin. Meine Erfahrungen beschränken sich primär darauf, Demonstrationen zu veranstalten – und dass dann Straßen gesperrt werden und meistens Autofahrer*innen auf der anderen Straßenseite hupen. Oder es gab eine Situation, bei der wir während des ersten Corona-Lockdowns eine Plakataktion gemacht haben. Da sind Leute mit Plakaten um den Oberkörper durch die Schillerstraße gelaufen und wollten auf Windkraft und die Energiewende aufmerksam machen. Daraufhin kamen Standard-Argumente von Windkraftgegner*innen – etwa Windkrafträder würden Vögel schädigen usw. Daran merkt man nach meinem Erachten, dass gerade auf dieser individuellen Ebene in der Bevölkerung hinter wissenschaftsfeindlichen Positionen von Windkraftgegner*innen bis zu Klimawandelleugner*innen nicht unbedingt mangelndes Faktenwissen steckt. Es ist eher ein psychologischer Punkt – dass menschliche Gehirne so ticken, dass sie Sicherheit brauchen und diese Sicherheit haben Menschen meistens, wenn sie ihren Alltag so gestalten können wie bisher. Sobald etwas um die Ecke kommt und den Anschein macht, als würde es etwas von dieser Stabilität und Sicherheit des Alltags zerrütten wollen, sehen sich viele bedroht. Denn wir alle in der westlichen Welt müssten unsere Lebensweise ändern. Hieraus entstehen für viele Menschen existenzielle Sorgen und Ängste vor Verlust von Privilegien. Wenn Menschen an der Existenzgrenze leben, dann scheint jede Rede von CO2-Steuer existenzbedrohend. Hier muss man ansetzen. Das sehen wir als Fridays for Future allerdings weniger als unsere Aufgabe – unsere Intention ist es, dort anzusetzen, wo nicht die Fakten fehlen oder dagegen gearbeitet wird, sondern wo ganz klar ist, was getan werden muss.

Carel Mohn
Wissenschaft ist ein Begriff und Phänomen, das Faszination ausübt. Ich spreche viel mit Menschen, die im Klimaschutz arbeiten und die uns fragen, wie man Erkenntnisse und Fakten über das Klima verständlich kommuniziert. Ich würde sagen, dass das eigentliche Problem genau zwischen den Dämonen liegt, vor denen man sich in Zusammenhang mit Wissenschaftsfeindlichkeit fürchtet. Einen Dämon kennen wir aus den USA: Das sind die Lobbyist*innen, die seit Jahrzehnten gezielt wissenschaftsfeindliche Positionen vertreten und Politiker*innen kaufen, damit diese im Kongress entsprechende Positionen vertreten. Ich würde behaupten, dass es das in Europa aufgrund unseres politischen Systems weniger gibt. Auch die Regelungen zur Parteienfinanzierung sind zwar nicht perfekt, aber wesentlich besser als in den USA. Der andere Dämon ist die alltagsweltliche Wissenschaftsfeindlichkeit, die wir auch in der Corona-Pandemie erlebt haben und die nach meinem Erachten Menschenleben gekostet hat. Die alltagsweltliche Wissenschaftsfeindlichkeit besteht darin, dass es in weiten Bevölkerungskreisen große Schwierigkeiten gibt, die Erkenntnisse von Wissenschaft zu übersetzen und zu integrieren. Das sind beides interessante Phänomene, aber das Spannende liegt genau in der Mitte. Das hat mit unserem eigenen Denken zu tun, weil wir selbst dazu neigen, die Welt nicht völlig rational zu sehen. Wir unterliegen kognitiven Verzerrungen, so nennt das die Sozial- und Wahrnehmungspsychologie. Das bedeutet: Die Welt ist so komplex, dass wir unsere Aufmerksamkeit nur auf bestimmte Dinge richten können. Wir gehen nicht immer analytisch-rational an die Dinge heran, sondern situationsangepasst. Das führt dazu, dass wir alle oft nicht wissenschaftlich denken, weil man anders nicht durchs Leben kommt. Dies anzuerkennen, kann uns helfen, um uns als Gesellschaft auf einen Pfad Richtung klimaverträgliches Leben zu bringen. Es ist nicht Borniertheit, sondern es sind Routinen und Denkmuster, die uns davon abhalten, „einfach“ den wissenschaftlichen Handlungsanweisungen zur Bewältigung der Klimakrise zu folgen. Doch das würde ich nicht unbedingt Wissenschaftsfeindlichkeit nennen.

Fritz Reusswig
Man muss mit dem Begriff Wissenschaftsfeindlichkeit vorsichtig umgehen. Es gibt verbreitete Missverständnisse davon, was Wissenschaft ist. Ich würde von zwei Extremen sprechen: Das eine Extrem ist, dass Wissenschaft für manche Leute eine Art Religionsersatz darstellt. Dann weist das Wissenschaftsbild Attribute des Absoluten auf. Niemand darf, ja kann widersprechen. Und das andere Extrem: Die Wissenschaft ist auch nur eine Art Meinung. Wenn die Leute feststellen, dass es in der Wissenschaft unterschiedliche Ansichten, Denkschulen und damit auch Streit gibt, wirkt dies oft abschreckend und delegitimierend, obwohl das ein normales wissenschaftliches Vorgehen ist. Die Soziologie zum Beispiel ist eine multiparadigmatische Wissenschaft, in der es nicht die Soziologie gibt. Wie Wissenschaft funktioniert, ist für viele schwer nachzuvollziehen – zum Beispiel wie normal es ist, dass es Streit und verschiedene Perspektiven auf Themen gibt. Ebenfalls normal ist, dass sich Forschungsparadigmen ändern. Beispielsweise haben wir Jahrhunderte lang Newtons Mechanik geglaubt, dann irgendwann Einstein und wer weiß, was nach Einstein kommt. Durch diese Erkenntnis erodiert das absolute, quasi-religiöse Sicherheitsgefühl. Aber eben nicht die Wissenschaftlichkeit! Weitere wichtige Elemente für die Wissenschaft: Sie braucht Fortschritt und muss versuchen, methodisch zu beobachten und intersubjektiv kontrollierbar zu sein. Empfehlenswert ist das Wissenschaftsbarometer1, das alle paar Jahre erhebt, wie die Menschen über Wissenschaft denken – zuletzt im Jahr 2021 mit dem Schwerpunktthema Corona. Dort werden aufschlussreiche Ergebnisse aufgewiesen, auch nach Parteipräferenz. AfD-Anhänger*innen zum Beispiel stehen der Wissenschaft überhaupt deutlich skeptischer gegenüber als die Wähler*innen anderer Parteien.

Gleichzeitig gilt: Nicht jede skeptische Nachfrage ist schon Ausdruck von Wissenschaftsfeindlichkeit. Oft drücken Menschen ihren Zweifel am anthropogenen Klimawandel aus, meinen aber in Wirklichkeit: „Wie komme ich ohne Diesel noch von A nach B? Kann ich meine Miete noch bezahlen, wenn die energetische Sanierungsquote steigt?“ Fragen dieser Art sind völlig berechtigt – nur rechtfertigen sie keinen Klimawandel-Skeptizismus, sondern fordern uns zu einer sozial gerechten Energiewende auf. Die Aufgabe von Politik in diesem Prozess ist es, diesen Übergang gerecht zu gestalten. Für die Beratung von Politik wiederum brauchen wir ganz andere Wissenschaften als die naturwissenschaftliche Klimaforschung, denn die Klimaforschung hat zum Beispiel auf Fragen nach der Gestaltung einer klimaneutralen und gleichzeitig sozialverträglichen Mietenpolitik in Deutschland keine Antworten. Letztlich müssen dann aber die Entscheidungen demokratisch getroffen werden. Ich möchte nicht in einer Gesellschaft leben, in der Expert*innen entscheiden, was die Menschen tun soll. Ich möchte in einer Gesellschaft leben, in der Expert*innen sagen, was sie für richtig halten, und wir alle dann im Lichte dieser Befunde über Lösungsmöglichkeiten diskutieren und entscheiden.

Viktoria Kamuf
Zugespitzt zusammengefasst: Wir sind alle potenziell wissenschaftsskeptisch, da wir nicht konstant rational-analytisch und faktenbasiert handeln und denken. Welche unterschiedlichen Motivlagen lassen sich bei dieser Wissenschaftsskepsis beobachten?

Carel Mohn
Es gibt unterschiedliche Motivlagen. Ich erlebe zum Beispiel, dass Phänomene banalisiert und verkürzt werden, indem gesagt wird, dass es immer die Lobbyist*innen seien, die alles finanzieren würden. Doch ich denke, dass es viele nachvollziehbare Gründe gibt, sich durch Klimaschutz und Klimapolitik bedroht oder zumindest herausgefordert zu fühlen. Viele Aussagen über Klimaschutz und Klimapolitik transportieren bestimmte Werteaussagen – u. a. was für uns wichtig ist, wie wir uns unser Leben und unser Land vorstellen, wie wir miteinander umgehen und wie dieser Umgang fair organisiert wird. Diese Werteaussagen können auf Widerspruch stoßen. Wenn ich beispielsweise meine, es brauche einen Staat, der viele Regeln setzt, dann weckt das bei anderen Menschen antistaatliche Impulse. Dabei ist es eigentlich egal, ob man das Thema Klima, Gesundheits- oder Bildungspolitik anspricht. Teilweise sehen sich Personen in ihren Interessen bedroht, bei anderen geht es wiederum um die Wertschätzung ihrer biografischen Erfahrungen. Wer beispielsweise sein Leben lang in der Braunkohle gearbeitet hat, der hört bei politischen Aussagen wie „Kohle ist schlimm“ dann vielleicht: „Kohlearbeiter sind schlimm“. Das ist zwar nicht gemeint, aber das muss eben auch erst mal differenziert werden. Wichtig ist es, den Nutzen von Wissenschaft zu erkennen, denn Wissenschaft ist wie ein Werkzeug. Journalismus, Kultur, Literatur und Religion sind ebenfalls Erkenntnissysteme, die jeweils einen spezifischen Nutzen für die Gesellschaft haben. Helfen würde es, wenn wir miteinander darüber sprechen: Wie arbeitet Wissenschaft und wofür ist sie gut? Ich denke nicht, dass es die Aufgabe der Wissenschaft ist, uns die Frage abzunehmen, nach welchen Prinzipien wir etwa bei der Reduktion von Emissionen vorgehen sollten – also wir könnten die Restemissionen zum Beispiel pro Kopf aufteilen und jeder Mensch auf der Erde bekommt das gleiche Budget. Oder wir könnten berücksichtigen, was in den jeweiligen Ländern schon emittiert wurde und dann dürften Deutsche, Brit*innen und Belgier*innen künftig viel weniger emittieren. Das sind zwei valide und gültige Prinzipien. Man könnte darüber hinaus sagen: „Es ist egal, wir wollen jetzt feiern, alles rausballern und leben.“ Auch das ist eine mögliche Haltung und zwischen diesen Haltungen muss eine Einigung gefunden werden. In diesem Entscheidungsprozess steht die Wissenschaft nur am Rand, denn sie kann zwar Daten liefern und beschreiben, wie die Folgen und Konsequenzen aussehen würden, eine Entscheidung durch die Wissenschaft würde aber meines Erachtens nicht funktionieren.

Fritz Reusswig
Ich glaube, dass wir einen gemeinsamen Nenner brauchen, aber die Wissenschaft wäre dafür zu schmal. Wir brauchen eine Diskussion über Gerechtigkeit. Problematisch daran ist, dass alle das auf der Meta-Ebene teilen, aber der Teufel steckt in den unterschiedlichen Gerechtigkeitsprinzipien. Wir brauchen übrigens auch eine „Schule des Gefühls“, denn wir alle haben eine emotionale Basis, aber wir müssen uns auch darüber in einer möglichst nicht emotional verzerrten Form austauschen. Ja, Wissenschaft kann sagen: Bei 1 Grad Erwärmung passiert das, bei 2 Grad das, bei 3 Grad das. Offen bleibt die Frage, ob es uns das sterbende Korallenriff bei 1 Grad Wert ist, dass wir nicht mehr Auto fahren. Oder nehmen wir mal kontrafaktisch an, der Klimawandel würde dazu führen, dass die europäische Landwirtschaft zusammenbricht, aber die afrikanische Landwirtschaft floriert. Die europäischen Bauern würden sagen: „Das ist eine Katastrophe.“ Afrikanische Landwirte würden vielleicht sagen: „Keine europäischen Exporte nach Afrika mehr, das wollten wir doch eigentlich schon immer, wir finden das gar nicht so schlimm.“ Fakten werden also zwangsläufig im Lichte von Werten gedeutet. Deshalb müssen wir künftig nicht nur über Fakten, sondern auch über unsere Werte diskutieren. Das geht durchaus, anders als Max Weber dachte, der hier nur verständigungslosen Kampf sah.

Ein weiterer Punkt sind Fakten und Faktenchecks. Ich kann nur klimafakten.de empfehlen, insbesondere in Hinblick auf den Aspekt Kognition und Psychologie. Das ist wichtig, wenn wir etwa den Aufschwung von Verschwörungserzählungen in den letzten Jahren betrachten. Für mich ist eine Verschwörungserzählung ein Brückenkonzept, das verschiedene Baustellen der Wissenschaftsskepsis, -feindlichkeit und politische Themen zusammenführt. Wer mit jemanden diskutiert, der*die Verschwörungserzählungen anhängt, stellt schnell fest, dass diesen mit Fakten oder Faktenchecks nicht beizukommen ist. Verschwörungserzählungen sind resistent gegen den Faktencheck, denn es gibt für die Verschwörungsanhänger*innen nur zwei Möglichkeiten: Wer mir widerspricht, bestätigt mein Weltbild („die Mehrheit ist manipuliert“), und wer mir zustimmt, bestätigt mein Weltbild auch („gehört wie ich zu den wenigen Auserwählten mit Durchblick“). Das ist fatal und die zentrale Frage ist nicht so sehr: Stimmt das denn? Sondern eher: Welche Funktionen haben Verschwörungserzählungen für Individuen, welche Bedürfnisse befriedigen sie? Ein wesentliches Moment ist, dass sie Ermächtigungsstrategien sind. Sie sind Wiederaneignungsstrategien von Welt und reduzieren die weiß Gott hohe Weltkomplexität – allerdings in einem wirklichkeitsfremden Übermaß. Verschwörungserzählungen machen es sich zu einfach, indem sie Zufälle und Strukturen als Folge eines bösen Willens erklären. Dieser Idee folgend haben wir mit vielen Leuten, u. a. Windkraftgegner*innen, gesprochen. Und die erste Frage, die wir mittlerweile stellen, lautet nicht mehr: Wie könnte man Sie überzeugen? Sondern: Wie sind Sie dazu gekommen, dass Sie so vehement gegen Windräder sind? So wird man ja nicht geboren. Und dann sprudeln die Geschichten. Die interessanten Erkenntnisse sind, dass in den Geschichten auch Fragmente von wahren Entwicklungen eine tragende Rolle spielen, die aber anders verknüpft werden. Auch zu beachten ist, dass die Klima- und Energiewendekritik der AfD sich als Sachwalterin „unserer“ herkömmlichen fossil-atomaren Lebensweise inszeniert. Aus der Umweltsoziologie und -psychologie wissen wir um die Diskrepanz zwischen Bewusstsein und Handeln. Wir reden alle grün, aber handeln nicht immer entsprechend. Die AfD sagt: „Steh zu deinem dreckigen Lebensstil, der ist richtig! Fahr Diesel, ist doch alles Käse, was die Dir über den Klimawandel erzählen.“ Dagegen zerren Fridays for Future und andere Klimaaktivist*innen am anderen Ärmel und sagen: „Hey, Du hast doch gestern gesagt, Du willst das Klima schützen, aber Du machst es nicht. Mach es endlich!“ Beide fordern Konsequenz, nur in gegensätzliche Richtungen.

Ich denke, Wissenschaftsfeindlichkeit ist die Spitze eines Phänomens, dessen anthropologische und soziale Ursachen sowie die dahinterstehenden Interessenbasen noch genauer analysiert werden müssen. Wir haben in einer Studie2 zu gesellschaftlicher Resonanzfähigkeit von Klimapolitik versucht, soziale Milieus in Deutschland aufzuzeigen und zu untersuchen, wie die eigentlich zur Klimapolitik stehen. Wer ist dafür, wer ist dagegen und warum? Statt nur zu sagen: „Mach mal“, sollten wir uns ansehen, welche Lebensprobleme diese Menschen haben und welche Anforderungen an die Klimapolitik bestehen, um Klimapolitik für diese Menschen und deren Lebenssituation akzeptabel zu machen.

Viktoria Kamuf
Frau Loesche, da Herr Reusswig Fridays for Future angesprochen hat: Sie haben bereits erwähnt, dass es bei Fridays for Future um das individuelle Handeln geht, zugleich aber das systemische Denken angeführt, das eine große Rolle in der Klimagerechtigkeitsdebatte spielt. Können Sie das ausführen? Was ist – sehr zugespitzt gefragt – der Unterschied zu nationalistisch-völkisch geprägten Gruppierungen wie Der Dritte Weg, der in Deutschland ebenfalls Windkraft ausbauen will?

Ida Loesche
Wir sind keine Klimaschutzbewegung, sondern eine Klimagerechtigkeitsbewegung. Klimaschutzbewegung klingt so, als habe ein Mensch ein Hobby gefunden, bei dem er gern das Klima schützt. Aber es ist nicht mein Hobby, das Klima zu schützen, sondern ich würde eigentlich gern andere Sachen machen. Doch die Welt beschränkt sich nicht auf meinen Tellerrand und meine Heimat, welche ich so „rein und völkisch“ haben möchte, wie es nur geht, und in der ich erneuerbare Energien beispielsweise als Strategie für mein Eigeninteresse sehe. Stattdessen vertrete ich die Perspektive, dass ich vor Beginn meines eigenen Wegs in der Welt gewährleistet haben muss, dass es allen Menschen gut geht. Erst danach können wir austarieren, wie viel Platz sich jeder Mensch nehmen kann. Meine Handlungen sind nicht allein Resultat meiner eigenen Entscheidungen, sondern es sind die Tipping points der Natur, die limitieren, wie ich leben kann. Die Perspektive von Fridays for Future ist also: bei Klimaschutzmaßnahmen sämtliche Ebenen der Gesellschaft und deren Zusammenhänge in den Blick zu nehmen. Dementsprechend müssen wir sowohl global als auch durch jede Gesellschaftsschicht hindurch auf wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Ebene schauen, wie das größte Wohl für alle produziert werden kann. Als globale Klimagerechtigkeitsbewegung gehen wir davon aus, dass es einen Globus gibt, auf dem wir alle leben, und dessen Systeme soweit stabil gehalten werden müssen, dass der größte konzentrische Zirkel stabil bleibt. Erst dann kann kleinteiliger geguckt werden, wie es nach innen stabiler werden kann – egal ob auf einem Kontinent, in einem Land, einem Staat, einer Stadt, der Familie usw. Dazu muss der nächstgrößere Kreis stabil sein. Viele der kleinen Interessengruppen wie der „Dritte Weg“ oder die AfD haben einen sehr kleinen konzentrischen Zirkel, von dem aus nicht nach außen gesehen wird. Fridays for Future dagegen will darauf aufmerksam machen, dass die Klimakatastrophe ein globales systemisches Problem ist, das mit Gerechtigkeitsfragen auf allen Ebenen einhergeht.

Viktoria Kamuf
Vielen Dank! Wir haben in unserem Gespräch vor allem auf einer Meta-Ebene die Bedeutung von Wissenschaft in Hinblick auf gesellschaftliche Transformationsprozesse im Kontext des Klimawandels reflektiert und wie wir damit umgehen, dass wir uns nicht nur harten Fakten, sondern auch Emotionen und Werten gegenübersehen, die hierbei berücksichtigt werden müssen. Schlussendlich gilt es, das hat die Diskussion gezeigt, einen demokratischen Prozess auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse sowie in gegenseitiger Anerkennung und kritischer Wertschätzung zu führen.

 

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1    https://www.wissenschaft-im-dialog.de/projekte/wissenschaftsbarometer/

2    https://www.wissenschaftsplattform-klimaschutz.de/de/Studie-Resonanz.html