Antidiskriminierungsarbeit als notwendiges Element der Demokratieförderung

Daniel Bartel, Mitautor der im Oktober 2022 erschienen Studie „Gut beraten! Auf dem Weg zu einer flächendeckenden Antidiskriminierungsberatung in Deutschland“ (siehe S. 204 in diesem Band), führt im Gespräch mit Dr. Janine Dieckmann (IDZ) die wichtigsten Ergebnisse der aktuellen Studie aus, beschreibt konzeptuelle Aspekte und die gesellschaftliche Bedeutung von Antidiskriminierungsberatung. Obwohl sich die Strukturen in Deutschland für Antidiskriminierungsberatungsarbeit in den letzten Jahren positiv entwickelt haben, skizziert er notwendige Schritte und Handlungsansätze, die es weiterhin zu bearbeiten gilt. Er macht deutlich, dass es ein gesellschaftliches Verständnis und Konzept für Antidiskriminierungsarbeit braucht, welches der politischen und zivilgesellschaftlichen Arbeit zukünftig zugrunde liegen sollte. Antidiskriminierungsarbeit versteht er gewissermaßen als notwendigen Druck von innen für eine demokratische Gesellschaft, die sich beständig verändert und weiterentwickelt.

 

Janine Dieckmann
Lieber Daniel Bartel, vor fünf Jahren haben wir uns bereits im Band 2 der IDZ-Schriftenreihe WsD zum Schwerpunkt „Diskriminierung“ zum damaligen Stand der Antidiskriminierungsberatung in Deutschland ausgetauscht. Ihr Fazit im Jahr 2017 lautete: „Deutschland ist in Bezug auf die AD-Beratung eine einzige Leerstelle mit punktuellen Ansätzen“. Nun haben Sie im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes gemeinsam mit Prof. Annita Kalpaka von der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg eine systematische Studie zum Thema vorgelegt.1 Welches Fazit ziehen Sie heute?

Daniel Bartel
In den letzten 5 Jahren ist eine große Dynamik im Feld zu beobachten gewesen. Die Zahl der Antidiskriminierungsberatungsstellen hat sich – das ist ein Ergebnis der Studie – in dieser Zeit mehr als verdoppelt. Diese Entwicklung lässt sich nicht einem einzelnen zentralen Ereignis zuordnen, wie etwa der Verabschiedung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes 2006, die in den Folgejahren die Gründung von Antidiskriminierungsberatungsstellen nach sich zog, sondern ist Ausdruck einer breiten Entwicklung, die auf verschiedenen Ebenen stattgefunden hat und stattfindet.

Grundsätzlich ist eine Veränderung des Bewusstseins und der Fachpolitik zu beobachten. Die Erkenntnis, dass es flächendeckende Antidiskriminierungsberatungsstrukturen braucht, hat deutlich an Relevanz gewonnen. Sie wird mittlerweile von Vertreter*innen aus Politik, Verwaltung, Zivilgesellschaft auf der Ebene der Länder und des Bundes, aber auch auf europäischer Ebene vertreten. Ein Ausdruck davon ist, dass sie 2021 erstmals Eingang in den Koalitionsvertrag der aktuellen Bundesregierung fand und regelmäßig, wenn auch in unterschiedlicher Form und Konsequenz, in den Regierungsplänen auf Länderebene auftaucht. Vor fünf Jahren ging es im Schwerpunkt noch darum, die Idee zu etablieren, dass Menschen unabhängig von ihrem Wohn- und Lebensort und unabhängig davon, aus welchen Gründen und in welchem Lebensbereich sie Diskriminierung erfahren haben, einen niedrigschwelligen Zugang zu einer spezialisierten Beratung haben. Mittlerweile sind wir einen deutlichen Schritt weiter und die Fragen lauten: Wie lassen sich flächendeckende Beratungsstrukturen ausbuchstabieren? Wo stehen wir aktuell? Und: Wie und mit welchen Zwischenschritten können entsprechende Strukturen konkret umgesetzt werden? Die ersten beiden Fragen werden in unserer Studie „Gut beraten!“ adressiert, die dritte ist eine von fachpolitischen Auseinandersetzungen auf regionaler Ebene, Landes- und Bundesebene. In einem Satz: 2022 ist in Deutschland in Bezug auf Antidiskriminierungsberatung einiges in Bewegung gekommen, aber es ist nach wie vor noch ein weiter Weg.

Janine Dieckmann
Was sind für Sie die Kernbefunde der Studie? Und – gern auch mit Blick auf Thüringen – was sind die wichtigsten Handlungsempfehlungen?

Daniel Bartel
Wie gesagt hatte die Studie zwei wesentliche Fragestellungen. Erstens: Wie sehen die Antidiskriminierungsberatungsstrukturen aktuell aus? Zweitens: Wie können diese flächendeckend gedacht werden? Bezüglich der aktuellen Strukturen haben wir im Rahmen einer umfangreichen Befragung erstmals belastbare Zahlen ermittelt. Aktuell gibt es bundesweit ca. 100 Antidiskriminierungsberatungsstellen – wobei der Begriff der „Stelle“ dazu verleitet, diese Beratungsstellen größer zu denken, als sie tatsächlich sind. Durchschnittlich haben diese Beratungsstellen weniger als eine Vollzeitpersonalstelle in der Antidiskriminierungsberatung, sind oftmals prekäre Ein-bis-Zwei-Personen-Strukturen mit einem Budget unterhalb von 100.000 € und einem Planungshorizont von zwei Jahren oder weniger. Werden alle Personalressourcen bundesweit zusammengerechnet, ergibt das aktuell etwa 90 Vollzeitstellen in der Antidiskriminierungsberatung. Das entspricht einem Versorgungsschlüssel von einer Vollzeit-Berater*innenstelle auf 922.000 Einwohner*innen. Dieser bundesweite Versorgungsschlüssel variiert noch einmal deutlich zwischen den einzelnen Bundesländern und zwischen urbanen Ballungsräumen auf der einen und ländlich geprägten Räume auf der anderen Seite. Ein letzter Befund und das Fazit zum aktuellen Stand: Zugespitzt lässt sich formulieren, dass Antidiskriminierungsberatung von nicht-staatlichen Stellen geleistet und von den Ländern bezahlt wird. Aktuell sind die Beratungsstrukturen noch in keinem Bundesland flächendeckend. Diese Zustandsbeschreibung ist in den wesentlichen Punkten auch für Thüringen zutreffend. Der Versorgungsschlüssel für Thüringen liegt oberhalb des Bundesdurchschnittes: eine Vollzeit-Berater*innenstelle ist, rein rechnerisch, für die Bedarfe von 1,2 bis 1,5 Mio. Einwohner*innen zuständig.

Jetzt zu der Frage, wie flächendeckende Beratungsstrukturen gedacht werden können und wie der aktuelle Stand einzuordnen ist. Die Eckpunkte unseres Konzeptes für flächendeckende Beratungsstrukturen im Bereich Antidiskriminierung waren: Inhalt der Antidiskriminierungsberatung und Schnittstellen zu angrenzenden Unterstützungsangeboten mit Antidiskriminierung als Querschnittsthema, Umfang des Beratungsangebotes und Verteilung in der Fläche, Ressourcenbedarfe sowie die gesamtstrukturellen Rahmenbedingungen für die Qualitätssicherung und Koordination der einzelnen Beratungsangebote. Insbesondere für Umfang, Verteilung und Ressourcenbedarf haben wir Kennzahlen erarbeitet und konkrete Empfehlungen formuliert. Für eine flächendeckende Beratungsstruktur empfehlen wir einen Versorgungsschlüssel von einer Vollzeit-Berater*innenstelle auf 100.000 bis 200.000 Einwohner*innen. Das entspricht etwa dem Fünf- bis Zehnfachen des aktuellen Umfangs. Die Beratungsstellen bzw. -standorte sollten wohnortnah auf der Ebene der Landkreise und kreisfreien Städte verteilt werden, davon gibt es aktuell 400, wobei die einzelnen Standorte einen Personalschlüssel von einer Vollzeitstelle und zwei Mitarbeitenden nicht unterschreiten sollte.

Schauen wir hier auf Thüringen, wird verdeutlicht, dass diese konzeptionellen Werte bei Weitem noch nicht erreicht werden. Im Ländervergleich liegt Thüringen im Mittelfeld. Insgesamt hat Thüringen, bezogen auf die Antidiskriminierungsberatung, in den letzten Jahren einen großen Entwicklungsschritt genommen. Mit „EmpowerMensch“ ist eine nichtstaatliche, vom Land finanzierte Antidiskriminierungsberatungsstelle mit landesweitem und zielgruppenübergreifendem Mandat entstanden, die nach den Fachstandards des Antidiskriminierungsverbandes Deutschland arbeitet. Gleichzeitig ist die Beratungsstelle gerade in einem Aufbau- und Etablierungsprozess und arbeitet noch nicht mit voller Kraft. Anders formuliert: Der Grundstein ist gelegt, die Fundamente stehen, aber das Haus ist noch nicht fertig. Und um in dem Bild zu bleiben: Für Thüringen ist das aus Perspektive einer flächendeckenden Beratung noch um den Faktor 8 bis 16 zu klein und sehr zentralisiert. Aber auch in den anderen Bundesländern sind die Häuser aktuell überwiegend deutlich zu klein und nicht flächendeckend.

Janine Dieckmann
Menschen zu beraten, die Diskriminierung erlebt haben, sie zu unterstützen und zu begleiten, ist ein wichtiges Element von Antidiskriminierungsarbeit generell. Sie setzt aber eben erst dann an, wenn Menschen schon gesellschaftliche Ausgrenzungs- und Abwertungserfahrungen gemacht haben. Welche weiteren Elemente von Antidiskriminierungsarbeit erachten Sie als wichtig, um eben nicht erst anzusetzen, wenn Diskriminierung bereits stattgefunden hat?

Daniel Bartel
Antidiskriminierungsberatung ist ein wichtiges Element von Antidiskriminierungs­politik und -arbeit. Ergänzend zu der konkreten Unterstützung von Betroffenen, die Sie in Ihrer Frage beschreiben, hat Antidiskriminierungsberatung auch den Auftrag, aufbauend auf den konkreten Diskriminierungsfällen fallübergreifend Impulse für strukturelle Veränderung zu setzen. Insbesondere auf dieser strukturellen Ebene und der nachhaltigen Veränderung sind weitere Ansätze wichtig. Bevor ich einige dieser Ansätze nenne, möchte ich zunächst einmal das übergeordnete Ziel umreißen – denn Ansätze sind ja Wege und dahinter steht die Frage, wohin sie führen sollen: Als übergeordnetes (Arbeits-)Ziel von Antidiskriminierungsarbeit würde ich eine gelebte Antidiskriminierungskultur bezeichnen. Das bedeutet einerseits eine Sensibilität für Diskriminierung, ein geteiltes Grundverständnis und eine Sprache, um Diskriminierung zu thematisieren. Und andererseits eine Handlungsfähigkeit sowohl aufseiten der Betroffenen, aber auch der persönlich und/oder institutionell Diskriminierungsverantwortlichen, um konstruktiv mit Diskriminierung umzugehen und gute Lösungen für konkrete Verletzungs- und Ausschlusserfahrungen zu finden und diskriminierende Strukturen und Praxen zu ändern.

Janine Dieckmann
Und wie sehen konkrete Handlungsansätze und notwendigen Schritte von Antidiskriminierungsarbeit aus, um dieses Ziel zu erreichen?

Daniel Bartel
Auf der obersten strukturellen Ebene gehören beispielsweise die Erhebung von Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsdaten dazu, die Klärung und Stärkung des rechtlichen Diskriminierungsschutzes (etwa durch die aktuell laufende AGG-Reform oder Landesantidiskriminierungsgesetze), die Institutionalisierung von Zuständigkeiten in Politik und Verwaltung vor allem auf kommunaler und Landesebene (Stichwort hier sind u. a. kommunale Antidiskriminierungsstellen und Landesantidiskriminierungsstellen), die Stärkung bzw. das Capacity-Building von Selbstorganisationen und Empowerment-Strukturen und die Etablierung von Antidiskriminierung als Querschnittsthema in den zentralen Lebensbereichen, z. B. des Bildungssystems.

Zwischen den ganz großen Stellschrauben und dem Einzelfall geht es auf Ebenen konkreter Institutionen um eine Etablierung und Stärkung der Diskriminierungssensibilität durch Qualifizierungen, Weiterbildung und Sensibilisierung, aber auch Empowerment-Angebote und -Räume sowie übergreifend gesprochen um diversitäts- und diskriminierungssensible Organisationsentwicklungsprozesse, die neben einer grundsätzlichen Sensibilisierung auch die Etablierung von Monitoring und Beschwerdeprozessen und einer systematischen Reflexion der Personal- und Produkt-/Leistungspolitik umfassen. Ebenfalls auf dieser Zwischenebene sind für mich Ansätze verortet, die sich an die breite Öffentlichkeit und/oder gezielt an spezifische Gruppen richten: die Felder der Bildungsarbeit, der Empowerment-Arbeit, der Öffentlichkeits- und Vernetzungsarbeit.

Janine Dieckmann
Inwieweit teilen Sie meine Einschätzung, dass die Demokratie in unserer Gesellschaft auch dauerhaft dadurch unter Druck steht, weil sich unsere Gesellschaft in diesem Kontext nicht ausreichend mit den Ungleichwertigkeitsideologien auseinandersetzt, die sie prägen? – also dass sie den Abbau und die Bekämpfung von Rassismus, Antisemitismus, Sexismus bzw. Heterosexismus, Ableismus und Klassismus auf individueller und vor allem auf institutioneller Ebene nicht als eine wichtige Aufgabe der Demokratiearbeit und Demokratieförderung anerkennt.

Daniel Bartel
Ungleichheitsideologien stellen zentrale Werte der Demokratie infrage, nämlich die allgemeine Menschenwürde und das Gleichheitsgebot. Wenn Menschen kontinuierlich und am eigenen Leib erleben, dass diese Werte für sie nicht oder nur eingeschränkt gelten, kann das Vertrauen in demokratische Strukturen und Prozesse und ein Zugehörigkeitsgefühl erschüttert werden. Gleichzeitig gibt es aber auch wirkmächtige politische Strömungen, die ihre Kraft reaktionär vor allem aus einer Bekämpfung von Teilhabe- und Anerkennungspolitiken ziehen. Hier mischen sich persönliche Benachteiligungserfahrungen mit einer notwendigen Infragestellung eigener gesellschaftlicher Dominanzpositionen und Privilegien, die ihnen durch Ungleichheitsideologien und Machtverhältnissen zugesichert werden. Insofern ließe sich sagen, dass Demokratie einerseits wegen der begrenzten Auseinandersetzung mit Ungleichheitsideologien unter Druck steht, aber zugleich, und aus meiner Sicht in deutlich größerem Maße, eben weil sie sich mit Ungleichheitsstrukturen auseinandersetzt, strukturell benachteiligte Personen und Gruppen gestärkt werden und ihre Interessen und Perspektiven dadurch zunehmend an Sichtbarkeit und Einfluss gewinnen.

Beides kann als Druck bezeichnet werden, aber es sind zugleich auch sehr unterschiedliche Phänomene und unterschiedliche Zielrichtungen. Einmal geht es darum, durch eine Auseinandersetzung mit Machtverhältnissen und Ungleichheitsideologien demokratische Prinzipien durchzusetzen. Im anderen Fall geht es darum, die Demokratie in letzter Konsequenz abzuschaffen. Daraus folgt, dass Demokratiearbeit mindestens zwei Zielrichtungen hat: einerseits die Prinzipien der Menschenwürde und des Gleichheitsgebotes konsequent durchzusetzen und andererseits diese Werte zu verteidigen und sich mit politischen Bewegungen auseinanderzusetzen, die diese Veränderungen grundsätzlich ablehnen und bekämpfen. Bezüglich der Gewichtung der beiden Ziele und der grundsätzlichen Relevanz von Demokratiearbeit überhaupt gibt es unterschiedliche Positionen. Aus meiner Perspektive ist der Bereich der Demokratiearbeit noch stark im Konzept des Extremismus verhaftet und in der Praxis sollte ein stärkeres Gewicht auf Ansätzen und Akteur*innen liegen, die an der systematischen Durchsetzung demokratischer Zustände arbeiten. Grundsätzlich halte ich den Stellenwert, den Demokratiearbeit als Politikfeld neben anderen einnimmt, nach wie vor für zu klein und für zu randständig. Der Einfluss auf Gesellschaft wird unterschätzt.

Janine Dieckmann
Welches Konzept von Antidiskriminierungsarbeit sollte der zukünftigen politischen und zivilgesellschaftlichen Arbeit zugrunde liegen?

Daniel Bartel
Meiner Meinung nach braucht es ein machtkritisches Konzept, das Diskriminierung als einen Ausdruck von gesellschaftlichen Machtverhältnissen versteht, die sich in Strukturen und Praxen einschreiben und auf individueller, institutioneller und struktureller Ebene existieren und wirken. Entsprechend müssen die konkreten Antworten und Maßnahmen alle drei Ebenen adressieren, wobei die institutionelle und strukturelle Ebene gesamtgesellschaftlich betrachtet natürlich die größte Wirkung und Reichweite haben. Gleichzeitig sind die individuelle Ebene und die Ebene konkreter Konstellationen unverzichtbar, um Betroffene zu unterstützen und übergreifende und präventive Maßnahmen zu entwickeln. Wichtig für ein Antidiskriminierungsarbeitskonzept ist auch, unterschiedliche Betroffenheiten und strukturell benachteiligte Perspektiven systematisch zu zentrieren, privilegierte Perspektiven zu dezentrieren und einen Umgang mit zwangsläufig auftretenden Widersprüchlichkeiten zu kultivieren und zu pflegen.

 

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1    Die Studie „Gut beraten! Auf dem Weg zu einer flächendeckenden Antidiskriminierungsberatung in Deutschland“ ist die erste umfassende Bestandsaufnahme und Beschreibung der aktuellen bundesdeutschen Antidiskriminierungs(beratungs)strukturen, siehe: www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/downloads/DE/ publikationen/Expertisen/gut_beraten_flaechendeckende_antidiskrimberatung.html?nn=305458