Angriff auf die Pressefreiheit: Medienschaffende im Fokus rechter Hetze, Bedrohungen und Gewalt

Die Zunahme rechter Angriffe auf Medienschaffende in Deutschland führte mit Blick auf das Jahr 2021 laut Bericht der NGO „Reporter ohne Grenzen“ zu einer Herabstufung Deutschlands in der „Rangliste der Pressefreiheit“. Rechte Hetze, Bedrohungen und Gewalt gehören auch in Thüringen zum Alltag von Medienschaffenden, die von rechten Versammlungen berichten. Der „Angriff auf die Pressefreiheit“ wird qualitativ mit Beispielen aus Thüringen veranschaulicht, u. a. vom sogenannten Fretterode-Prozess. Weiter werden Handlungsempfehlungen im Bereich des Opferschutzes gegeben sowie die Initiative schutzkodex.de vorgestellt, die vor allem Medienhäuser in die Verantwortung für die Arbeitsbedingungen der (freien) Medienschaffenden nehmen will.

 

Einleitung

Die internationale Nichtregierungsorganisation „Reporter ohne Grenzen“ meldete für das Jahr 2021 einen Negativrekord: Die Zahl der Angriffe auf Medienschaffende in Deutschland war seit Beginn der Dokumentation im Jahr 2013 noch nie so hoch. Von den insgesamt 80 registrierten Angriffen – erfasst werden Körperverletzungen, psychisches oder seelisches Leid sowie beruflicher Schaden (Reporter ohne Grenzen 2022a) –, ereigneten sich die meisten bei den rechten „Querdenken“-Protesten. Die zunehmende Gewalt gegen Journalist*innen ist einer der zentralen Gründe, warum Deutschland wiederholt in der „Rangliste der Pressefreiheit“ heruntergestuft wurde. Damit ist die Pressefreiheit im zweiten Jahr infolge nur noch „zufriedenstellend“ (Reporter ohne Grenzen 2022b).

Auch in Thüringen ist rechte Gewalt gegen Medienschaffende im Jahr 2021 weiter eskaliert: Durch das unabhängige Monitoring von ezra, der Beratungsstelle für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Thüringen, wurden acht Angriffe auf Journalist*innen gezählt, darunter vorrangig tätliche Angriffe sowie Nötigung und Bedrohung. Das ist im Vergleich zu 2020 eine Vervierfachung (ezra 2022a). Die registrierten Angriffe der Thüringer Opferberatungsstelle geben nur einen kleinen Einblick in ein Klima rechter Hetze, Bedrohungen und Gewalt, dem Medienschaffende regelmäßig ausgesetzt sind.

Insbesondere freie Journalist*innen, die zu den massiven extrem rechten Mobilisierungen der letzten Jahre berichten, stehen im Fokus der Angriffe. Pressefeindliche Vorfälle haben dort eine erschreckende Normalität erreicht. Die Situation hatte sich mit den sogenannten „Spaziergängen“ gegen die Maßnahmen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie noch einmal verschärft. Freie Journalist*innen mussten stellenweise, wie im Februar 2022 in Erfurt, ihre Berichterstattung abbrechen, nachdem sie bedroht, getreten und durch die Stadt gejagt wurden (Twitter Noah Berendt 2022a). Der Journalist Lionel C. Bendtner verwies auf ein Gefahrenpotenzial, das sich über Wochen immer weiter verschärft und konkrete Einschränkungen für die Berichterstattung zur Folge gehabt habe. Trotz der zunehmenden Gefahr, die von den rechten „Querdenken“-Protesten ausging, zeigte die Thüringer Polizei an den Montagabenden Bendtner folgend kaum Präsenz und schützte Journalist*innen oft nicht. Bendtner kritisierte, dass „Pressefreiheit scheinbar wirklich kleingeschrieben wird“ (Twitter Lionel C. Bendtner 2022b). Diesen Eindruck bestätigen Berichte von Journalist*innen, die am Rande einer unangemeldeten „Querdenken“-Demonstration in Sömmerda von der polizeilichen Einsatzleitung hören mussten, „dass die Polizei nicht dazu da sei, sie zu beschützen“ (Klaus 2022). Dass sich daran nichts geändert hat, zeigen die pressefeindlichen Angriffe bei den extrem rechten Protesten am „Tag der Deutschen Einheit“ im Oktober 2022 in Gera und Heiligenstadt, die auch aufgrund fehlenden Polizeischutzes zur Folge hatten, dass die Berichterstattungen abgebrochen werden mussten (ezra 2022c). „Reporter ohne Grenzen“ teilte ebenfalls mit, dass betroffene Medienschaffende häufig über mangelnde Unterstützung durch die Polizei klagen (Reporter ohne Grenzen 2022).

Wenig Kenntnis zeigen Thüringer Polizei und Innenministerium bezüglich den dahinterstehenden Tatmotivationen. In der Statistik zu politisch motivierter Kriminalität (PMK) für das Jahr 2021 wurden entsprechende Fälle nicht als rechtsmotiviert eingestuft, sondern als „nicht zuzuordnen“ (Thüringer Ministerium für Inneres und Kommunales 2022). Im Gegensatz zu Expert*innen aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft, die frühzeitig auf die zentrale Rolle von extrem rechten Akteur*innen und weit verbreiteten rechten Ideologien wie Antisemitismus und Verschwörungserzählungen bei den „Querdenken“-Protesten hingewiesen haben (Kleffner und Meisner 2021), werden diese unter der PMK-Kategorie „nicht zuzuordnen“ erfasst (TMIK 2022). Dabei handelt es sich um eine Fehleinschätzung, die auf Bundesebene fortgesetzt wird (Bundesministerium des Innern und für Heimat/Bundeskriminalamt 2022). Die Kategorie bildet ihren Gegenstand nicht ab und hat zur Folge, dass in offiziellen staatlichen Statistiken unsichtbar bleibt, welche enorme Gefahr für Medienschaffende und Pressefreiheit von rechts ausgeht.

Freie Journalist*innen im Fokus von Neonazis – ein Abriss am Beispiel Fretterode

Seit Jahrzehnten stehen insbesondere freie Journalist*innen, die zur extremen Rechten recherchieren und berichten, im Fokus von Neonazis. In den zahlreichen Fällen von massiven rechten Bedrohungen und Gewalt, denen diese ausgesetzt sind, zeigt sich eine Kontinuität, mit der auch ein Versagen von staatlichen Behörden und Justiz einhergeht. Beispielhaft dafür steht das „Ermittlungsdesaster von Fretterode“ (Leber 2022) und das anschließende Skandal-Urteil im sogenannten Fretterode-Prozess (Locke 2022).

Am 29. April 2018 werden zwei freie Journalisten bei Fretterode im thüringischen Eichsfeld brutal von Neonazis angegriffen. Die beiden Pressevertreter sind angereist, um ein Organisationstreffen zum 1. Mai im Hause von Thorsten Heise, einem international vernetzten Neonazi und NPD-Kader, zu dokumentieren. Als die beiden Journalisten entdeckt werden, stürmen zwei bewaffnete und vermummte Personen aus dem Haus und verfolgen sie zunächst per Fuß und dann mit dem Auto (Brakemeier 2018). Nach einer Verfolgungsjagd kommen die Journalisten in einem Straßengraben bei Hohengandern zum Stehen und werden von den beiden Neonazis, die sich später als Nordulf H. – Heises Sohn – und Gianluca B. herausstellen, mit einem Messer und einem Schraubenschlüssel angegriffen und verletzt. Im Gutachten der Rechtsmedizin wird später festgestellt, dass die Betroffenen den Angriff nur durch Glück überlebten (Anwaltskanzlei Adam 2021).

In der Anklage, die fast drei Jahre später und nach etlichen Verzögerungen – wie der wochenlangen Überprüfung der Beweisfotos auf Manipulation, die durch die Betroffenen angefertigt wurden und die Täter eindeutig identifizierten – zu Prozessbeginn am Landgericht Mühlhausen verlesen wird, spielt die rechte Tatmotivation keine Rolle. Die Angeklagten inszenieren sich vor Gericht als Opfer einer Ausspähaktion einer „linksextremen Terrorzelle“ (Tornau 2021), welche Anschläge plane und durchführe. Diese Täter-Opfer-Umkehr als Teil der Verteidigungsstrategie der bekannten Szeneanwälte Nahrath und Kunze findet zum einen Ausdruck in der Aberkennung des Journalistenstatus und zum anderen in der Zuordnung der Betroffenen zu einer „gewaltbereiten Antifa“, welche den brutalen Angriff zusätzlich rechtfertigen soll. Dies zeigt sich in mehreren Beweisanträgen: Am dritten Verhandlungstag beantragt ein Verteidiger die Aufhebung des Quellenschutzes und versucht, die Pressetätigkeit eines der Betroffenen zu delegitimieren. Ein weiterer Beweisantrag, der die Recherche als „Fotoangriff“ konstruiert, bagatellisiert den bewaffneten Übergriff auf die Journalisten.

Im Prozess werden eklatante Ermittlungsfehler der Eichsfelder Polizei bekannt. Eine Anweisung an die Polizeibeamt*innen vor Ort machte es möglich, dass die Täter unter ihrer Aufsicht aus dem Täterfahrzeug über einen längeren Zeitraum Gegenstände entnehmen konnten. Wer die Anweisung aus welchem Grund gab, das Anwesen von Thorsten Heise vorläufig nicht zu betreten, ist bis heute unbekannt. Ebenfalls schleierhaft bleibt, dass ein gefundenes Messer im Täterfahrzeug, welches als potenzielles Tatwerkzeug infrage kommt, weder auf Spuren untersucht noch beschlagnahmt wurde, oder warum eine gründliche Durchsuchung des Heise-Grundstückes und des benachbarten Hauses von Gianluca B. nicht stattfand. Hinzu kommt, dass ein Polizist, der das Entwenden von Gegenständen aus dem Tatfahrzeug beobachtete, sich nach seiner Zeugenaussage vor Gericht beim Neonazi-Verteidiger Nahrath erkundigte, ob diese „in Ordnung gewesen sei“ (Leber 2022).

Bereits vor dem eigentlichen Prozessbeginn sahen sich die Betroffenen konkreten Gefährdungen ausgesetzt, zu der die Eichsfelder Polizei beigetragen hatte: Etwa ein halbes Jahr nach dem Angriff war einer der beiden Journalisten in Fretterode erneut vor Ort, um die Anreise von 120 Neonazis zu einem angekündigten „Zeitzeugenvortrag“ zu begleiten. Seine private Adresse wurde aufgrund einiger Beschwerden von der Polizei aufgenommen und sollte später an Heise übergeben werden. Nur durch Intervention des Anwalts des Journalisten konnte das verhindert werden. Die Frage, ob die Weitergabe der Daten eines von Gewalt betroffenen Journalisten an militante Neonazis ein potenzielles Risiko für dessen Sicherheit sei, bewertete das Innenministerium später als spekulativ (Nabert 2019; Thüringer Landtag 2019). Dabei verlautbarte Torsten Heise auf einer NPD-Demonstration im November 2019 in Hannover deutlich, „der Revolver sei bereits geladen“, und titulierte Journalisten als „Schädlinge“ und „Brunnenvergifter“. Mittels weiterer Redebeiträge und Kundgebungsmittel wurde eine Drohkulisse aufgebaut: Zehn kritische Journalist*innen wurden dort namentlich genannt (Krüger 2019).

Der brutale und gezielte Angriff bei Fretterode muss deshalb im Kontext einer Feindmarkierung gegenüber freien Journalist*innen durch die organisierte Neonazi-Szene gesehen werden. Nach etwa viereinhalb Jahren fiel Mitte September 2022 das Urteil: Weder ein pressefeindliches noch ein rechtes Tatmotiv nach §46 Abs. 2 S. 2 Strafgesetzbuch1 wurde anerkannt. Stattdessen war die Urteilsbegründung der Richterin geprägt von einer Täter-Opfer-Umkehr, die von der Inszenierung der angeklagten Neonazis und ihren Anwälten vor Gericht in weiten Teilen übernommen wurde: Notwendige journalistische Recherchearbeiten über zentrale Akteure der militanten Neonazi-Szene wurden zu einem vermeintlichen Angriff. Die Nicht-Anerkennung des pressefeindlichen Tatmotivs ging damit einher, dass die Zuschreibung der Täter gegenüber den Betroffenen als „Zecken“ sogar noch legitimiert wurde. Für die Richterin saßen dort nicht zwei Journalisten, sondern im Sinne einer Gleichsetzung zwischen rechts und links „zwei ideologische Lager“. Wiederholt verwechselte sie die Worte „Nebenkläger“ mit „Angeklagten“ (Twitter NSU Watch 2022c).

Der Angeklagte B. erhielt lediglich eine Freiheitsstrafe von einem Jahr auf Bewährung, der Angeklagte H. muss als Strafe für einen brutalen Angriff, den die Betroffenen nur mit Glück überlebten, 200 Stunden gemeinnützige Arbeit nach Jugendstrafrecht leisten. Die bundesweiten Journalist*innen-Verbände äußerten ihr „Unverständnis“ (DJV 2022) und sprachen von einem „Schlag ins Gesicht investigativer Journalist*innen“ (dju in ver.di 2022). Einer der Betroffenen konstatierte nach dem skandalösen Urteil, sein Vertrauen in den Rechtsstaat sei „bis auf die Grundmauern erschüttert“ (dpa 2022). Er verließ während der Urteilsbegründung den Gerichtssaal.

Feindbild „Lügenpresse“ – Mobilisierung von PEGIDA und AfD

Eine seit Pandemiebeginn im Jahr 2020 zu beobachtende Entwicklung ist die Zunahme des „Lügenpresse“-Narrativs von rechts auf den „Querdenken“-Protesten: Auch lokal agierende, angestellte Journalist*innen sind von Anfeindungen, Bedrohungen und tätlichen Angriffen betroffen. Bereits seit 2014/15 wird im Rahmen der rassistischen PEGIDA-Mobilisierungen und ihrer regionalen Ableger der Begriff „Lügenpresse“ verwendet. Damit werden Medienschaffende systematisch diffamiert. Die Diffamierung „Lügenpresse“ stellt die grundrechtlich geregelte Tätigkeit der Medienschaffenden infrage und konstruiert einen vermeintlich legitimen Grund für die Feindmarkierung, mit der auch Bedrohungen sowie körperliche Gewalt einhergehen und gerechtfertigt werden können.

In Thüringen schlossen sich rechte Parteien diesen Entwicklungen an und markierten neben Migrant*innen und politischen Gegner*innen die Presse als Feind. Am Rande einer AfD-Kundgebung in Jena wird 2017 neben einer Landtagsabgeordneten ein Journalist von zwei Teilnehmenden angegriffen (ezra 2017). Dies verwundert nicht, hat die AfD doch bereits in sozialen Medien und ihren politischen Reden Stimmung gegen Journalist*innen gemacht und damit ein Klima für Anfeindungen und rechte Gewalt geschaffen. Versuche der AfD, die Angriffe zu verurteilen, blieben unglaubwürdig. Ein Parteisprecher äußerte sich beispielsweise über einen vermeintlichen Missbrauch der Pressefreiheit durch kritische Journalist*innen (Klaus 2017) und bagatellisierte die Angriffe. Die zum Teil verschwörungsideologische Konstruktion von Medienschaffenden als Feindbild hat eine historische Dimension: Sie ist klar als Strategie der extremen Rechten zu verstehen, um Medienschaffende als vermeintliche politische Gegner*innen einzuschüchtern und auszuschalten.

#AusgebranntePresse – Folgen für Journalist*innen und Pressefreiheit

Im Kontext des Pandemiegeschehens wird in Fachkreisen u. a. von „Pressehass“ (ECPMF 2022, 14) gesprochen und im Rückblick auf die Jahre 2020 und 2021 konstatiert, dass die Versammlungen von „Querdenken“ und ähnlichen Initiativen „die gefährlichsten Arbeitsplätze für Journalist:innen“ (ebd.) darstellen2. Auch in Thüringen beschreibt der Deutsche Journalistenverband in einer Stellungnahme die Erfahrungen des Geschäftsführers als „eine beispiellose Welle des Hasses“ (DJV Thüringen 2021).

Die sogenannten „Spaziergänge“ werden von Medienschaffenden selbst oftmals als besonders gefährlich eingeordnet. Dazu trägt grundsätzlich auch die Frage nach körperlicher Unversehrtheit im Pandemiegeschehen bei, wenn ein Großteil der Teilnehmenden keine Schutzmasken trägt. Journalist*innen empfinden das Tragen einer Maske vor diesem Hintergrund einerseits als Schutz (vor einer Infektion), andererseits aber auch als „Markierung“. Hinzu kommt für Foto- bzw. Video-Journalist*innen ihr erkennbar mitgeführtes Arbeitsmittel, wodurch sie sich als „potentielles Ziel von Angriffen“ (ECPMF 2022, 38) erleben und mit Sachbeschädigungen rechnen. Dagegen seien potenzielle Angreifer*innen nicht direkt zu erkennen, das bürgerliche Erscheinungsbild sei trügerisch, zudem fehle es oft an entsprechenden Einschätzungen der Polizeieinsatzkräfte (ebd., 31) – wenn diese überhaupt beim spontanen und unangemeldeten Versammlungsgeschehen anwesend seien. Lokaljournalist*innen stehen demzufolge besonders im Fokus, weil sie durch ihre Tätigkeit einer Vielzahl der Teilnehmenden der Proteste bekannt sind und im Privaten Anfeindungen erleben können (ebd.). Aus dem Szenario ergibt sich eine als dauerhaft empfundene Bedrohungslage, die für viele Betroffene eine besondere psychische Belastung bedeutet. Auch wer keinen physischen Angriff erleben musste, lebt mit einer kontinuierlich geäußerten Ablehnung und Feindmarkierung aus den Reihen der Protestteilnehmenden. Hinzu kommen Veröffentlichungen von Fotos und personenbezogenen Daten, bspw. in Telegram-Chatgruppen, die als „Doxing“ bezeichnet werden.

Unter dem Hashtag #AusgebranntePresse sammeln Journalist*innen seit Dezember 2021 auf sozialen Medien Erfahrungsberichte, die dies bestätigen (DJV 2021). Hinzu kommen Sorgen um eine sichere An- und Abreise – auch in ländlich geprägten Regionen und bei teilweise bereits erlebten Sachbeschädigungen an PKWs – oder Sorgen um die eigene Sicherheit während der Begleitung von Aufzügen, welche zum Teil über selbstorganisierten Personenschutz bewerkstelligt wird. Die Arbeit der Journalist*innen ist von Mängeln auf mehreren Ebenen betroffen. Sarah Ulrich, freie Journalistin, fasst in einem Beitrag zur Debatte #AusgebranntePresse zusammen:

Nicht wenige Reporter:innen – darunter auch ich selbst – haben sich aus der Berichterstattung von Demonstrationen und Corona-‚Spaziergängen‘ zurückgezogen. Warum? Weil die Gefahren, die mit der Berichterstattung einhergehen, in keinem Verhältnis zu dem stehen, was man als freie Journalistin verdient. #AusgebranntePresse ist also auch eine Folge der Krise des Journalismus. (Ulrich 2021)

Damit verweist sie einerseits auf die Verantwortung der Medienhäuser und Auftraggeber*innen, andererseits auf die Konsequenz, dass Presseberichterstattung von als gefährlich eingeschätzten Versammlungen eingeschränkt wird.

Journalist*innen und Pressefreiheit schützen

Wer berichtet also noch, wenn die Gefahr als zu groß eingeschätzt wird? Die Voraussetzungen und Bedingungen für journalistische Arbeit müssen gewährleistet werden, Staat und Polizei stehen dafür in der Verantwortung. Es wird darauf ankommen, den massiven strukturellen Problemen bei Ermittlungsbehörden und Justiz, wie fehlendem Wissen über Erscheinungsformen, Ursachen und Wirkung von rechtsmotivierter Gewalt, durch konkrete Maßnahmen entgegenzuwirken, um eine konsequente Strafverfolgung und einen besseren Schutz von Journalist*innen und Pressefreiheit zu ermöglichen. Im Fretterode-Prozess wurde zudem die Kontinuität deutlich, dass die sogenannte „Extremismus-Theorie“ und eine Manifestation von Linkenfeindlichkeit immer wieder dafür verantwortlich sind, dass rechte Gewalttäter*innen mit (faktischer) Straffreiheit davonkommen. Um eine dringend notwendige kritische Berichterstattung über die extreme Rechte zu garantieren, müssen entsprechende Forderungen der fachspezifischen Opferberatungsstelle ezra (ezra 2021) oder von zehn Thüringer Beratungsstellen (ezra 2022b) umgesetzt werden. Dazu gehören beispielsweise die Schaffung einer Schwerpunktstaatsanwaltschaft Hasskriminalität nach dem Vorbild in Berlin, verpflichtende Fortbildungen für Staatsanwält*innen und Richter*innen zu zentralen Bestandteilen extrem rechter Ideologie und die Stärkung der Thüringer Polizeivertrauensstelle, indem diese unabhängig wird und mit entsprechenden Ressourcen und Kompetenzen ausgestattet wird.

Doch auch Medienhäuser müssen ihr Interesse an kritischer Berichterstattung mit Maßnahmen zum Schutz von angestellten und freien Journalist*innen untermauern, um Pressefreiheit zu gewährleisten, damit sie nicht vor denen, die sie bedrohen, kapituliert (Ulrich 2021). Dazu haben mehrere journalistische Verbände und der Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG e. V.) die Initiative schutzkodex.de ins Leben gerufen (Schutzkodex 2021). Medienhäuser können sich daran beteiligen, indem sie zur Unterstützung von Journalist*innen bestimmte Standards und Schutzmaßnahmen umsetzen – z. B. feste Ansprechpersonen im Falle von erlebten Angriffe, psychologische und juristische Unterstützung sowie die Gewährleistung von Personenschutz oder regelmäßige Weiterbildungen. Auch die „Funke Mediengruppe“, zu der mehrere Thüringer Tageszeitungen gehören, hat sich verpflichtet, den Kodex umzusetzen. Es wäre dringend notwendig, dass sich auch der MDR endlich beteiligt, um freie und feste Mitarbeitende in Zeiten von massiver extrem rechter Mobilisierung besser zu schützen. Nicht zuletzt braucht es mehr Solidarität von Zivilgesellschaft und politischen Verantwortungsträger*innen mit den betroffenen Medienschaffenden, die sich tagtäglich enormer Gefahr aussetzen. Diese muss auch für freie Journalist*innen gelten – gerade dann, wenn sie durch ihre wichtigen Recherchen im Fokus einer militanten Neonazi-Szene stehen. Eine Reproduktion von rechten Narrativen, etwa einer „linksgrün versifften“ Presse, wie vom MDR Thüringen im Rahmen der Berichterstattung über den Fretterode-Prozess geschehen (MDR Thüringen 2021), indem eine politische Verortung der Journalisten stattfand, ist das Gegenteil von Solidarität unter Kolleg*innen. Es verkennt die zuvor dargestellten Kontinuitäten, die hinter der Eskalation von rechter Gewalt gegen Medienschaffende stehen.

 

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1    Bei der Strafzumessung müssen „die Beweggründe und Ziele des Täters, besonders auch rassistische, fremdenfeindliche, antisemitische und sonstige menschenverachtende“ berücksichtigt werden.

2    An der Studie des Europäischen Zentrums für Presse- und Medienfreiheit (ECPMF) ist zu kritisieren, dass das rechte „Aktivist*innen“-Narrativ für Berichterstattung von freien Journalist*innen übernommen wird und dass Angriffe durch sogenannte Corona-Leugner*innen auf Medienschaffende nicht als rechte Gewalt eingeordnet werden.

Literatur

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