Digitale Turbulenzen: Aufbau einer demokratischen Gesellschaft in Zeiten des digitalen Umbruchs

Empfohlene Zitierung:

Rau, Jan (2023). Digitale Turbulenzen: Aufbau einer demokratischen Gesellschaft in Zeiten des digitalen Umbruchs. In: Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (Hg.). Wissen schafft Demokratie. Schwerpunkt Netzkulturen und Plattformpolitiken, Band 14. Jena, 16–29.

Schlagwörter:

Digitales Zeitalter, Demokratie, Digitale Turbulenzen, Digitale Medien, Social Media, Polarisierung

 


Die digitale Transformation der politischen Öffentlichkeit ist zwar wirkmächtig im Auslösen politischer Turbulenzen und Umwälzungen, jedoch oft schwach, wenn es darum geht, diese Turbulenzen in dauerhaften und konstruktiven politischen Wandel zu kanalisieren. Die hier durch technologischen Wandel entstehenden politischen Möglichkeitsräume bieten sowohl autoritäres als auch demokratisches Potenzial für unsere Demokratien – ersteres gilt es einzudämmen, zweiteres zu ermöglichen. Um diese Ziele zu erreichen, müssen wir im Sinne der wehrhaften Demokratie demokratische Kräfte im digitalen Raum fördern und antidemokratische Kräfte schwächen, einen Mittelweg finden zwischen zu viel und zu wenig Konflikt und Polarisierung im gesellschaftlichen Diskurs und schlussendlich neue Wege erproben, wie digitale Turbulenzen in konstruktiven und langfristigen politischen Wandel kanalisiert werden können.


 

Einleitung

„This [the Internet] is where democracy happens now and there is no going back. […] If we want to make democracy better, this is what we have to tackle.“ – Helen Margetts

In vielen westlichen Demokratien scheinen autoritäre und antidemokratische Kräfte auf dem Vormarsch zu sein oder nur mit größter Mühe zurückgehalten werden zu können (Mudde 2009; De Vries und Hobolt 2020). Dafür verantwortlich gemacht wird oft der Aufstieg des Internets und der sozialen Medien. Sahen in seiner Anfangszeit insbesondere linke und liberale Denker*innen und Bewegungen das Internet als Katalysator für Demokratie und Freiheit, ist heute ist die Mehrheitsmeinung oft das Gegenteil: An die Stelle des Traums einer vernetzten Öffentlichkeit und der Hoffnung auf eine neue Form der Demokratie sind Sorgen über Propaganda, Desinformationen, Verschwörungserzählungen und Echokammern getreten.

Der vorliegende Text gibt einen Überblick über einige der zentralen Herausforderungen, die sich Demokratien im digitalen Zeitalter stellen.1 Ausgangspunkt des Beitrags ist die Feststellung, dass die digitale Transformation politischer Öffentlichkeit substanzielle politische Turbulenzen freisetzt und hierdurch politische Möglichkeitsräume eröffnet. Diese bieten sowohl autoritäres als auch demokratisches Potenzial für unsere Demokratien. Um Ersteres einzudämmen und Letzteres zu nutzen, müssen drei wesentliche Herausforderungen bewältigt werden: 1) Schutz der demokratischen Gesellschaft und der digitalen Öffentlichkeit, 2) Aufbau einer konfliktreichen, aber nicht polarisierenden digitalen Öffentlichkeit und 3) Transformation von durch das Internet befeuerten politischen Turbulenzen in konstruktive Politik.

Wie das Internet Politik verändert und nicht verändert

Wie verändert das Internet die politische Öffentlichkeit und damit die Politik? In dem bereits angeführten Text für die Heinrich Böll Stiftung (Rau und Simon 2022) arbeiten wir heraus, dass eine der wichtigsten Konsequenzen der digitalen Transformation politischer Öffentlichkeit die Dekonstruktion etablierter Machtstrukturen ist. Hierdurch entsteht ein relevantes Potenzial für zunehmende politische Turbulenzen und Umwälzungen (Margetts et al. 2015). Die durch das Internet erfolgte Demokratisierung der Erstellung und Verbreitung von politischen Inhalten und Nachrichten hat zu einer Machtverschiebung in der politischen Öffentlichkeit geführt. Neue digitale Eliten sowie digital aktive Bürger*innen (Jungherr et al. 2020) spielen eine immer wichtigere Rolle bei der Festlegung der politischen Agenda in dieser neuen hybriden Öffentlichkeit (Chadwick 2013), bei der digitale und traditionelle-massenmediale Medienlogiken miteinander interagieren (Klinger und Svensson 2015). Diese Demokratisierung kommunikativer Beteiligungsmöglichkeiten weicht die ehemaligen Machtpositionen etablierter Akteur*innen in Politik und Medien zunehmend auf. Zusätzlich unter Druck gerät gerade die ehemalige Gatekeeper-Position traditioneller Medien durch die im digitalen Raum deutlich verschärfte Aufmerksamkeitsökonomie und die erheblichen ökonomischen Probleme (Nielsen 2019) derselben, welche u. a. aus der neuen Vormachtstellung digitaler Plattformen auf dem Werbemarkt resultiert. In Verbindung mit der Echtzeit-Charakteristik digitaler Kommunikation führen diese Entwicklungen zu einer zunehmenden Schwächung der diskursiven Kontrollhoheit traditioneller Eliten (Klinger und Svensson 2015). Hierdurch kann es zu schnellen, manchmal unvorhersehbaren und oftmals unkontrollierbaren Veränderungen der medialen Agenda kommen, gleichzeitig erstreckt sich dieser Kontrollverlust auch auf die Organisation und Mobilisation von politischem Handeln. Drei zentrale Implikationen dieser digitalen Transformation politischer Öffentlichkeit sind besonders relevant:

  • 1) Digitaler Manövrierraum: Nie war es für politische Außenseiter*innen einfacher, politischen Diskurs mitzugestalten, Parteien und Bewegungen zu gründen, für Demonstrationen zu mobilisieren und Wahlergebnisse zu beeinflussen (Margetts et al. 2015; Jungherr et al. 2019). Diese Akteur*innen sind im Vergleich zum Prä-Internet-Zeitalter in wesentlich geringerem Maße auf etablierte Strukturen und Eliten aus Politik und Medien angewiesen. Dies gilt insbesondere für die Mobilisierung und Koordination ihrer Anhänger*innen, aber auch für die Schaffung diskursiver Sichtbarkeit für ihre Anliegen und sich selbst.
  • 2) Digitale Extreme: Diese Außenseiter*innen sind zwar nicht alle extrem, aber insbesondere extreme Außenseiter*innen nutzen diesen neuen Handlungsspielraum sehr erfolgreich (Jungherr et al. 2020; Miller-Idriss 2020; Bail 2021). Hätten solche Akteur*innen sich vorher in ihren Positionen und ihrer Sprache mäßigen müssen, um von traditionellen Eliten Zugang zur politischen Arena gewährt zu bekommen, könnten sie im Internet ihre extremen Positionen leichter beibehalten. Auch scheinen Nutzer*innen mit radikaleren politischen Positionen im Internet besonders oft politisch aktiv zu sein (Bail 2021). Verstärkt wird dieser Prozess durch die verschärfte Aufmerksamkeitsökonomie im digitalen Raum, da extreme Positionen oftmals besonders viel Aufmerksamkeit versprechen (Jungherr et al. 2019).
  • 3) Digitale Konflikte: Konfliktorientierte und emotional aufgeladene Kommunikation scheint im digitalen Raum oft sehr sichtbar und erfolgreich. Hierzu tragen einerseits der neu geschaffene digitale Manövrierraum für politische Außenseiter*innen sowie die erhöhte Sichtbarkeit politischer Extreme und deren unmoderiertes Aufeinanderprallen bei. Andererseits tragen auch aufmerksamkeitsmaximierende Design-Entscheidungen digitaler Plattformen (Stichwort: Wie bleiben Nutzer*innen möglichst lange auf der Plattform?) und kognitive Prädispositionen von Nutzer*innen (Stichwort: Welche Inhalte sind besonders effektiv darin, unsere Aufmerksamkeit zu gewinnen?) dazu bei, solchen Inhalten besonders viel Reichweite zu verleihen (Zuboff 2019; Brady et al. 2020). Im Resultat ist politische Auseinandersetzung im digitalen Raum oft von einem „Wir gegen die Anderen“-Politikstil geprägt.

Wichtig ist zu betonen: Das Internet ist nicht als Ursache für Chaos, das Aufkommen extremer Stimmen oder konfliktreiche Politik anzusehen. Um diesen Punkt zu verstehen, lohnt es sich, auf die Frage von Politikangebot und -nachfrage zu schauen. Auf diese wird in der Wahl-, aber auch in der Populismusforschung oft bei der Erklärung des (Miss-)Erfolgs von bestimmten Ideologien und politischen Akteur*innen verwiesen (Mudde und Rovira Kaltwasser, 2017). Nach dieser Logik muss es sowohl ein Angebot einer Ideologie oder eines politischen Standpunktes geben als auch muss dieses Politikangebot von den Bürger*innen nachgefragt werden. Beschäftigt man sich nun mit der Frage, wie die digitale Transformation diese Prozesse beeinflusst, sehen wir, dass diese prinzipiell auf beiden Ebenen wirkt: Für die Angebotsseite gilt dies insbesondere für Kommunikation von Politikangeboten (external supply side) und die Selbstorganisation (internal supply side) von politischen Akteur*innen (siehe auch Tab. 1). Und auch die Nachfrage der Bürger*innen nach politischen Angeboten bezüglich bestimmter Themen kann durch eine erhöhte Sichtbarkeit dieser Themen in der digitalen Arena aktiviert, verändert oder erhöht werden. Im Kern dieser gesellschaftlichen Nachfrage stehen jedoch weiterhin diese Themen selbst. Als politische Großthemen, Krisen und grundlegende strukturelle gesellschaftliche Transformationen bestimmen diese im Wesentlichen den gesellschaftlichen „Demand“ nach entsprechenden Politikangeboten (Schroeder 2018).

 

Tab. 1: Angebot und Nachfrage „Außenseiter*innen“-Ideologie und -Politik (eigene Darstellung, entwickelt aufbauend auf das Demand and Supply Model in Mudde und Rovira Kaltwasser (2017), überarbeitet und erweitert aufbauend auf Schroeder (2018), Virchow und Häusler (2018) )

 

Das Internet ist also weder die einzige noch die wichtigste Variable, die Politik beeinflusst. Aber es verändert sie dennoch entscheidend: Politik in der digital transformierten öffentlichen Arena ist gekennzeichnet durch schnell wechselnde Ströme von Akteur*innen, Aufmerksamkeit, Aktivitäten und Ereignissen sowie durch Konflikte und Widerstand gegen den Status quo. Oder wie Margetts et al. (2015) es ausdrücken: „This is a turbulent politics, which is unstable, unpredictable, and often unsustainable.“

Digitale Politik: Weder gut noch schlecht, aber eine neue Realität, die gestaltet werden muss

Die digitale Transformation der politischen Öffentlichkeit bringt Herausforderungen, aber auch Chancen für unsere demokratischen Systeme mit sich. Unsere Aufgabe ist es, diese zu navigieren und einen Mittelweg zu finden – zwischen der Eindämmung der Herausforderungen und der Ermöglichung der Chancen.

Die grundlegende Bedrohung, die durch digitale Transformation entsteht, ist das ihr innewohnende Potenzial für autoritären Missbrauch. Die letzten zehn Jahre haben eindrücklich gezeigt, wie illiberale und autoritäre Akteur*innen und Bewegungen, insbesondere auch aus dem rechtspopulistischen, -radikalen oder -extremen Spektrum, von den neu entstandenen digitalen Medien profitieren konnten. Dies gilt sowohl hinsichtlich des neu entstandenen digitalen Manövrierraums auch bezüglich der Zunahme von extremen Positionen und politischen Konflikten. Doch so wie das Internet autoritären Akteur*innen neue Möglichkeiten bietet, so erweitert es auch den Möglichkeitsraum für marginalisierte, diskriminierte oder unterdrückte Stimmen.2 Diese Gruppen profitieren ebenfalls von der digitalen Transformation und können ihre Themen auf die politische Agenda bringen. Beispiele hierfür finden sich in der Klimabewegung, der Anti-Rassismusbewegung oder der Frauenbewegung. Das demokratische Potenzial digitaler Technologien besteht also u. a. darin, auf real existierende Missstände und Ungerechtigkeiten hinzuweisen.

Bereits oben wurde festgestellt, dass die politischen Turbulenzen, die westliche Demokratien gerade erfahren, zwar digital kanalisiert und ausgetragen werden, jedoch in grundlegenden gesellschaftlichen Krisen und Strukturen ihre eigentliche Ursache finden. Wenn das demokratische Potenzial des Internets uns ermöglicht, diese Krisen zu erkennen und zu bearbeiten, ist die Nutzung dieses Potenzials eine Pflicht- und Überlebensaufgabe demokratischer Systeme ebenso wie die Begrenzung des autoritären Potenzials.

Drei Herausforderungen, die es zu bewältigen gilt

1) Schutz der demokratischen Gesellschaften und der digitalen Öffentlichkeit

Die erste Herausforderung, die es zu bewältigen gilt, ist es, den digitalen Möglichkeitsraum für autoritäre Akteur*innen einzugrenzen. Dieser macht einen wesentlichen Teil des autoritären Potenzials digitaler Medien aus und ist eine weitere Variante einer altbekannten Problematik demokratischer Systeme: der Missbrauch demokratischer Rechte und Freiheiten durch antidemokratische Akteur*innen. Diesen einzugrenzen, jedoch ohne das beschriebene demokratische Potenzial zu untergraben und grundlegende Rechte wie Meinungsfreiheit und Informationsfreiheit zu bedrohen, ist eine der wichtigsten Herausforderungen in der Governance digitaler Räume.

In der Veröffentlichung „Rechtsextreme Online-Kommunikation in Krisenzeiten“ (Rau et al. 2022) wurde diese Herausforderung insbesondere mit Blick auf den digitalen Rechtsextremismus intensiv in den Blick genommen. Hierbei konnten in der Tradition des Konzeptes der wehrhaften Demokratie Handlungsoptionen für Regierungen, Behörden, Politiker*innen und Parteien, Medien und Zivilgesellschaft aufgezeigt werden. Zunächst wurde ein Set an Governance-Kriterien erarbeitet, die einen Ausgangspunkt für die Entwicklung von Leitlinien und das Identifizieren von konkreten Maßnahmen zu deren Durchsetzung darstellen können. Diese Kriterien können dabei helfen, die oben beschriebenen Zielkonflikte zu navigieren. Daran anknüpfend wurden Möglichkeitsräume für (Governance-)Interventionen und begleitende Maßnahmen aufgezeigt, die sich auf drei Anwendungsbereiche erstrecken und von den oben angesprochenen Akteursgruppen auf verschiedenen Ebenen implementiert werden können:

Transparenz soll sicherstellen, dass das „autoritäre Potenzial“ auf digitalen Plattformen und die damit einhergehende (potenzielle) Bedrohung gesellschaftlich nachvollziehbar und einschätzbar wird. Zusätzlich sollen die Governance-Entscheidungen von Plattformen im Umgang mit diesen Problematiken sichtbar und damit kritisierbar gemacht werden. Es geht darum, beurteilen zu können: Welche Gefahr geht von autoritären Kräften auf digitalen Plattformen aus? Und, was tun die Plattformen dagegen?

Die Stärkung der Sichtbarkeit demokratischer Narrative und Akteur*innen stellt eine wesentliche Säule im Umgang mit (digitalem) Rechtsextremismus dar, die auf den Aufbau demokratischer Resilienz und eines demokratischen Immunsystems zielt. Hierunter fällt beispielsweise das gezielte Empowerment von demokratischen Akteur*innen aus Politik, Behörden, Medien, Zivilgesellschaft und Betroffenen von rechtsextremer Online-Agitation im digitalen Raum, aber auch generelle Präventions- und (Medien-)Bildungsarbeit in der Bevölkerung oder demokratieförderndes Plattform-Design. Letzteres kann als Grundlage für den Bau und die Weiterentwicklung digitaler Plattformen dienen.

Auch die Reduzierung von Sichtbarkeit und Reichweite autoritärer Inhalte und Akteur*innen ist zentral für ein erfolgreiches Eindämmen des autoritären Potenzials. Dabei gilt es, zwischen „strafrechtlich relevanten Inhalten“ einerseits und „legalen, aber problematischen Inhalten“ (legal, but harmful content) andererseits zu unterscheiden. Im Kontext strafrechtlich relevanter Inhalte ergeben sich Schwierigkeiten, u. a. durch schwierige Kooperationsbeziehungen von Behörden und Plattformen (insbesondere sog. ,Free Speech‘-Plattformen wie Telegram) sowie durch eine unzureichende Ressourcenausstattung der Behörden. Eine grundlegende Herausforderung für den Umgang mit legalen, aber problematischen Inhalten bildet die Frage, wer auf welcher Legitimationsbasis und anhand welcher Kriterien über die kommunikativen Chancen einzelner Sprecher*innen entscheidet.

2) Eine konfliktreiche, aber nicht polarisierende digitale öffentliche Arena aufbauen?

Die zweite Herausforderung umfasst die Frage, wie wir mit Konflikten und Polarisierung in der digitalen demokratischen Öffentlichkeit umgehen wollen. Eine mögliche gesellschaftliche Polarisierung im Kontext digitaler Medien ist vermutlich eine der meist-diskutierten und -problematisierten Entwicklungen der digitalen Transformation politischer Öffentlichkeit (Rau und Stier 2019; Stark et al. 2021). Hierbei werden nicht nur divergierende Meinungen zu bestimmten Themen (Issue Polarization) in den Blick genommen, sondern es wird auf die emotional aufgeladene Ablehnung gegenüber der anderen Seite (Affective Polarization) geschaut, welche im Extremfall in einen regelrechten Hass gegen über „den Anderen“ münden kann. Diese Befürchtungen scheinen sich mit Blick auf die oben dargelegte neue Salienz besonders extremer Stimmen und affektiv aufgeladener politischer Konflikte und Auseinandersetzungen zumindest in Teilen zu bestätigen. Dass eine solche Entwicklung Gefahren für eine Demokratie birgt, zeigen die Politikwissenschaftler Steven Levitsky und Daniel Ziblatt in ihrem Buch „How Democracies Die“ (Levitsky und Ziblatt 2018). Sie weisen darauf hin, dass eine zu stark ausgeprägte gesellschaftliche Polarisierung unsere gesellschaftliche Fähigkeit zur Zusammenarbeit und Konfliktlösung zerstören kann. Das kann zu politischem Stillstand und zur Unfähigkeit führen, Kompromisse zu finden und Maßnahmen zur Lösung gesellschaftlicher Probleme umzusetzen. Darüber hinaus untergräbt eine extremer werdende gesellschaftliche Polarisierung (Hyperpolarisierung) demokratische Normen und eröffnet im Extremfall zusätzliche Möglichkeitsräume für undemokratische, illiberale und/oder autoritäre Akteur*innen – Polarisierung kann also eine autoritäre Machtübernahme fördern und somit die Demokratie selbst gefährden.

Gleichzeitig muss festgehalten werden: Konflikt ist für eine demokratische Gesellschaft nicht per se problematisch. Die Zunahme von Lärm und Auseinandersetzung, die manche als wachsende gesellschaftliche Polarisierung wahrnehmen und davor warnen, mag für andere das ersehnte Ende einer bleiernen Stille hinsichtlich Marginalisierung und Ausgrenzung bedeuten. Stark artikulierte moralische Ansprüche, ausgeprägte kollektive Identitäten und starke Emotionen können zentrale Bausteine für diese marginalisierten Stimmen sein, um Gemeinschaften zu bilden und Gehör für ihre Themen zu finden (Kreiss und McGregor 2021) – sie sind somit entscheidender Teil des beschriebenen demokratischen Potenzials digitaler Medien. Auch sind negative Emotionen und Abgrenzung von der „anderen Seite“ fester Bestandteil demokratischer Mobilisierung gegenüber undemokratischen, illiberalen und autoritären Akteur*innen. Sie werden gebraucht, um innerhalb demokratischer Systeme eine Brandmauer gegenüber solchen Kräften zu errichten. Laut Levitsky und Ziblatt ebenfalls ein unverzichtbarer Baustein zur Sicherung demokratischer Systeme gegenüber autoritärer Machtübernahme.

Dieser Widerspruch zeigt auf, dass es letztendlich keine einfache Aufgabe ist, Merkmale eines „idealen öffentlichen Diskurs“ zu identifizieren, auch wenn die weite Verbreitung von Habermas‘ Idee einer rationalen und ruhigen Deliberation dies manchmal vermuten lässt. Denker*innen wie Chantal Mouffe zum Beispiel lehnen Habermas entschieden ab und betrachten stattdessen Konflikt und Emotionalität als wesentliche Instrumente für marginalisierte Stimmen (Mihai 2014). Die Vielzahl möglicher unterschiedlicher und potenziell widersprüchlicher Ziele und Aufgaben einer demokratischen Öffentlichkeit zu navigieren, muss als eine äußerst anspruchsvolle Aufgabe betrachtet werden (Heldt et al. 2021).

Es lässt sich festhalten, dass Meinungspluralität und Konflikte ein wichtiger Teil der politischen Öffentlichkeit sind. In Bezug auf die aktuelle digitale Transformation stellt sich jedoch die Frage, ob unsere derzeitig zu oft noch analog geprägten Systeme darauf ausgelegt sind, die Menge und Geschwindigkeit digital kanalisierter Konflikte, Auseinandersetzungen und Emotionen verarbeiten zu können. Es wird darauf ankommen, einen politischen Prozess innerhalb der digital transformierten öffentlichen Arena zu ermöglichen, der einerseits Konflikte und Meinungsverschiedenheiten sowie eine klare Abgrenzung gegenüber autoritären Kräften zulässt, andererseits aber nicht eine Hyperpolarisierung unserer Gesellschaften fördert.

3) Digitale Turbulenzen in konstruktive Politik umwandeln

Wie bereits dargelegt, sind digitale Medien stark darin, kurzfristige politische Turbulenzen zu ermöglichen. Diese politische Energie gilt es in dauerhaften und konstruktiven politischen Wandel zu übersetzen, wobei das demokratisch-partizipatorische Potenzial aufgenommen und das autoritäre Potenzial eingedämmt werden sollte. Wie müssen politische Strukturen umgestaltet werden, damit dies gelingen kann? Drei Bereiche sollen im Folgenden skizziert werden:

Zunächst gilt es festzuhalten, dass Themen und Akteur*innen im digitalen Raum realpolitische Konsequenzen und Auswirkungen haben und daher dringend durch etablierte politische und mediale Akteur*innen und Institutionen wahrgenommen werden müssen. Zwar spiegeln diese Stimmen keinesfalls „den Willen der Massen wider, der endlich ans Licht kommt“ (Karpf 2019), eine kritische Betrachtung und Einordnung ist dementsprechend dringend geboten. Dennoch sind sie relevant, müssen miteinbezogen und die Wichtigkeit ihres Anliegens geprüft werden – idealerweise bevor sie als digital ausgelöste Turbulenz über überforderte traditionelle Akteur*innen und Institutionen hereinbrechen. Bis zu einem gewissen Grad erleichtern digitale Medien und die mit ihnen verbundenen Kommunikations- und Analysemöglichkeiten eine bessere Verbindung zwischen Politik, Medien und Bevölkerung und können so als Stimmungsindikator und Austauschplattform dienen. Wir werden digitale Technologien und Infrastrukturen benötigen, die ein Zuhören und einen Austausch in großem Umfang ermöglichen.

Damit verbunden und als zweiter Punkt ist mehr Kreativität und Experimentierfreudigkeit gefragt, wenn es um Formate geht, die versuchen, langfristige konstruktive Politik statt kurzfristiger Empörung über digitale Medien zu ermöglichen (die, wie wir gelernt haben, durchaus ihren Platz hat – aber aktuell gibt es viel von Letzterem und deutlich weniger von Ersterem). Ein Beispiel hierfür kann Taiwans (digitaler) Konsultationsprozess vTaiwan sein, der die Meinung der Bevölkerung in den Gesetzgebungsprozess einbezieht und dabei einen konstruktiven Austausch fördert und moderiert (Hsiao et al. 2018). Auch die politischen Parteien, zentrale Eckpfeiler vieler westlicher Demokratien, müssen neue Wege der digitalen Beteiligung erkunden (Thuermer 2021). Die Initiative „My Country Talks“3 bringt Bürger*innen zusammen, um sich über Themen auszutauschen, zu denen sie divergierende Meinungen haben (Blattner und Koenen 2023). Projekte wie diese können als Inspiration für den Aufbau von Debattenräumen dienen, die konstruktiven Diskurs fördern. Forschung, etwa die von Bail (2021), zeigt, wie digitale Plattformen gestaltet werden können, um einen solchen konstruktiven Austausch zu ermöglichen. Die Frage, wie eine breite Repräsentation der Gesellschaft in solche partizipatorischen Prozesse einbezogen werden kann und nicht nur ein bestimmter Prozentsatz überdurchschnittlich gebildeter und aktiver Bürger*innen, wird eine zentrale Herausforderung sein – wie bei allen demokratischen Prozessen on- und offline. Verstärkt wird diese Kluft zukünftig möglicherweise durch eine Generationenvariable: So ist ein hohes Desinteresse an Nachrichten gerade bei jungen Menschen ein wiederholter Befund der Forschung (Newman et al. 2022) und stellt einen Grund zur Besorgnis dar.

Drittens wird es darauf ankommen, dass wir verinnerlichen, dass digitale Medien und das Internet die Art und Weise beschleunigt haben, wie wir Politik „machen“ und Angelegenheiten von allgemeinem Interesse behandeln und diskutieren. Unsere politischen Strukturen müssen sich diesem neuen Status quo bewusster werden und darauf reagieren, anstatt darauf zu hoffen, dass wir uns irgendwann in die angenehmen Tage des Vor-Internet-Zeitalters zurückbewegen. Wir müssen lernen, in unserer Demokratie Systeme und Mechanismen zu etablieren, die mit der Geschwindigkeit der digitalen Kommunikation zurechtkommen. Das heißt, wir müssen die Entwicklungen verstehen (siehe erster Punkt) und (fast) zeitgleich auf sie reagieren können (und sei die Reaktion, erfolgreich Geschwindigkeit aus einem heiß laufenden Prozess herausnehmen zu können). Dies ist eine fundamentale Herausforderung für Demokratien, denn demokratische Meinungsfindung benötigt Zeit. Zeit jedoch ist in der Echtzeitlogik digitalisierter Kommunikationssysteme ein (sehr) knappes Gut.

Schlussbemerkungen

Wie in diesem Text herausgearbeitet wurde, ist die digitale Transformation der öffentlichen Arena zwar wirkmächtig im Auslösen politischer Turbulenzen und Umwälzungen, jedoch oft schwach, wenn es darum geht, diese Turbulenzen in dauerhaften und konstruktiven politischen Wandel umzuwandeln. Die durch technologischen Wandel entstehenden politischen Möglichkeitsräume bieten sowohl autoritäres als auch demokratisches Potenzial für unsere Demokratien – ersteres gilt es einzudämmen und zweiteres zu ermöglichen. Um dies zu erreichen, müssen wir im Sinne der wehrhaften Demokratie demokratische Kräfte im digitalen Raum fördern und antidemokratische Kräfte schwächen, einen Mittelweg finden zwischen zu viel und zu wenig Konflikt und Polarisierung im gesellschaftlichen Diskurs und neue Wege erproben, wie digitale Beteiligung in konstruktiven und langfristigen politischen Wandel eingebunden werden kann. Abschließend gilt es jedoch erneut zu betonen: Digitale Medien spielen zwar eine Rolle bei deren Verschärfung oder Ausweitung der politischen Konflikte und Umwälzungen, mit denen wir konfrontiert sind, sie sind jedoch nicht deren Ursache. Die im Beitrag dargelegten Maßnahmen, digital verstärkte Turbulenzen zu moderieren, können nur wirksam werden, wenn wir es zugleich schaffen, die eigentlichen politischen Herausforderungen und Krisen zu bewältigen.

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1 Der vorliegende Text bezieht sich in großen Teilen auf Rau und Simon (2022), eine englischsprachige Publikation mit Felix Simon, Leverhulme Scholar am Oxford Internet Institute, welche bei der Heinrich-Böll-Stiftung veröffentlich wurde.

2 Beide Gruppen können sich selbstverständlich auch überschneiden.

3 www.mycountrytalks.org (abgerufen am 27.10.2023).

 


Jan Rau hält einen Master of Science vom Oxford Internet Institute und ist seit 2020 am (Social) Media Observatory des Leibniz-Institut für Medienforschung | Hans-Bredow-Institut (HBI) und des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt tätig. Er ist Kommunikationswissenschaftler, Internetforscher und Computational Social Scientist und beschäftigt sich mit der Fragestellung, wie das Internet Politik und Gesellschaft verändert. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf Themenstellungen wie Rechtsextremismus, Desinformationen und Echokammern.


 

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