Einleitung
Ob gewollt oder nicht: Als Marc Zuckerberg, der Gründer und Vorstandsvorsitzende von Facebook, sein Unternehmen im Oktober 2021 im „Meta Plattforms“ umbenannte und für das Internet der Zukunft den Begriff des „Metaverse“ in die Welt setzte, war dies auch eine Warnung für die Demokratie. Denn der Begriff des Metaverse wurde zuerst 1992 durch den dystopischen Science-Fiction Roman „Snow Crash“ von Neal Stephenson popularisiert. Darin beschreibt Stephenson ein virtuelles Paralleluniversum in den zukünftigen USA, in das man durch Computerbildschirme eintaucht, mit Avataren alle möglichen sozialen und ökonomischen Interaktionen durchführen und beispielsweise virtuelle Häuser, Grundstücke und Gegenstände erwerben kann. Die digitalen Avatare können – ähnlich dem Levelaufstieg in Computerspielen – ihre Statuspositionen in der virtuellen Welt verbessern. Avatare können im Metaverse des Romans ein höheres soziales Anerkennungs- und Statusniveau erreichen als die dahinterstehenden Menschen in der physischen Realität besitzen. Doch im Metaverse lauert eine Gefahr: „Snow Crash“. Die als Droge, Virus oder Falschinformation interpretierbare Erfahrung breitet sich aus und infiziert durch die immersive Erfahrung an den Bildschirmen die Nutzer*innen vor den Computern. Im Buch „Snow Crash“ ist die reale Welt eine rechtslibertäre Dystopie: Die USA sind in regionale Zonen von Konzernen oder der Mafia aufgeteilt. Die Besitzenden sind Herrscher*innen mit totaler Entscheidungsgewalt u. a. darüber, wer sich wo bewegen oder wo und wie leben darf. Es herrschen rassistische und klassistische Segregation und die Macht der Superreichen. Demokratie und Umwelt sind zerstört. Dagegen erscheint das Metaverse als attraktiver Fluchtpunkt. Der literarische Begriff des Metaverse umfasst somit Warnungen für die soziale Realität: Warnungen vor der Zerstörung der Demokratie und vor den destruktiven Potenzialen einer neuen Generation digitaler immersiver Technologien, die die neuen Erfahrungsräume und Freiheitsgrade virtueller Repräsentanz begleiten.
Zunehmend versuchen auch zivilgesellschaftliche Akteur*innen (bspw. Linux Foundation 2023) und supranationale Institutionen (u. a. European Commission 2023; WEF o. J.), das Metaverse zu gestalten. Analoge Realität und Web 2.0 werden durch die Möglichkeiten des virtuellen Eintauchens insbesondere durch Extended-Reality-Technologien, 360°-Umgebungen sowie durch abstrakte und fotorealistische Avatare ergänzt. Unklar und umstritten ist, wie das Metaverse aussehen wird, ob es so heißen wird, ob das angestrebte Maß der Interoperabilität verschiedener Plattformen innerhalb des Metaverse erreicht werden kann und wie ‚sozial‘ das Metaverse sein wird – im Sinne der Möglichkeit für alle Nutzenden, gleichberechtigt Content kreieren zu können.
Diskussionen zum Metaverse – zwischen Hoffnung und Sorge, Hype und Ignoranz, Wirtschaft und Gesellschaft – sind vor allem in Anbetracht des defizitären Wissens- und Forschungsstands bemerkenswert. Um das Internet von morgen – egal, welchen Namen es tragen und wie es konkret aussehen wird – demokratisch mitgestalten zu können, ist es unerlässlich, zentrale Entwicklungen zu betrachten sowie Chancen und Risiken zu analysieren. In diesem Sinne werden im Folgenden wichtige Begriffe eingeführt, zentrale technologische Hintergründe umrissen sowie einige Aspekte des Verhältnisses zwischen Metaverse und demokratischer Kultur1 skizziert. Die zusammenfassenden Befunde des Beitrags basieren auf der Analyse der Fachliteratur, Hintergrundgesprächen mit Expert*innen aus Digitalwirtschaft, (Sozial-)Wissenschaft und Zivilgesellschaft, Fachsymposien sowie auf explorativen und teilnehmenden Beobachtungen in diversen virtuellen immersiven Umgebungen im Rahmen des Projekts Immersive Demokratie2. Abschließend werden Herausforderungen für (digitale) Zivilgesellschaft und Demokratieforschung benannt.
Immersive Erfahrungen
Das Metaverse existiert noch nicht – die Technikbranche spekuliert darauf, dass etwa ab dem Jahr 2030 von einem vollständig existierenden Metaverse gesprochen werden könnte. Vor allem finanzielle Motivationen treiben die Entwicklung des Metaverse voran: Die Unternehmensberatung McKinsey geht davon aus, dass Geschäftsmodelle in Hinblick auf das Metaverse bis 2030 einen Wert von 5 Billionen Dollar erreichen könnten – insbesondere im Bereich des E-Commerce (McKinsey & Company 2022). Viele große Unternehmen arbeiten daran, physische und virtuelle Güter in digitalen immersiven Umgebungen anzubieten. Mit der steigenden Leistungsfähigkeit und den sinkenden Kosten diverser internetfähiger Geräte, mit denen immersive Umgebungen betreten werden können (Smartphone, Tablet, PC und insbesondere AR- und VR-Brillen), durch das technologische Trendsetting großer Unternehmen wie Apple, Microsoft, Nvidia, Intel, Google und Meta sowie durch die Übertragung immersiver Gamingerfahrungen der jüngeren Generationen in andere Lebensbereiche ist davon auszugehen, dass mehr und mehr Menschen immersivere virtuelle Umgebungen nutzen werden. Seit Zuckerberg den Begriff „Metaverse“ eingeführt hat, steigt die Zahl wissenschaftlichen Publikationen dazu an. Weil viele Entwicklungen gerade erst stattfinden, sind Definitionen nur vorläufig und veränderbar. Park und Kim (2022) schlagen folgendes Verständnis vor:
„Metaverse ist ein zusammengesetztes Wort aus Transzendenz (Meta) und Universum und bezieht sich auf eine dreidimensionale virtuelle Welt, in der Avatare an politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Aktivitäten teilnehmen. Der Begriff wird häufig im Sinne einer virtuellen Welt verwendet, die auf dem täglichen Leben basiert und in der sowohl das Reale als auch das Irreale koexistieren.“ (S. 4221, eigene Übersetzung)
Das Metaverse ist von der Idee gekennzeichnet, ein dauerhaft existierendes virtuelles Universum zu schaffen, in dem eine Vielzahl dezentraler immersiver virtueller Umgebungen miteinander verbunden sind (Interoperabilität). Nutzende können als Avatare im Metaverse u. a. handeln, spielen, arbeiten, Sport treiben, Konzerte besuchen, Freund*innen treffen, reisen oder an Bildung teilhaben. Möglich ist es auch, eigene Welten zu gestalten und Wahlkämpfe oder auch Demonstrationen durchzuführen. Zentrales Unterscheidungsmerkmal zum Web 2.0 ist dabei der höhere Grad der Immersion, das heißt das stärkere Eintauchen in virtuelle Umgebungen. Bereits heute sind viele Millionen Menschen in immersiven virtuellen Welten unterwegs – insbesondere in verschiedenen Gaming-Umgebungen, die als zentraler Treiber der Entwicklungen gelten können.
Der Begriff Metaverse umfasst die Gesamtheit einzelner virtueller immersiver Umgebungen. Wie hoch der Grad der Immersion ist, hängt von einer Vielzahl von Faktoren ab, insbesondere:
- Intensität und Qualität: Extended Reality: Augmented Reality, Mixed Reality, Virtual Reality, die durch die jeweilige Technologie erzeugt wird und von der Leistungsfähigkeit entsprechender Geräte abhängt (beispielsweise der VR-Brillen)
- Realismus/Intensität und Qualität der Abbildung der physischen Realität (reine Fantasiewelt, abstrakt, fotorealistisch/digitaler Zwilling)
- Interaktivität/Intensität und Qualität der Interaktion mit der virtuellen Welt (keine bis hohe Interaktion (Social VR))
- (A)Synchronität/Grad der zeitlichen Präsenz (Asynchron, zeitversetzt, Echtzeitpräsenz)
- Sozialität/Grad der Interaktion und Qualität mit anderen User*innen (keine bis audio-visuelle und haptische Interaktionen)
- Authentizität/Grad der Kohärenz und Glaubwürdigkeit der immersiven Erfahrung
Zu den vergleichsweisen neuen Anwendungsfeldern virtueller Immersionserfahrungen gehören u. a. der Handel mit virtuellen (v. a. NFT) und realen Gütern, virtuelle Arbeitsplätze, Sport, Kultur, Bildung, Therapie, Tourismus, Stadtplanung, Medien und Social Virtual Reality.
Mit dem Versprechen intensiverer Erfahrungen in immersiven Umgebungen geht das Risiko einher, dass diese Erfahrungen nicht nur positiv sein können, sondern – intendiert oder nicht – negative individuelle und gesellschaftliche Folgen haben können. Es ist naheliegend, dass auch Belästigungen und Hasssprache im Metaverse besonders intensiv wirken. Insbesondere verbale Echtzeitkommunikation sowie neue nonverbale Äußerungsmöglichkeiten durch Avatare fordern die bisherigen (teil-prekären) existierenden Umgangsweisen mit archivierten toxischen Inhalten in Hinblick auf Regulation, Strafverfolgung und Gegenrede heraus. Dies gilt für Strafverfolgung und Umsetzung von Gemeinschaftsstandards, aber auch für spezifische Angebote zur Unterstützung von Betroffenen.
Künstliche Intelligenz ist auch für das Metaverse im industriellen wie im sozialen Segment eine Schlüsseltechnologie, beispielsweise für Interaktionen mit KI-gestützten Avataren und Umgebungselementen, personalisierter Werbung, beim Erkennen von Verhaltensmustern, bei der Regulation, wenn es etwa um die Bekämpfung von Hassbotschaften und Desinformationen geht sowie im automatisierten Worldbuilding. Erst durch die Unterstützung von KI können virtuelle Umgebungen im großen Maßstab mit einem hohen Grad an Authentizität und Realismus gestaltet werden, beispielsweise durch die Grafik-Engine Unreal 5.
Forschungsstand
Gründung und Entwicklung des Metaverse und demokratierelevante Fragestellungen werden in der Literatur insbesondere unter den Aspekten von Ethik (Slater et al. 2020), Verantwortung und Nachhaltigkeit (Moro-Visconti 2022), Inklusion und Diversität (Zallio und Clarkson 2022), Konsequenzen für das Klima (Palak et al. 2023) sowie in Hinblick auf Regulation (Rosenberg 2022) beleuchtet. Dwivedi et al. (2023) nutzen den Begriff „Darkverse“, um damit dunkle Seiten des Metaverse zusammenzufassen – u. a. die Bedrohung der Privatsphäre und verminderte Realität, Identitätsdiebstahl, invasive Werbung, Fehlinformationen, Propaganda, Phishing, Finanzkriminalität, terroristische Aktivitäten, Missbrauch, Pornografie, soziale Eingliederung, psychische Gesundheit, sexuelle Belästigung. Einige Publikationen formulieren kritische Positionen und Sorgen vor einer neuen Dimension des digitalen Überwachungskapitalismus und werfen die Datenschutzproblematik ein (u. a. Bojic 2022; Anderson und Rainie 2022) oder warnen vor Szenarien gewaltförmiger Radikalisierung (Bajwa 2022). Die neue Dichte an Daten, die durch immersive Technologien gesammelt werden kann, reicht über haptische Bewegungsinformationen, Eye-Tracking, Mikroreaktionen in der Mimik, Stimmenanalysen bis zur kameragestützten Erfassung von Informationen über die physischen Räume, in denen sich Nutzende aufhalten. Auch deutschsprachige Veröffentlichungen zum Thema Metaverse erscheinen seit der Ankündigung von Marc Zuckerberg verstärkt (u. a. Büchel und Klös 2022). Empirische Berichte, Fallstudien oder analytische Auseinandersetzungen mit Dimensionen, sozialen und demokratischen Konsequenzen von Teilaspekten des Metaverse sind allerdings auch international noch rar und empirische Analysen über die Folgen für die demokratische Kultur existieren kaum.
In einer Analyse für die Stiftung Zukunft Berlin und die Foundation Metaverse Europe beschreibt Hermann (2022) u. a. den „Lock-In-Effekt“ (S. 3) eines zentralisierten Metaverse als Herausforderung. Bereits aus den sozialen Medien bekannte negative Effekte könnten im Metaverse verstärkt werden, insbesondere Fake-News und Filterblasen, Hate-Speech und Polarisierung, Biases und Diskriminierung, Mental Health, Verbraucher- und Datenschutz, Überwachung, Kontrolle und Zensur sowie gezielte Werbung (ebd., 4). Ein privatwirtschaftliches Metaverse erscheine problematisch für Grundrechte, die politische Öffentlichkeit sowie demokratische Verfahren und Prozesse (ebd., 5). Es sollten daher u. a. langfristig europäische Strukturen und Unternehmen aufgebaut und auf europäischer Ebene demokratische Prozesse definiert und Regulationen angepasst werden. Nehring (2023) weist in einem Policy Paper der Konrad-Adenauer-Stiftung auf die Notwendigkeit von Regulierung und Strafverfolgung im Metaverse hin und warnt davor, dass Desinformationen in neuen virtuellen Kommunikationsräumen realistischer und intensiver wirken und somit noch gefährlicher werden – insbesondere durch Deepfakes. Er empfiehlt daher frühzeitige Medienbildung über diese neuen Räume.
Unterwegs im Metaverse
Überraschend ist ein Mangel an ethnografischen und demokratiepolitischen empirischen Untersuchungen in immersiven virtuellen Umgebungen, da teils mehrjährige Erfahrungen mit einzelnen Technologien und Anwendungskontexten existieren. Dies gilt insbesondere für den Kontext elektronischer Spiele, Gaming-Studies und vor allem für Metaverse-ähnliche Spiele wie Second Life (Boellstorf 2015) oder Minecraft (Nebel et al. 2015). Das vergleichsweise gut beforschte Sandbox-Spiel Minecraft wird beispielsweise 2021 monatlich von 140 Millionen Spielenden genutzt (Bergert 2021). Auf YouTube und Twitch sind rund um das Spiel virale Communitys entstanden. Das Spiel wird auch in der historischen und politischen Bildung eingesetzt. Mit der „unzensierten Bibliothek“ von Reportern ohne Grenzen ist es Nutzenden aus verschiedenen Ländern möglich, auf Texte zuzugreifen, die in ihrem Land verboten sind.3
Die ADL (2022) stellt fest, dass Diskriminierung und rechtsextreme Ideologien in Onlinegames zunehmen – auch in immersiven Umgebungen wie Fortnite oder Roblox. Auf Roblox finden sich etwa usergenerierte Umgebungen, die nicht nur Kreativität, Zusammenarbeit oder Selbstwirksamkeitserfahrungen stärken können, sondern die auch zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und Rechtsextremismus motivieren können, beispielsweise Umgebungen mit der sozialdarwinistischen Quest, wohnungslose Menschen zu überfahren (Abb. 1). Auch NS-Konzentrationslager und (rechts-)terroristische Anschläge konnten bzw. können nach Recherchen von Mick Prinz im Projekt „Good Gaming“ der Amadeu Antonio Stiftung in der App nachgebaut und nachgespielt werden, obwohl dies mit den Gemeinschaftsstandards nicht vereinbar ist.
Gut erforscht sind psychologische Wirkungen von VR/XR Technologien, die bereits seit einigen Jahren erfolgreich zur Unterstützung von Psychotherapien eingesetzt werden, etwa zur Behandlung von Angststörungen. Auch Potenziale von Virtual Reality (VR) insbesondere für die Therapie von Angststörungen und Depressionen, für die Förderung von Empathie durch Perspektivwechsel sowie für Teilhabe und kulturelle Inklusion sind erforscht (u. a. Herrera et al. 2018; van Loon et al. 2018). VR-Technologien können dabei helfen, Empathie für marginalisierte Gesellschaftsgruppen und Abwertungsmechanismen herzustellen. Für Bildung im Allgemeinen bietet immersives Lernen neue Möglichkeiten (u. a. Frehlich 2020).
Dimensionen demokratischer Kultur im Metaverse
Tabelle 1 fasst relevante Fragestellungen demokratischer Kultur sowie Chancen und Risiken in dieser Hinsicht bezogen auf die Entwicklung des Metaverse heuristisch zusammen. Aus Platzgründen kann auf die einzelnen Aspekte nicht ausführlich eingegangen werden. Insgesamt zeigen sich auf der individuellen Ebene eine Vielzahl von Chancen, insbesondere durch Bildungs- und Perspektivwechselansätze, durch neue Freiheiten der Entwicklung individueller Identitäten, durch virtuelle Selbstwirksamkeitserfahrungen und durch die Möglichkeit, im Metaverse Anerkennungs- und Statusgewinne erreichen zu können. Dabei ist zu beachten, dass auf der individuellen Ebene alle drei Ordnungen des bekannten Digital Divide wirksam werden: 1) ungleiche Zugänge (bspw. beim Erwerb von Hardware/Brillen), 2) ungleiche Nutzung (bspw. Entertainment vs. Bildung) und 3) ungleiche Ergebnisse (bspw. beruflich nützliche soziale Kontakte) (Matzat und Van Ingen 2020). Auf der Mikro- und Mesoebene bietet das Metaverse Ermöglichungs-, Erfahrungs- und Resonanzräume sowohl für zwischenmenschliche Kommunikation, kleine Gruppen sowie für orthodoxe (insbesondere rund um den ökonomischen, soziokulturellen und politischen Mainstream) als auch für heterodoxe Gemeinschaften. Zu unterscheiden ist hier zwischen positiven Partizipationsformen und sogenannter dunkler Partizipation (Quandt 2018).
Während demokratische Partizipation Aspekte der Förderung von Beteiligung, Empathie, Solidarität, Wissen und kritischer Öffentlichkeit sowie (co)kreative Zusammenarbeit umfasst, können als dunkle Partizipation nach Kowert (2020) im Kontext Gaming insbesondere Hate Speech, (sexuelle) Belästigung, Trolling, Griefing, Doxxing, Fake News, Cheating, Trash Talkin, Contrary Play und unangemessenes Rollenspielen verstanden werden. Gerade die letztgenannten Aspekte stellen avatarbasierte Umgebungen vor Herausforderungen, die diese von klassischen sozialen Medien unterscheiden. Gesamtgesellschaftlich, d.h. auf der Makroebene, sind die Risiken für die Demokratie, die in der Literatur sowie in Hintergrundgesprächen genannt wurden, besonders auffällig. Problematisch ist die Einseitigkeit der Gestaltungs- und Entscheidungsgewalt dieser Technologien durch global agierende private Unternehmen. Der Schutz von Daten und die Auflösung sozialer Gemeinschaften und gemeinsamer Realitäten werden ebenso befürchtet wie neue Möglichkeiten der Manipulation – insbesondere in Verbindung mit dem Einsatz von künstlicher Intelligenz.
Auch nationalistische und verschwörungsideologische Akteur*innen kritisieren das immer weitergehende Verschmelzen zwischen realen und virtuellen Realitäten u. a. mit dem Begriff des „Posthumanismus“ und behaupten, damit wollten globale liberale Eliten die totale Kontrolle über die Menschen gewinnen und das Menschsein letztlich vernichten (Dilger 2022). Der technologische Wandel kann daher mit weiter verstärkter politischer Polarisierung zwischen (rechts-)nationalistischen und populistischen Bewegungen sowie der soziokulturellen und -technologischen Entwicklung des globalisierten Kapitalismus einhergehen.
Das Metaverse wird die Individualisierung und wahrscheinlich die Bildung von Subgemeinschaften in digitalen Umgebungen weiter vorantreiben. Dies findet bildlichen Ausdruck in den fast unbegrenzten Möglichkeiten, den eigenen Avatar zu gestalten und subkulturelle Peergroups zu bilden. Unternehmen können durch das Design virtueller Umgebungen die Rahmen für Normalitätsvorstellungen setzen, während demokratisch legitimierte nationale und supranationale Institutionen an Bedeutung und Einfluss verlieren könnten. Den potenziellen Profiten der Unternehmen stehen unberechenbare soziale Folgen gegenüber. Bei dieser schematischen Gegenüberstellung ist zu berücksichtigen, dass sich Interdependenzen zwischen den Ebenen ergeben: Dynamiken und Richtungen dieser Interaktionen sind zukünftig zu erforschen. Gemeinschaften und einzelne Contentcreators können die Entwicklung immersiver digitaler Umgebungen mitgestalten – und sei es durch Protest oder Streik. Durch cokreative Zusammenarbeit sind soziale virtuelle Umgebungen in ständigen Veränderungs- und Erweiterungsprozessen, beispielweise durch Modifikationen oder Updates.
Ansätze demokratischer Beteiligungsmöglichkeiten sind dabei zwar sichtbar, erscheinen aber teilweise prekär oder sogar kontraproduktiv. Neben der Gefahr scheinpartizipativer Prozesse kann die Art und Weise, wie Beteiligung in immersiven digitalen Umgebungen designt ist, auch undemokratischen, plutokratischen Entwicklungen Vorschub leisten: Beispielsweise können auf der Plattform Decentraland Nutzende an Abstimmungen über die Entwicklung und Governance dieser virtuellen Welt teilnehmen. Dabei ist jedoch das Gewicht der Stimme abhängig von der Anzahl der digitalen Währung der MANA-Tokens, die die User*innen halten (Decentraland o.J.). Stimmen derjenigen, die in der digitalen Welt reicher sind, zählen dementsprechend mehr als die Stimmen weniger wohlhabender User*innen. Dies verstößt gegen das demokratische Grundprinzip von „One Person, one vote“, d.h. des Grundsatzes der Gleichheit der Wahl, und erinnert an die Dystopie in „Snow Crash“.
Diskussion
Das Metaverse führt auf verschiedenen Ebenen zu einer steigenden Intensität bereits bestehender Bedrohungen demokratischer Kultur. Dem stehen vielsprechende Anwendungsmöglichkeiten für Bildung, neue Gemeinschaftserfahrungen, zivilgesellschaftliche Organisierung, das Sprengen identitärer, nationaler und sozialer Grenzen und die Ansprache bisher schwer erreichbarer Zielgruppen in der politischen Bildung gegenüber. Die spielerischen und technischen Komponenten können es ermöglichen, Themen jenen zugänglich zu machen, die um klassische Bildungsveranstaltungen oder Ausstellungen eher einen Bogen machen. Demokratie-, Kompetenz- und Wertebildung muss sich mit den Lebensrealitäten der Zielgruppen auseinandersetzen und sollte daher auch neue virtuelle Räume nicht ignorieren. Treibende Unternehmen, Stiftungen und Regulierungsinstitutionen tragen Verantwortung dafür, bei der Entwicklung des Metaverse unabhängige Akteur*innen aus Forschung und Zivilgesellschaft einzubeziehen. Dies setzt bei diesen die Bildung spezifischer Wissensbestände mit dem Ziel transformativer Beteiligung an der Entwicklung des Internets der Zukunft, die Finanzierung partizipativer Projekte und die Etablierung von Austauschforen voraus.
___________
1 „Demokratische Kultur“ bezeichnet die Gesamtheit der Einstellungen, Werte und Verhaltensweisen in einer Gesellschaft, die eine demokratische Ordnung stützen und weiterentwickeln. Eine demokratische Kultur zeichnet sich durch Pluralismus und die Achtung von Menschenrechten aus.
2 Der Beitrag basiert auf Forschung im „Projekt Immersive Demokratie“ unter der Leitung von Matthias Quent im Rahmen des unabhängigen „European Metaverse Research Network“ (EMRN). Das EMRN wurde 2022 mit einer nicht zweckgebundenen Spende von Meta gefördert. Auf der Website www.metaverse-forschung.de finden sich weitere Studien zum Thema sowie eine Übersicht von Partner*innen und Symposien.
3 www.uncensoredlibrary.com/de [07.07.2023].
Matthias Quent, Prof. Dr., ist Professor für Soziologie und Vorstandsvorsitzender des Instituts für demokratische Kultur an der Hochschule Magdeburg. Er forscht derzeit zu Rechtsextremismus und gesellschaftlichem Wandel im Zusammenhang mit ökologischen und digitalen Transformationsprozessen und leitet das Projekt „Immersive Demokratie“.
Literatur
ADL Center for Technology and Society (2022). „Hate Is No Game. Hate and Harassment in Online Games 2022.” Online verfügbar unter www.adl.org/sites/default/files/documents/2022-12/Hate-and-Harassment-in-Online-Games-120622-v2.pdf (abgerufen am 09.05.2023).
Anderson, Janna/Rainie, Lee (2022). The Metaverse in 2040. Pew Research Center. Online verfügbar unter www.pewresearch.org/internet/2022/06/30/the-metaverse-in-2040/ (abgerufen am 09.05.2023).
Bajwa, Aman (2022). Malevolent Creativity & the Metaverse: How the Immersive Properties of the Metaverse May Facilitate the Spread of a Mass Shooter’s Culture. The Journal of Intelligence, Conflict, and Warfare 5(2), 32–52. https://doi.org/10.21810/jicw.v5i2.5038.
Bergert, Denise (2021). Minecraft zählt mittlerweile 140 Mio. Nutzer monatlich. PCWelt. Online verfügbar unter www.pcwelt.de/article/1195175/minecraft-zaehlt-mittlerweile-140-mio-nutzer-monatlich.html (abgerufen am 07.07.2023).
Boellstorff, Tom (2015). Coming of Age in Second Life: An Anthropologist Explores the Virtually Human. Princeton University Press. doi.org/10.2307/j.ctvc77h1s.Bojic, Ljubisa (2022). Metaverse through the Prism of Power and Addiction: What Will Happen When the Virtual World Becomes More Attractive than Reality? European Journal of Futures Research 10(1), 22.
https://doi.org/10.1186/s40309-022-00208-4.Büchel, Jan/Klös, Hans-Peter (2022). Metaverse: Hype oder „next big thing”? Institut der deutschen Wirtschaft Köln e. V. Online verfügbar unter www.iwkoeln.de/studien/jan-buechel-hans-peter-kloes-hype-oder-next-big-thing.html (abgerufen am 09.05.2023).
Decentraland (o.J.). DAO User Guide. Online verfügbar unter docs.decentraland.org/player/general/dao/dao-userguide/ (abgerufen am 28.06.2023).
Dilger, Fabian (2022). #Faktenfuchs: Transhumanisten planen keine globale Verschwörung. Bayerischer Rundfunk. Online verfügbar unter www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/faktenfuchs-transhumanisten-planen-keine-globale-verschwoerung,TQBAPEm (abgerufen am 07.07.2023).
Dwivedi, Yogesh K/Kshetri, Nir/Hughes, Laurie et al. (2023). Exploring the Darkverse: A Multi-Perspective Analysis of the Negative Societal Impacts of the Metaverse. Information Systems Frontiers. https://doi.org/10.1007/s10796-023-10400-x.
European Commission (2022). Call: Culture, the arts and cultural spaces for democratic participation and political expression, online and offline. Horizon Europe Framework Programme (HORIZON). Online verfügbar unter ec.europa.eu/info/funding-tenders/opportunities/docs/2021-2027/horizon/wp-call/2023-2024/wp-5-culture-creativity-and-inclusive-society_horizon-2023-2024_en.pdf (abgerufen am 09.05.2023).
Frehlich, Craig (2020). Immersive learning: a practical guide to virtual reality’s superpowers in education. Lanham, Rowman & Littlefield.
Hermann, Isabella (2022). Demokratische Werte nach Europäischem Verständnis im Metaverse. Berlin, Foundation Metaverse Europe.
Herrera, Fernanda/Bailenson, Jeremy/Weisz, Erika/Ogle, Elise/ Zaki, Jamil (2018). Building Long-Term Empathy: A Large-Scale Comparison of Traditional and Virtual Reality Perspective-Taking. PLOS ONE 13(10), e0204494. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0204494.
Kowert, Rachel (2020). Dark Participation in Games. Frontiers in Psychology 11, 598947. https://doi.org/10.3389/fpsyg.2020.598947.
Linux Foundation (2023). Linux Foundation Announces Launch of the Open Metaverse Foundation. Online verfügbar unter www.linuxfoundation.org/press/open-metaverse-foundation (abgerufen am 30.01.2023).
Matzat, Uwe/Van Ingen, Erik (2020). Social inequality and the digital transformation of Western society: What can stratification research and digital divide studies learn from each other? In: Sabine Maasen/Jan-Hendrik Passoth (Hg.). Soziologie des Digitalen—Digitale Soziologie? Baden-Baden, Nomos, 379–397. https://doi.org/10.5771/9783845295008-379.
McKinsey & Company (2022). Value creation in the Metaverse. The real business of the virtual world. Online verfügbar unter www.mckinsey.com/capabilities/growth-marketing-and-sales/our-insights/value-creation-in-the-metaverse (abgerufen am 07.05.2023).
Moro-Visconti, Roberto (2022). ESG-compliant Metaverse Ecosystems: Clues for Impact Investing. Online verfügbar unter www.researchgate.net/profile/Roberto-Moro-Visconti-2/publication/362179434_ESG-compliant_Metaverse_Ecosystems_A_Multilayer_Network_Interpretation/links/62f6774c52130a3cd717c9ca/ESG-compliant-Metaverse-Ecosystems-A-Multilayer-Network-Interpretation.pdf (abgerufen am 07.07.2023).
Nebel, Steve/Schneider, Sascha/Rey, Günter Daniel Rey (2016). „Mining Learning and Crafting Scientific Experiments: A Literature Review on the Use of Minecraft in Education and Research.” Journal of Educational Technology & Society 19(2), 355–366.
Nehring, Christopher (2023). Manipulation und Desinformation im Metaverse. Berlin: Konrad-Adenauer-Stiftung.
Palak, Sangeeta/Gulia, Preeti/Gill, Nasib Singh/Chatterjee, Jyotir Moy (2023). Metaverse and Its Impact on Climate Change. In: Aaboul Ella Hassanien/ Ashraf Darwish/ Mohamad Torky (Hg.). The Future of Metaverse in the Virtual Era and Physical World. Basel, Springer International Publishing, 211–222. https://doi.org/10.1007/978-3-031-29132-6_12.
Park, Jinsu/Kim, Naeun Lauren (2022). From Metaverse to the Real World: The Role of Avatar Identification in Consumer’s Virtual Purchasing Behavior. Innovate to Elevate. Innovate to Elevate. Iowa Staate University Digital Press. https://doi.org/10.31274/itaa.15732.
Quandt, Thorsten (2018). Dark Participation. Media and Communication 6(4), 36–48. https://doi.org/10.17645/mac.v6i4.1519.
Rosenberg, Louis (2022). Regulation of the Metaverse: A Roadmap: The risks and regulatory solutions for largescale consumer platforms. 2022 the 6th International Conference on Virtual and Augmented Reality Simulations, 21–26. https://doi.org/10.1145/3546607.3546611.
Slater, Mel/Gonzalez-Liencres, Cristina/Haggard, Patrick/Vinkers, Charlotte/Gregory-Clarke, Rebecca/Jelley, Steve/Watson, Zillah/Breen, Graham/Schwarz, Raz/Steptoe, William/Szostak, Dalila/Halan, Shivashankar/Fox, Deborah/Silver, Jeremy (2020). The Ethics of Realism in Virtual and Augmented Reality. Frontiers in Virtual Reality 1(1). https://doi.org/10.3389/frvir.2020.00001.
Stephenson, Neal (2021). Snow Crash. Frankfurt a.M., Fischer.
van Loon, Austin/Bailenson, Jeremy/Zaki, Jamil/Bostick, Joshua/Willer, Robb (2018). „Virtual Reality Perspective-Taking Increases Cognitive Empathy for Specific Others” edited by C. Lamm. PLOS ONE 13(8), e0202442. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0202442.
WEF (o.J.). The Metaverse. Online verfügbar unter www.weforum.org/topics/the-metaverse (abgerufen am 07.05.2023).
Zallio, Matteo/Clarkson, P. John (2022). Designing the metaverse: A study on inclusion, diversity, equity, accessibility and safety for digital immersive environments. Telematics and Informatics 75, 101909. https://doi.org/10.1016/j.tele.2022.101909.