Polarisierung durch oder auf soziale(n) Medien?

Empfohlene Zitierung:

Gemkow, Johannes (2023). Polarisierung durch oder auf soziale(n) Medien? In: Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (Hg.). Wissen schafft Demokratie. Schwerpunkt Netzkulturen und Plattformpolitiken, Band 14. Jena, 44–57.

Schlagwörter:

Polarisierung, soziale Medien, Populismus, Jugend

 


Soziale Medien haben sich im Leben Jugendlicher institutionalisiert. Sie sind nicht mehr wegzudenken und erfüllen bestimmte Funktionen, wie das Pflegen sozialer Beziehungen, konsumtive Unterhaltung oder Organisation des Alltags. Auch die politische Informationsaneignung findet zu einem nicht unerheblichen Teil auf sozialen Medien statt und ist untrennbar mit dem dortigen sozialen Netzwerk verbunden. Dieser Beitrag diskutiert anhand qualitativer Interviews mit Jugendlichen aus den Jahren 2021 und 2022, wie durch die Wahrnehmung von Populismus auf sozialen Medien Polarisierung entstehen kann.


 

Einleitung

Polarisierung ist eine wiederkehrende Diagnose gesellschaftlicher Zerwürfnisse. Dabei zeigt sich Polarisierung unter anderem in Zukunftsängsten (Schnetzer und Hurrelmann 2021), ökonomischen und sozialräumlichen Ungleichheiten (Mau et al. 2020) und in polarisierten Diskursen (Wolkenstein 2019). Die Rolle von sozialen Medien steht dabei wiederholt im Fokus.

Nicht zuletzt sind 2022 zwei breit rezipierte Bücher dazu erschienen: In „Die vierte Gewalt“ von Richard David Precht und Harald Welzer wurden soziale Medien als „Kultur der Assholery“ (Precht und Welzer 2022, 14) bezeichnet, während Jürgen Habermas in seinem Essay zum Strukturwandel der Öffentlichkeit mit sozialen Medien „enthemmte[…], gegen dissonante Meinungen und Kritik abgeschirmte […] Diskurse“ assoziiert (Habermas 2022, 47). Doch wie können wir den Zusammenhang von Polarisierung und sozialen Medien verstehen? Dieser Frage widmet sich dieser Beitrag.

In den beiden Jahren 2021 und 2022 wurden vom Autor Interviews mit Jugendlichen geführt, in denen die Jugendlichen über ihre Wahrnehmung und Erfahrungen zu Populismus auf sozialen Medien sprachen. Dabei wurde auch diskutiert, ob die sozialen Medien in ihrer Logik mit Filterblasen und Echokammern an sich schon für eine Polarisierung auf diesen Plattformen sorgen. Die beiden Blöcke der Interviews verkörpern die Präpositionen im Titel des Beitrages – „durch“ meint hier, dass soziale Medien durch ihre technologische Infrastruktur per se für Polarisierung sorgen, während „auf“ die Rolle des Handels der Jugendlichen auf den Plattformen fokussiert.

Polarisierung und Populismus

Polarisierung als wiederkehrende zeitgenössische Diagnose gilt als Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland. Unterscheiden muss man dabei zwischen verschiedenen Konzepten von Polarisierung (Neubaum 2020). Im Kontext von sozialen Medien sind dabei insbesondere die ideologische und affektive Polarisierung interessant. Mit der ideologischen Polarisierung ist das Auseinanderdriften von Einstellungen entlang bestimmter Sachthemen (z. B. Migration, Klimawandel) gemeint, während affektive Polarisierung auf die zunehmende wechselseitige Ablehnung verschiedener sozialer Gruppen verweist.

Die Forschung zum Populismus hat ebenfalls unzählige Definitionsvorschläge und Perspektiven entfaltet (Lewandowsky 2022; Gemkow und Ganguin 2023). Wurde 2004 mit Blick auf die Konzeptualisierung von Populismus noch von „inherent incompleteness“ (Taggart 2004, 275) gesprochen, haben sich mittlerweile fachübergreifende Gemeinsamkeiten etabliert. Verbreitung fand vor allem die Definition von Cas Mudde. Mudde definiert Populismus als „ideology that considers society to be ultimately separated into two homogeneous and antagonistic groups, ‘the pure people’ versus ‘the corrupt elite’, and which argues that politics should be an expression of the volonté générale (general will) of the people“ (Mudde 2004, 543).
Zur Anpassungsfähigkeit von Populismus gehört, dass er häufig als „dünne Ideologie“ definiert wird, das heißt, es bedarf einer weiteren, häufig politischen Ideologie, damit der Populismus sich entfalten kann. Zentral für diesen Zugriff ist die Unterteilung in verschiedene Akteur*innen: Volk, Regierung bzw. Eliten – und die Populist*innen als Heilbringende. Im Sinne dieser Definitionen trägt Populismus ein polarisierendes Element (Volk vs. Elite) in sich und besetzt polarisierte Themen, was zu Synergieeffekten zwischen beiden Phänomen führt.

Methode

Die qualitativen Interviews mit Jugendlichen aus dem Umkreis Leipzig und deren Auswertung geben einen tiefgehenden, aber nur ausschnitthaften Einblick in den Umgang Jugendlicher mit Populismus und Polarisierung. Die Jugendlichen waren alle Gymnasiast*innen und ordneten sich politisch als links-liberal ein. Die Interviews wurden mit dem theoretischen Kodieren nach Corbin und Strauss (2015) ausgewertet. Mit dieser Methode wird – auch im Gegensatz zur qualitativen Inhaltsanalyse – das Material deutlich offener aufgebrochenen, um generelle Muster und Zusammenhänge hervorzukehren. Mit der Auswertung zeigen sich drei grundlegende Thesen, die im Folgenden besprochen werden.

These 1: Jugendliche haben Eigendefinitionen von Populismus und Polarisierung.

Die offenen Interviews verfolgten das Ziel, den Jugendlichen keine Definition von Populismus nahezulegen, sondern ihr eigenes Wissen über Populismus und auch Polarisierung erläutern zu können. Dabei zeigte sich, dass Jugendliche über differenziertes Wissen über Populismus verfügen. Dieses Wissen ist, durchaus überraschend, durchweg informell. Überraschend war es deshalb, da sowohl in der neunten Jahrgangsstufe im Lernbereich „Politische Ordnung in der Bundesrepublik Deutschland“ als auch in der elften Jahrgangsstufe im Lernbereich „Politik als Wissenschaft“ des sächsischen Lehrplans für Gymnasien Populismus ein Teil der inhaltlichen Erläuterung des jeweiligen Lernbereichs (Sächsisches Staatsministerium für Kultus 2019) ist. An eine Thematisierung von Populismus im Unterricht konnte sich jedoch keine*r der Schüler*innen erinnern.

Das Wissen der Jugendlichen über Populismus zeigt sich in drei Dimensionen. Erstens einem praktischen Wissen, in welchem sich die Definition von Populismus ausdrückt. Zweitens einem methodischen Wissen, worunter der kommunikative Stil des Populismus fällt, und drittens das motivationale Wissen, unter dem das beabsichtigte Ziel von Populismus benannt wird.

Mit der praktischen Seite des Wissens wird das von den Schüler*innen explizite Verständnis von Populismus geäußert. Populismus wird von den Jugendlichen als der subjektive Anspruch auf die Richtigkeit der eigenen politischen Meinung bei fehlender Auseinandersetzung mit dem Gegenüber verstanden. Die fehlende Auseinandersetzung wird gleichgesetzt mit dem Fehlen von Argumentationen. Ein Ankerbeispiel aus den Interviews dafür ist folgendes Zitat:

„Also erstmal so Halbwahrheiten erzählen, starke Aussagen machen, ohne die dann wirklich begründen zu können.“

Wird nicht mehr argumentiert, kann auch nicht mehr widersprochen werden. Dabei spielt die wertebezogene Dimension, die sich in der fehlenden Auseinandersetzung widerspiegelt, eine wichtige Rolle, wie folgendes Zitat zeigt:

„Dass dann halt jemand gegen Ausländer ist oder gegen Frauen und das macht dann auch viel kaputt, glaub ich, weil reden ist schwer, wenn die Meinungen so klar sind. Das ist halt auch Populismus, dass die Menschen glauben, ihre Meinung ist die richtige und dann kann man auch nicht mehr reden.“

Populismus wird mit Themen verbunden, bei dem dieser als dem eigenen Werteempfinden diametral entgegenstehend betrachtet wird (wie hier Ausländer*innen- oder Frauenfeindlichkeit). Solche Themen werden wiederholt von den Interviewten als Konfliktachsen herangezogen, um ihre eigene Abgrenzung zum Populismus zu veranschaulichen. Unter das methodische Wissen fallen die konkreten kommunikativen Stile des Populismus. Folgendes Zitat veranschaulicht dieses Wissen:

„Populismus, ja ähm, halt wenn man Sachen sagt, die einfach nicht stimmen beziehungsweise zu einfach gesagt sind. Also klar, dass beispielsweise nicht alle Flüchtlinge nach Deutschland kommen können, aber das passiert ja auch nicht. Es ist dann halt immer so übertrieben und das ist für viele Menschen auch schön, denk ich, weil es Sachen so einfach aufn Punkt bringt und man weiß dann, okay, so ist es richtig und muss sich dann nicht mehr damit weiter beschäftigen.“

Vereinfachungen und Übertreibungen sind beides wiederholt genannte Stilmittel des Populismus. Wie in diesem Beispiel treten Vereinfachungen und Übertreibungen fast synonym auf, in dem die jeweilige Vereinfachung als Übertreibung eines tatsächlichen Sachverhalts auftritt und damit den subjektiven Anspruch auf Richtigkeit stützen soll. Wenn die Jugendlichen neben dem performativen Ausdruck von Populismus Aspekte wie die „Lenkung durch Tech-Konzerne“, die Möglichkeit der Partizipation und Organisation (nach dem Motto: „Das ist halt einfach für die sich zu organisieren und ihr Weltbild zu verteilen“) sowie Bots oder algorithmisch gelenkte Aufmerksamkeitserregung genannt haben, dann ist das Ausdruck der technischen Möglichkeiten, die soziale Medien für den Populismus bieten.

Schließlich verfügen die Jugendlichen auch über ein ausdifferenziertes motivationales Wissen über Populismus auf sozialen Medien. Darunter ist die intendierte Wirkung von Populismus zu verstehen, wie sie in folgendem Zitat zum Ausdruck kommt:

„Ich denke, glaub ich zuerst an Meinungsmache. Also, das halt man, dass Leute versuchen, irgendwie einen von einer anderen Meinung zu überzeugen, indem sie eben sehr sehr viel auch nicht so seriöse Sachen teilen.“

Das Setzen von bestimmten Deutungsweisen wird hier mit persuasiver Intention verknüpft. Meinungsmache und Persuasion sind neben der Manipulation die auffälligsten Äußerungen der Jugendlichen.

Populismus wird durch die Jugendlichen nicht im Sinne der hier zitierten sozialwissenschaftlichen Definition wiedergegeben. Die Jugendlichen beziehen Populismus nicht auf gesellschaftliche Muster (bspw. Volk und Elite), sondern auf eine subjektive Disposition (bspw. unkritische Annahme der Richtigkeit der eigenen Meinung), die in interaktionistischen Settings, wie einer Diskussion, hervorkommt.

Wenn Populismus durch die Jugendlichen mit Polarisierung in Verbindung gebracht wird, zeigen sich, in Einklang mit der sozialwissenschaftlichen Literatur, gesellschaftliche Muster. Polarisierung wird zum einen als kommunikativer Stil von Populist*innen verstanden. Sprich, Populist*innen bedienen sich absoluten Aussagen, die polarisierend sind. Dies zeigt sich auch in Forschungsbefunden, nach denen Populist*innen krisenrhetorische Themenbereiche mit polarisierten Argumentationen bedienen (Schemer et al. 2018; Roberts 2021, 5). Zum anderen wird Polarisierung von den Jugendlichen als eine Begleiterscheinung von Populismus verstanden. Polarisierung ist eine wichtige Ursache für Populismus, die die Jugendlichen als gesellschaftliche „Lagerstimmung“ bezeichneten. In Form einer gesellschaftlichen „Spaltung“ entfache der Populismus aber auch selbst wieder polarisierte Fronten. Das Zusammenspiel von Populismus und Polarisierung lässt sich auch theoretisch untermauern: Populismus baut u. a. auf einer moralisierten Unterscheidung zwischen „gutes/reines Volk“ und „böse/korrupte Eliten“ auf und enthält damit immer eine Dichotomie, in der sich diskursiv Polarisierung entwickeln kann (dazu auch: Wolkenstein 2019, 56).

Während die Jugendlichen Populismus subjektivieren, sehen sie Polarisierung als gesellschaftliches Problem an. Dabei thematisierten sie eher die ideologische Polarisierung, wenn bestimmte wahrgenommene Fronten anhand von einzelnen Themen veranschaulicht wurden.

These 2: Jugendliche handeln auf sozialen Medien weder in Filterblasen noch Echokammern.

Die interviewten Jugendlichen pflegen zwar ein konsensorientiertes Netzwerk auf sozialen Medien und sind von direkten Populismuserfahrungen, also populistischen Äußerungen aus dem eigenen Freundeskreis nicht betroffen, begegnen aber in anderen Zusammenhängen auf sozialen Medien Populismus. Damit zeigt sich, dass bei der Nutzung sozialer Medien durch Jugendliche prinzipiell keine homogenen Informationsrepertoires vorherrschen. Dieses Ergebnis bestätigt damit das Fehlen empirischer Evidenzen für die Existenz von sich bestätigenden Informationsumgebungen (Begenat 2016, 315; Stark et al. 2021, 308).

Eher scheint es zuzutreffen, dass Disruptionen zur eigenen politische Meinung wahrgenommen werden können, aber gleichzeitig dann auch ignoriert werden. Ein Ankerbeispiel für diese Haltung zeigt folgendes kurzes Zitat:

„Natürlich kriegt man so etwas auch manchmal so auf Social Media mit, aber da ist man nicht irgendwie persönlich betroffen.“

Hier zeigt sich ein übergreifendes Muster. Während das eigene Netzwerk unbetroffen vom Populismus zu sein scheint, wird Populismus als gesellschaftliches Phänomen problematisiert. Dies zeigt sich beispielsweise, wenn die Jugendlichen von einem „gemeinsamen Aufregen“ über Populismus berichten oder wenn sie sich freuen, „wenn meine Freunde was posten“, was dann dem eigenen Werteempfinden entspricht. Mit Blick auf den Populismus über das eigene Netzwerk hinaus entsteht aber ein Gegenbild, wie folgendes Zitat zeigt:

„Ich glaube eher, dass es schlimmer wird [der Populismus], gut Corona geht irgendwann hoffentlich, aber die Menschen sind halt trotzdem noch da mit ihrer Meinung und das kann man denen auch nicht nehmen und es gibt ja auch andere Themen wie Klima, das bleibt auf jeden Fall und Populismus und so ne Zweilagerstimmung also bleibt schon weiterhin auf jeden Fall.“

Dem Populismus wird auf gesellschaftlicher Ebene eine große Bedeutung zugeschrieben. Dabei wird wiederholt auf eine Spaltung in zwei Lager verwiesen. Für diese Entwicklung sehen die Jugendlichen – konträr zu ihrem eigenen Medienhandeln – die sozialen Medien als mitverantwortlich. Insbesondere die konsumorientierten Plattformbetreiber*innen mit ihren algorithmisch-personalisierten Angeboten und einer nicht näher beschriebenen Ausnutzung menschlicher Psyche werden hier als Gründe angeführt. Ebenso verweisen die Jugendlichen auf sich verstärkende Echokammern in populistischen Netzwerken:

„Also bei Social Media wird halt viel gepostet und du kannst nicht alles kontrollieren, irgendwo findet sich immer was, was halt nicht geht und das ist auch das gefährliche, manche sehen halt immer wieder so was und denken dann, okay das ist wahr und wenn die dann mal was andres mitkriegen, denken die okay, das ist falsch.“

Die Reflexion der Jugendlichen über deren Medienhandeln ist somit ambivalent, folgt aber einer prinzipiellen Unterscheidung zwischen der eigenen Lebenswelt und der Wahrnehmung gesellschaftlicher Wirklichkeit. Für die eigene Lebenswelt wird eine Konsensorientierung ausgemacht, in der die sozialen Medien den eigenen wertekonformen Freundeskreis duplizieren. Für den Bezug zur Gesellschaft hingegen werden soziale Medien als Beförderer von Populismus betrachtet, welcher die Gesellschaft spaltet. Sprachlich manifestieren die Jugendlichen diesen Unterschied durch personaldeiktische Ausdrücke wie „andere“, „viele“, „manche Leute“ oder gar „Jüngere“.

Die Nutzung sozialer Medien scheint zu einer erhöhten Wahrnehmung konfrontierender Meinungen zu führen. Damit einher geht nun aber gerade kein deliberativer Aushandlungsprozess, sondern eine Verzerrung des Meinungsklimas in polarisierte Fronten. Die wiederum bringt eine wahrgenommene Schwächung gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalts bei gleichzeitiger Stärkung von gruppenbezogenen ‚Binnen-Zusammenhalt‘ mit sich.

These 3: Jugendliche handeln auf sozialen Medien nach geteilten Werten.

Der Grund für die Konsensorientierung der Jugendlichen bezüglich ihrer eigenen Lebenswelt könnte in einer Logik der Vergemeinschaftung liegen. Ein Anhaltspunkt dafür ist die These der sozialen Homophilie, nach der sich das soziale Netzwerk der Jugendlichen (auch) online aus Menschen speist, zu denen ein Wertekonsens besteht (‚value homophily‘). Dieser Wertekonsens konnte bereits in den USA als politisch motiviert nachgewiesen werden (Colleoni et al. 2014). Hierbei stellt sich erstens die Frage, inwieweit auch in Deutschland ein (politisch) motivierter Wertekonsens als Bedingung für das soziale Online-Netzwerk der Jugendlichen vorherrscht. Hinweise, dass es einen Wertekonsens gibt, zeigt folgendes Zitat:

„Ähm, auf jeden Fall. Das Problem ist halt bloß, einfach weil ich ja halt in einer Umgebung bin, die halt alle relativ ähnliche politische Meinung haben. Deswegen, ich auch meine politische Meinung habe, glaube ich, zum großen Teil. Ähm, kam das halt nicht wirklich zu Kontroversen oder so, ähm, starken Diskussion, sondern es ging dann halt eher darüber, ja das find ich scheiße, ja, ich auch.“

Das Wissen über Populismus und die soziale Homophilie zeigt, dass es den Jugendlichen wichtig erscheint, sich nicht nur mit den Werten für etwas zu identifizieren, sondern vor allem zu wissen, von wem man sich abzugrenzen hat.
Dabei zeigt sich eine Differenz zwischen dem „Binnen-Zusammenhalt“, also dem partikularistischen Zusammenhalt im Freund*innenkreis, und dem „Zwischen-Zusammenhalt“, also einem gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalt. Beim gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalt divergieren Wahrnehmung und Vorstellung. Während in der Wahrnehmung eine unüberbrückbare Kluft zwischen vom Populismus durchdringenden Strömungen und der lebensweltlichen Harmonie der Jugendlichen herrscht, vermitteln die Jugendlichen eine normative Position des gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalts und fordern diesen (bildungs-)politisch ein. Inwiefern die Ergebnisse damit Hinweise für eine affektive Polarisierung geben, ist bei der einseitigen Stichprobe nur zu vermuten. Da die affektive Polarisierung auf eine wechselseitige Ablehnung politisch Andersdenkender hinweist (Helbling und Jungkunz 2020) und in diesem Fall ein sehr homogenes Milieu der Jugendlichen interviewt wurde, kann somit nur eine einseitige Ablehnung festgestellt werden.

Daran anschließend wird, vor allem beim Umgang mit Populismus auf den sozialen Medien, auf die Unwahrscheinlichkeit einer diskursiven Aushandlung zwischen Populist*innen und Nicht-Populist*innen hingewiesen.

„Naja, was ich halt auch meinte, dass so Aussagen immer so absolut sind. Also es gibt nur dafür oder dagegen und das ist halt schon spalterisch und das merkt man auch dass das schon angekommen ist bei uns, das man mitkriegt, okay, irgendjemand redet nicht mehr mit jemand anderem, weil der oder die das gesagt hat.“

Die defätistische Haltung der Jugendlichen ist im praktischen Wissen über Populismus schon vorbereitet. Dieser wird verstanden als Anspruch auf Richtigkeit der eigenen politischen Meinung bei fehlender Auseinandersetzung mit dem Gegenüber. Auch hier stellt sich nun die Frage, ob die soziale Homophilie ursächlich für den pessimistischen Blick der Jugendlichen gegenüber einer kommunikativen Aushandlung zwischen ihnen selbst und den von ihnen als Populist*innen bezeichneten Akteur*innen ist.

Fazit

Die Interviews mit Jugendlichen zeigen einen differenzierten Blick auf das von ihnen selbst wahrgenommene Medienhandeln. Die Jugendlichen greifen bei der Bestimmung von Populismus und Polarisierung auf eigene Wissensvorräte zurück. Dabei ist jedoch eine deutliche Diskrepanz auszumachen zwischen den eigenen Vorstellungen, was Populismus ist, und den sozialwissenschaftlichen Definitionen von Populismus. Hier stellt sich die Frage, inwieweit diese Unschärfe zu einer möglichen Fehleinschätzung populistischer Kommunikation, gerade auch auf sozialen Medien, aufseiten der Jugendlichen führt.

Es zeigt sich generell, dass die Jugendlichen zwischen der Bedeutung von sozialen Medien für ihr eigenes Medienhandeln und der Bedeutung von sozialen Medien auf gesellschaftlicher Ebene differenzieren. Während soziale Medien den eigenen konsensorientierten Freundeskreis online rahmen, werden sie problematisiert, wenn es um deren Breitenwirkung geht. Möglicherweise spielt hier der Third-Person-Effekt eine Rolle, nach dem Individuen den Einfluss medialer Wirkungen bei anderen als höher betrachten als bei sich selbst (Katz und Aspden 1997). In Zusammenhang mit der allgemein gestiegenen Bedeutung von Populismus und Polarisierung, die auch in den Interviews als mögliche soziale Erwünschtheit eine Rolle spielt, lässt sich die Problematisierung gesellschaftlicher Zustände als Kultivierungseffekt besser verstehen.

Diese von den Jugendlichen vorgenommene Differenzierung veranschaulicht sehr gut, dass die Bedeutung sozialer Medien nur kontextbezogen sinnvoll ist. Bei der Frage, ob soziale Medien grundsätzlich durch ihre technische Infrastruktur zu einer Polarisierung führen, ist durchaus Vorsicht geboten. Soziale Medien können über das gezielte Filtern, Auswählen und Erstellen von Informationen dazu genutzt werden, die eigenen politischen Überzeugungen zu stützen. Jedoch ist auch zu vermerken, dass die Konzepte von Echokammer und Filterblase selbst einen simplifizierenden Impetus in sich tragen, den Bruns mit „ill-defined ideas“ beschreibt (2019, 117). Dahinter liegt die Annahme, dass die beiden Konzepte selbst nicht trennscharf definiert sind und die menschliche Informationsaneignung zu stark verkürzen. Stark et al. (2021) sehen bisher keine empirischen Evidenzen für die Existenz von sich bestätigenden Informationsumgebungen. Viel eher scheint die Nutzung von sozialen Medien zu einer steigenden Zahl konfrontierender Meinungen zu führen, wie auch die Interviews zeigen.

Dass soziale Medien durch ihre technische Infrastruktur zu Polarisierung beitragen können, ist jedoch unstrittig. Vor allen an den rechtspopulistischen Rändern lösen sie Polarisierungseffekte aus (Helbling und Jungkunz 2020), indem soziale Medien verfestigte Meinungen verstärken können (Sung und Lee 2015). Ebenso verweisen die vielseitigen Synergieeffekte zwischen sozialen Medien und populistischen Kommunikationspraktiken, wie fehlende journalistische Gatekeeper*innen, algorithmische Belohnung von Skandalisierung und niedrigschwellige Community-Bildung, auf das Polarisierungspotenzial. Dabei kommt es jedoch immer auch auf die sozial-praxisbezogenen Ebene der*des Medienhandelnden an. Bestimmte Einstellungen, wie Autoritarismus und Demokratiefeindlichkeit, tragen vor allem an den politischen Rändern zu Polarisierung bei. Aber auch mit Blick auf die eher linksliberalen, gut gebildeten Jugendlichen zeigen sich Polarisierungseffekte durch die klare themenbezogene Abgrenzung gegenüber Dritten, den fehlenden Kontakt mit Andersdenkenden und die fehlende Kommunikationsbereitschaft. Der Einfluss sozialer Medien dafür scheint aber grundsätzlich nicht überaus groß zu sein. Die jugendlichen Sozialbeziehungen unterscheiden sich nicht von jenen Beziehungen, die die Jugendlichen abseits von sozialen Medien aufrechterhalten. Viel eher scheint hier doch die Hypothese der „social augmentation“ (Katz und Aspden 1997) zuzutreffen. Mit der ist gemeint, dass die sozialen Ressourcen Jugendlicher sich allgemein auf sozialen Medien online wiederfinden.

Die hier dargelegten Polarisierungstendenzen sind möglicherweise von einer Lesart, die jenseits der Binarität von „durch“ soziale Medien oder „auf“ sozialen Medien herrührt. Der mediale und politische stark aufgeladene Diskurs von einer Spaltung der Gesellschaft in unüberbrückbare Lager wirkt womöglich wesentlich grundleger bei der Selbsteinschätzung der Jugendlichen mit, als dass diese sich selbst in einem dieser Lager verorten könnten (Mau 2022, 18). Dabei spielt der Populismus als Form einer medial wirksamen Erzählung von „oben“ und „unten“ und von „jetzt“ oder „nie mehr“ eine viel größere Rolle als die technische Infrastruktur sozialer Medien, die dann mitunter auch verkürzt als Ausgangspunkt einer „Kultur der Assholery“ (Precht und Welzer 2022, 14) herangezogen wird.

 


Johannes Gemkow,, Dr., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ), Teilstandort Leipzig. Am FGZ forscht Johannes Gemkow über den Zusammenhang zwischen gesellschaftlichem Zusammenhalt und (teil-)öffentlicher Kommunikation populistischer Gruppierungen und Jugendlicher auf sozialen Medien.p>


 

Literaturverzeichnis

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