Lisa Wagenschwanz
Was bedeutet für dich Sicherheit in der heutigen Gesellschaft und in welchem Zusammenhang siehst du den Begriff besonders für Jüdische Gemeinden in Deutschland?
Laura Cazés
Im Essayband „Sicher sind wir nicht geblieben“1 stellt sich die Frage aus unterschiedlichen Perspektiven: Sicherheit als subjektives Gefühl, ebenso als ein Konzept, das mit Ambivalenz behaftet ist, weil die jüdischen Lebensrealitäten in Deutschland in Abhängigkeit davon, wo sie stattfinden und wie sie stattfinden, immer an das Thema Sicherheit geknüpft sind. Sicherheit ist ein omnipräsentes Thema, wenn wir über jüdische Lebensrealitäten in Deutschland sprechen. Sicherheit ist an familienbiografische Kontexte geknüpft, also an Fragen danach, was Sicherheit im familienbiografischen Kontext für Eltern und Großeltern bedeutet hat. Und: Inwiefern hängt das Thema Sicherheit auch mit der jüdischen Facette der Identität zusammen? Gab es eine Fluchterfahrung? Gab es Ausgrenzungs- oder Diskriminierungserfahrungen? Musste man verbergen, dass man jüdisch ist? Wird es auch im Familiengedächtnis so überliefert, dass es heißt: ‚Sag lieber nicht, dass du jüdisch bist, das ist sicherer für dich.‘ Es gibt zudem das anlassbezogene Thema der Sicherheit: Wer sich vielleicht im Sommer 2023 relativ sicher gefühlt hat, fühlte sich vermutlich nach dem 7. Oktober 2023 plötzlich nicht mehr sicher. Das ist auch an die Frage gebunden, ob das Jüdischsein zum Beispiel im Alltag erkennbar ist und es irgendeine Art von Assoziationen gibt, die eine Situation der Unsicherheit oder der Gefährdung erzeugen könnte – also etwa das Tragen eines Davidsterns, einer Kippa oder sonstiger mit dem Jüdischsein assoziierter Symbole, aber eben zum Beispiel auch ein Pullover mit hebräischem Schriftzug oder ein Trikot von Makkabi. Und dann gibt es noch die institutionelle Ebene der Sicherheit und das ist die Sicherheit, die auf jüdische Institutionen und Jüdische Gemeinden bezogen ist. Jüdische Kinder beispielsweise, die in größeren deutschen Städten und auf internationaler Ebene eine jüdische Einrichtung wie einen Kindergarten oder eine jüdische Schule besuchen, sind mit der Situation konfrontiert, dass diese Einrichtungen mit besonderen Maßnahmen gesichert werden müssen, etwa durch Polizeivorkehrungen, Sicherheitsmaßnahmen in Form von anderem Sicherheitspersonal, freiwillige Sicherheitskräfte. In Deutschland gibt es die Besonderheit, dass die Einschätzung, ob eine jüdische Einrichtung durch Polizei gesichert werden muss oder nicht, durch die Landesbehörden getätigt wird. Ein sehr prominenter Fall, in dem die Sicherheit durch die Landesbehörden fehleingeschätzt wurde, war der Anschlag auf die Synagoge in Halle 2019. Wenn es zu einem gewaltsamen Vorfall kommt, werden Jüdinnen und Juden immer wieder gefragt, ob sie überrascht sind über das, was passiert ist. Jüdinnen und Juden würden dann antworten: ‚Nein‘, weil sie sich nicht nur mit der Frage des subjektiven Sicherheitsgefühls befassen müssen, sondern auch mit der Frage der objektiven Gefährdungslage. Die Erfahrung zeigt, dass Jüdinnen und Juden die Gefährdungslage in der Regel gut antizipieren und einschätzen können. An einem der jüngeren Ereignisse, dem antisemitischen Lynch-Mob in Amsterdam, sieht man, dass de facto keine israelische Staatsbürgerschaft oder ein erkennbar jüdisches Symbol vorliegen muss. Vermutlich hat es in Amsterdam gereicht, einen Fanschal von Maccabi Tel Aviv zu tragen. Das ist ein sehr erschreckendes und belastendes, aber vor allem auch anschauliches Beispiel, was es bedeutet, wenn wir über Sicherheit für Jüdinnen und Juden sprechen.
Lisa Wagenschwanz
Der 7. Oktober ist ein Ereignis, das untrennbar mit dem Sicherheitsempfinden von Jüdinnen und Juden verbunden ist. Was verbindest du mit dem 7. Oktober und was bedeutet er für dich konkret?
Laura Cazés
Ich fange damit an, was der 7. Oktober an neuer Qualität im negativen Sinne hervorgebracht hat: Der 7. Oktober ist insofern für Israelis und Jüdinnen und Juden auf der ganzen Welt eine extreme Zäsur, als dass an diesem Tag durch die Massaker eine Form der brachialsten Gewalt zutage getreten ist – mit einer genozidalen Botschaft an Jüdinnen und Juden auf der ganzen Welt. Zugleich war Jüdinnen und Juden bereits am 7. Oktober klar: Die Entladung extremer antisemitischer Gewalt bringt in der Regel noch mehr Antisemitismus mit sich. Die Tragweite und Zäsur des 7. Oktobers ist auch deshalb so einschneidend für jüdische Menschen weltweit, weil die Arten und Formen der Gewalt, die am 7. Oktober verübt wurden, eine besondere Schwere hatten. Wir sprechen davon, dass Jüdinnen und Juden auf der ganzen Welt am 7. Oktober und danach eine Form der kollektiven Sekundärtraumatisierung erfahren haben. Das hat damit zu tun, dass die Gewalt einerseits so extrem, so bewusst sichtbar gemacht wurde und andererseits intendiert war, dass das antisemitische Motiv nicht hinreichend verstanden und gleichzeitig genutzt wird.
Es gibt also drei Ebenen: Erstens, dieser Terroranschlag macht natürlich etwas mit jüdischen Personen, die beispielsweise in irgendeiner Form Verbindungen zu Israel haben, weil Verwandte dort leben oder weil sie selbst dort biografische Bezüge haben, und hat eine große Sorge, Trauer und einen riesengroßen Schock ausgelöst. Die zweite Ebene ist die genozidale Botschaft der Terrorakte und Massaker selbst, die dritte Ebene, dass sich diese Botschaft an alle Jüdinnen und Juden richtet. Es ist nicht bei diesem Tag, dem 7. Oktober, geblieben. Am 13. Oktober wurde von der Hamas und ihrer Anhängerschaft der sogenannte „Tag des Zorns“ ausgerufen, an dem jüdische Einrichtungen auf der ganzen Welt zum erweiterten Ziel dieses Terrors gemacht wurden. Zu diesem Zeitpunkt war überhaupt nicht klar, was jetzt passiert. Also löst das einen Impuls aus? Ist das eine Initialzündung für andere Agitatoren, Trittbrettfahrer, Splittergruppen, oder Gruppen, die möglicherweise durch den Iran oder andere Finanziers unterstützt werden? Also all das hat auf einer extremen Ebene den Alltag von Jüdinnen und Juden eingeschränkt. Ich weiß zum Beispiel, dass am 13. Oktober 2023 in der Jüdischen Schule in Frankfurt nur die Hälfte der Schüler*innen anwesend war – und das, obwohl die Frankfurter Gemeinde im Gegensatz zu anderen jüdischen Gemeinden sehr gut aufgestellt ist in Hinblick auf das Sicherheitskonzept. Dennoch war die Angst zu groß, weil nicht klar war, was an dem Tag passieren wird. Auch nach dem 13. Oktober war es nicht vorbei, der Ausnahmezustand ist anhaltend, wie auch der Krieg zwischen Israel und der Hamas. Es gibt eine weitere Front im Norden und das heißt: Es gab seit dem 7. Oktober 2023 keine Pause vom Ausnahmezustand und der Gefährdungslage und das wiederum wirkt sich auch auf die psychische Gesundheit von Betroffenen aus.
In diesem Ausnahmezustand befinden sich Jüdinnen und Juden auch zwischen politischen Lagern, von denen die einen die Gefährdungslage wahlweise unterschätzen und die anderen die Gefährdungslage instrumentalisieren. Viele Jüdinnen und Juden wollen sich zum Beispiel nicht von rechten Agitatoren instrumentalisieren lassen, die behaupten, dass wir das große Problem des Antisemitismus in muslimischen Communitys finden. Damit ist dem Erklärungsansatz überhaupt nicht genüge getan, denn letztlich besteht die große Gefährdungslage darin, dass Antisemitismus ein politisch akzeptierter ideologischer Kitt ist, der politische Lager miteinander verbindet. In der Gesamtsumme bleiben Jüdinnen und Juden irgendwo dazwischen isoliert zurück und kommen seit dem 7. Oktober nicht aus dem Zustand heraus. Zugleich beobachten viele Jüdinnen und Juden mit großer Sorge aus einer humanitären Perspektive die Situation in Gaza, und zwar ganz unabhängig davon, wie sie zur israelischen Regierung stehen. Der Kriegszustand hält an, am meisten leiden die vulnerabelsten Gruppen.
Lisa Wagenschwanz
Israelbezogener Antisemitismus, Täter-Opfer-Umkehr und Relativierungen nehmen stark zu. Gleichzeitig herrscht zu wenig Bewusstsein für die Katastrophe des 7. Oktober und den andauernden Ausnahmezustand. Was sagen die Reaktionen auf den Terrorangriff und auf die Eskalation im Nahen Osten über den Zustand der offenen Gesellschaft in Europa aus? Wie blickst du auf die Verbindung zwischen dem gesellschaftlichen Umgang mit Antisemitismus, der defizitär ist, und der Gefährdung demokratischer Prinzipien?
Laura Cazés
Ich glaube, dass die demokratiegefährdende Dimension von Antisemitismus jenseits der Erfahrungsspektren, in denen Jüdinnen und Juden Antisemitismus erleben, völlig unterschätzt und nicht verstanden wird. Das ist für mich der Kernpunkt. In der Debatte um Antisemitismus, auch in der Frage danach, wie er sich ausprägt und welche Definition stimmt und welche nicht, wird völlig unterschätzt, an welchen Diskurspunkten und Gewalteskalationspunkten Antisemitismus besonders gut funktioniert – nämlich da, wo er die Funktion hat, zu polarisieren, zu spalten, Demokratien zu schwächen und dafür gleichzeitig unterschiedlichste politische Positionen miteinander zu vereinen. Ich gebe ein Beispiel, das nichts mit dem Nahostkonflikt zu tun hat – die Corona-Pandemie und die Querdenken-Bewegung. Antisemitismus war in den verschwörungsideologischen Spektren, die die Querdenken-Bewegung zusammengebracht haben, ein maßgeblicher ideologischer Kitt. Das hat überhaupt nichts mit dem Nahostkonflikt zu tun, sondern mit der diffusen Zuschreibung von Macht und Eliten und mit verschwörungsideologischen Narrativen, die in krisenhaften Situationen besonders anschlussfähig sind. In der Querdenken-Bewegung konnten wir sehr gut beobachten, wie Personen aus unterschiedlichsten gesellschaftlichen Milieus und politischen Spektren plötzlich eine gewisse Form der politischen Heimat gefunden haben. Aus meiner Sicht ist es deshalb viel wichtiger zu begreifen, welche Funktion Antisemitismus hat bzw. wie durch Antisemitismus getragene Narrative dazu führen, Diskursverschiebungen herbeizuführen, gesellschaftlichen Zusammenhalt und demokratische Bewegungen zu destabilisieren oder demokratische Debatten zu polarisieren und auseinanderdriften zu lassen. Dafür sind auch der Nahostkonflikt und insbesondere die Zeit seit dem 7. Oktober ein gutes Beispiel. Das, was wir in vielen, und das möchte ich nicht verallgemeinern, linken oder sich als progressiv verordneten Spektren beobachten, ist, dass es plötzlich einen fast schon autoritären Bekenntniszwang gibt, Solidarität mit Palästinenser*innen zu bekunden. Dabei gibt es gleichzeitig für eine moderate Verortung, die sowohl israelische als auch palästinensische Perspektiven zulässt, keinen Raum mehr. Dabei wäre es wichtig, auch auf Nuancen zu achten – zum Beispiel inwiefern Terrororganisationen wie Hamas und Hisbollah auch in ihren eigenen Ländern Gesellschaften unterdrücken und welche Funktionen Radikalisierung an der Stelle hat, auch die gesellschaftliche Radikalisierung, und warum vor allem Initiativen, die für den Zusammenhalt und für die Zwei-Staaten-Lösungen usw. einstehen, sowohl unter Palästinenser*innen als auch unter Israelis, so stark marginalisiert und überhaupt nicht mehr gehört werden. Stattdessen wird sehr genau darauf geachtet, welche jüdischen oder israelischen Personen im öffentlichen Raum zum Beispiel die israelische Regierung sehr stark kritisieren. Aus meiner Perspektive wäre aber viel wichtiger zu begreifen, dass Antisemitismus sich nicht nur gewaltförmig gegen Jüdinnen und Juden richtet, sondern Antisemitismus die Funktion hat, gesellschaftliche Debatten in binäre Weltbilder zu drängen, Feindbilder zu konstruieren, einen nuancenbasierten Diskurs nicht mehr zuzulassen und Ambiguitätstoleranz so aus diesen Diskursen zu verdrängen. Ich wünsche mir sehr, dass Antisemitismus nicht nur in Bezug auf den Konflikt zwischen Israel und der Hamas und der Hisbollah, sondern auch in Bezug und im Zusammenhang mit anderen politischen Strömungen, in denen Antisemitismus ein inhärentes Element ist, stärker gesehen wird, denn das fehlt aus meiner Perspektive in aktuellen Debatten.
Lisa Wagenschwanz
Ich war am Wochenende bei einem Vortrag vom RIAS Bundesverband, in dem es um die Verschränkung von Antisemitismus und Sexismus ging. Entsprechende Vorfälle mit dieser Verschränkung sind nach dem 7. Oktober enorm angestiegen2 und das ist gerade in Anbetracht der sexualisierten Gewalt, die am 7. Oktober stattgefunden hat, besonders schwerwiegend und alarmierend. Welche Auswirkungen hat der Anstieg von diesen Vorfällen aus deiner Sicht für jüdische Frauen und queere jüdische Personen und welche Unterstützung brauchen diese?
Laura Cazés
Die Auswirkungen sind absolut gravierend. Ich erlebe es immer wieder in meiner Arbeit. Im September 2024 hat der erste Jewish Women Empowerment Summit nach dem 7. Oktober 2023 stattgefunden. Das ist eine jährliche Veranstaltung, die wir als Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland e. V. (ZWST)3 in Kooperation mit der Bildungsabteilung des Zentralrats und der Jüdischen Studierenden Union veranstalten. Es ging um die Folgen für jüdische Frauen und jüdische queere Personen nach dem 7. Oktober und es lässt sich feststellen: Jüdische Frauen auf der ganzen Welt müssen sich jetzt mit Antisemitismus als Motiv für sexualisierte Gewalt befassen. Das ist eine neue, extrem belastende und extrem gravierende Dimension, die ernst zu nehmen ist. Und was als zusätzlich belastende Facette noch hinzukommt, ist, dass die Milieus, die sich eigentlich inhärent mit Fragen von Sexismus, Frauenfeindlichkeit, Misogynie und sexualisierter Gewalt befassen, die akute Gefährdungslage, die für Jüdinnen seit dem 7. Oktober besteht, nicht ernst nehmen, bagatellisieren, teilweise sogar leugnen – und das nicht nur auf einer individuellen Ebene, sondern tatsächlich auch institutionell. Den Opfern zu glauben, solidarisch mit Betroffenen zu stehen, sich für sie einzusetzen, ihre Diskriminierung oder ihre Gefährdung auch im Zusammenhang mit anderen gesellschaftlichen Marginalisierungen zu denken, all diese Prinzipien galten plötzlich nicht mehr. Vielmehr wurde jüdischen Frauen und queeren Personen plötzlich erklärt, warum sie möglicherweise für diese Gefährdungslage selbst verantwortlich sind oder sie wurde schlicht negiert.
Die sexuelle Gewalt, die die Hamas auf brutalste Art und Weise an Besucher*innen des Nova-Festivals und auch an Familien verübt hat, hat eine ganz besondere Ebene, die zum Beispiel die Menschenrechtsprofessorin Cochav Elkayam-Levy wiederholt hervorhebt – eine israelische Menschenrechtsprofessorin, die sich intensiv mit der Dokumentation, Archivierung und Untersuchung von Fällen extremer sexualisierter Gewalt im Kontext des 7. Oktober befasst, gemeinsam mit der Kommission4, die sie ins Leben gerufen hat. Sie hebt hervor, dass es nicht nur Vorfälle sexueller und sexualisierter Gewalt gab, sondern auch ganz explizit Gewalt gegen Familien: Kinder, die vor ihren Eltern ermordet wurden, Eltern, die vor ihren Kindern ermordet wurden. Hinzu kommt, dass diese Taten gefilmt, live gestreamt und in voller Sichtbarkeit ausgeübt wurden. Das heißt: Die Intention der Terroristen war an dieser Stelle nicht nur, diese Gewalt zu verüben und Opfer und Zeug*innen für immer zu traumatisieren, sondern es sollte auch sichtbar gemacht werden, dass sie es getan haben. Dass diese intendierte Sichtbarkeit geleugnet, bagatellisiert oder relativiert wird, unterstützt den psychologischen Terror, den die ausübenden Terroristen intendiert haben. Dass insbesondere von feministischen Organisationen oder sich als feministisch positionierenden Aktivist*innen global nicht verstanden wird, wie sehr sie damit jüdische Frauen und queere Personen im Stich lassen, hinterlässt eine zusätzliche Belastung, für die bislang keine Heilung eingesetzt hat. Hinzu kommt, dass sich immer noch über 100 Geiseln in der Gefangenschaft der Hamas befinden und davon auszugehen ist, dass insbesondere die weiblichen Geiseln schwerster sexueller Gewalt ausgesetzt sind – bis hin zu Themen wie Menschenhandel, Zwangsprostitution und Schwangerschaft. Das wirkt nach und ist Teil der genozidalen Botschaft an alle Jüdinnen auf der ganzen Welt: ‚Ihr seid nicht sicher.‘
Lisa Wagenschwanz
Jüdische Perspektiven werden im intersektionalen Diskurs oft ausgelassen oder aktiv ausgeklammert. Was denkst du, muss sich ändern, damit intersektionale Allianzen in der Zivilgesellschaft in dem Sinne gelingen können, dass sie ein sichererer Raum werden für die Auseinandersetzung mit und Bekämpfung von Diskriminierungsformen, zu denen auch Antisemitismus gehört? Siehst du ggf. bereits solche Allianzen oder Orte?
Laura Cazés
Zuerst möchte ich unbedingt ein Buch empfehlen: Judith Coffeys und Vivien Laumanns „Gojnormativität. Warum wir anders über Antisemitismus sprechen müssen“5 – aus meiner Perspektive ein wichtiges Werk, das sich mit den Leerstellen in progressiven und sich mit Intersektionalität befassenden politischen Bewegungen und Milieus befasst. Wenn ich jetzt hervorheben müsste, welche Bündnisse es gibt, die Antisemitismus als ein wichtiges Element linker Bewegungen aktiv mitdenken, fällt mir in Deutschland Feminism Unlimited6 ein, eine Initiative, die sich im Zuge des 8. März 2024 zusammengeschlossen hat, um in Berlin eine Demonstration zu organisieren und zum Jahrestag des 7. Oktober eine weitere Demonstration organisiert hat. Aus meiner Perspektive müsste es einerseits eine radikale Auseinandersetzung innerhalb dieser Milieus mit dem eigenen antisemitischen Bias geben, auch woher dieser kommt, wie dieser angelegt ist und damit, dass progressive Milieus nicht weniger antisemitisch sind. Es ist ja auch kein progressiver Raum per se rassismuskritisch, wenn man sich eben nicht mit dem eigenen internalisierten Rassismus befasst. Für Antisemitismus lässt sich da aber an vielen Stellen eine Verweigerungshaltung, eine gewisse Bequemlichkeit und ein Entledigungsbedürfnis feststellen. Der Kampf gegen Antisemitismus wird zum scheinbar konservativen Projekt, da man selbst ohnehin nicht antisemitisch sei, weil man ja links ist. Es gibt einfach manifesten Antisemitismus und diese Milieus müssten sich, unter der Prämisse, dass es keinen antisemitismusfreien gesellschaftlichen Raum gibt, eingehend mit ihren eigenen antisemitischen Zerrbildern befassen und kritisch, theoretisch, aber auch praktisch darüber nachdenken, warum im Konzept der Intersektionalität jüdische Perspektiven nicht angelegt sind. Dabei sind Jüdinnen und Juden auch von der Verschränkung von Rassismus, Klassismus und Frauenfeindlichkeit betroffen. Der Großteil aller Jüdinnen und Juden insbesondere in Deutschland hat eine Migrationsbiografie und ist von Alltagsrassismus auf Basis dieser Migrationsbiografie betroffen, noch bevor sie sich überhaupt als Jüdinnen und Juden zu erkennen geben. Ein großer Teil insbesondere älterer jüdischer Gemeindemitglieder ist von struktureller Altersarmut betroffen, ist also auch finanziell, wirtschaftlich und gesellschaftlich marginalisiert. Im Umkehrschluss ist es so, dass die Migrationsbiografie auch etwas mit Antisemitismuserfahrungen im Herkunftsland zu tun hat, so wie es bei anderen marginalisierten Gruppen auch ist.
Lisa Wagenschwanz
Du hast geschildert, dass jüdische Einrichtungen stark auf staatlichen Schutz angewiesen sind und gleichzeitig weist der staatliche Umgang mit Betroffenen zum Teil enorme Schwächen und Lücken auf. Welche Rolle spielen aus deiner Sicht staatliche Institutionen bei der Schaffung von einem Sicherheitsgefühl für Minderheiten und was wünschst du dir von der Politik in diesem Zusammenhang?
Laura Cazés
Eine schwierige Frage. Zuerst: Es gibt einen allgemeinen politischen Willen oder ein politisches Verantwortungsbewusstsein vor allem in der Riege der Spitzenpolitik, dass Antisemitismus ein im besten Fall nicht zu vernachlässigendes Problem ist. Das zeigt sich auch daran, dass die Antisemitismus-Resolution7 überparteilich im Bundestag beschlossen wurde. Aus meiner Perspektive ist es schwierig, dass der politische Wille häufig relativ abstrakt bleibt oder eine bestimmte Form des politischen Verantwortungsbewusstseins eine gewisse Abstraktionsebene nicht verlässt. Das macht politische Bekundungen für jüdische Personen, insbesondere in Zeiten, in der die Situation so zugespitzt ist, häufig zu einer leeren Phrase, bei der das Gefühl entsteht, deutsche Politiker*innen müssten sich aufgrund der deutschen Geschichte für den Kampf gegen Antisemitismus aussprechen. Hier wird es deshalb schon kompliziert, weil es viel politischen Dissens darüber gibt, was die wirkungsvollste Maßnahme wäre, um Antisemitismus beizukommen. Damit sind wir dann schnell bei Instrumentalisierungsmechanismen, die Antisemitismus immer wieder dem einen oder wahlweise dem anderen politischen Milieu zuschieben. Der Punkt ist aber, dass dieser Entledigungsmechanismus wie ein Pingpongspiel ist, in dem überhaupt nicht geschaut wird, wie Antisemitismus eigentlich funktioniert. Wichtig wäre es, den Ursprüngen und Entstehungsmechanismen antisemitischer Narrative nachzugehen, bevor wir darüber reden, wer der schlimmste Antisemit des Landes ist.
Ich möchte zugleich gern etwas Positives hervorheben: In den letzten Jahren sind große Fortschritte in Bezug auf den Schutz jüdischer Personen gemacht worden, die leider auch durch extreme antisemitische Vorfälle aus unterschiedlichsten Beweggründen und Ideologien bedingt waren. Heute gibt es einen stärker betroffenenbezogenen Fokus in Bezug auf Antisemitismus. Das ist eine wichtige Errungenschaft, zu denen einige Institutionen maßgeblich beigetragen haben – etwa der Expertenkreis, den die Bundesregierung geschaffen hat. Der Zentralrat der Juden in Deutschland hat anlässlich des ersten Jahrestages des 7. Oktobers ein Lagebild8 herausgebracht, in dem viele Führungskräfte Jüdischer Gemeinden schildern, dass sie mit der Zusammenarbeit mit den örtlichen Sicherheitsbehörden sehr zufrieden sind. Jüdische Organisationen und Jüdische Gemeinden sind also dankbar darüber, dass seitens der Sicherheitsbehörden die Einschätzung in Bezug auf Antisemitismus weitgehend ernst genommen wird. Ich verstehe, dass das zum Beispiel in linken Milieus Ambivalenz auslöst. Aus meiner Perspektive zeugt es aber davon, in welch hohem Abhängigkeitsgrad jüdische Organisationen zu Polizei- und Sicherheitsbehörden stehen. Und natürlich macht es das nicht besser, wenn herauskommt, dass der langjährige Präsident des Verfassungsschutzes der AfD nahesteht und dass es Chatgruppen, Waffenentwendungen oder sonstige Vorfälle gibt. Hier werden Leerstellen und Probleme der Sicherheitsbehörden durch Verstrickungen in das rechte Milieu deutlich.
Lisa Wagenschwanz
Und welche Rolle spielt demgegenüber die Zivilgesellschaft bei der Schaffung eines Sicherheitsgefühls für Minderheiten?
Laura Cazés
Für die breite Zivilgesellschaft scheint es schwierig, die Erfahrungen, die jüdische Personen mit Antisemitismus machen, insbesondere seit dem 7. Oktober, anzuerkennen und sich mit ihnen solidarisch zeigen. Das schildern Jüdinnen und Juden eigentlich aus allen gesellschaftlichen und politischen Milieus – dass sie sich bis in den engsten Freundeskreis hinein rechtfertigen müssen, infrage gestellt wird, ob das wirklich alles so schlimm ist, dass ein großes Unbehagen und auch eine Unbeholfenheit besteht, wie darauf zu reagieren sei, dass Jüdinnen und Juden sich mehr Solidarität wünschen, dass verkannt wird, dass Jüdinnen und Juden schildern, dass sie das Gefühl haben, in einer anderen Welt zu leben, dass sie das Gefühl haben, völlig alleingelassen zu werden und dass nicht verstanden wird, wie gravierend das Thema ist.
Gleichzeitig erleben Jüdinnen und Juden ein großes Unbehagen, weil sie das Gefühl haben, dass ihre Sorgen missverstanden und wiederum in einem zivilgesellschaftlichen Kontext relativ schnell zu einem politischen Spielball gemacht werden. Das frustriert viele Jüdinnen und Juden und lässt sie resigniert zurück. Ein gutes Beispiel sind die Demonstrationen Anfang 2024 nach Bekanntwerden der Remigrationspläne der AfD und ihrer Anhänger*innenschaft. Es ist es gelungen, kurzzeitig eine sehr, sehr große Masse in unterschiedlichen deutschen Städten zu mobilisieren, die unter einem sehr allgemeinen und abstrakten Banner „gegen rechts“ auf die Straße gegangen sind. Doch vier Monaten nach dem 7. Oktober haben sich die wenigsten breit aufgestellten zivilgesellschaftlichen Bündnisse dazu hinreißen lassen, Antisemitismus explizit zu benennen. Das führte so weit, dass Jüdische Gemeinden teilweise nicht angefragt wurden und auch nicht Teil dieser Bündnisse waren. Was ist das für ein Zeichen?
Lisa Wagenschwanz
Welche Unterstützung oder Strategien helfen dir, mit Unsicherheiten und Ängsten aufgrund von antisemitischen Bedrohungslagen umzugehen?
Laura Cazés
Sicherheitsmaßnahmen, die für jüdische Personen wirkungsvoll sind, sind Maßnahmen wie sie zum Beispiel die Fachberatungsstelle OFEK9 anbietet, ebenso wie die Möglichkeit, sich in Safe Spaces zurückzuziehen, zum Beispiel Jüdische Gemeinden zu besuchen. Häufig wird nicht verstanden, dass Jüdische Gemeinden nicht nur Orte der Religionsausübung sind, sondern soziale Empfangsräume für jüdische Personen. Ich habe in meinem Umfeld festgestellt, dass junge Erwachsene, die sonst ihren Alltag bestreiten, der gar nicht so stark durch jüdisches Gemeindeleben geprägt ist, sich im letzten Jahr stark darauf zurückgezogen haben, zu Veranstaltungen der Jüdischen Gemeinde zu gehen, da sie sich dort keine Sorgen machen müssen und wissen, dass sie verstanden werden und Menschen treffen, mit denen sie sich austauschen können. Bereits vor dem 7. Oktober gab es ja Krisen, die sich direkt belastend auf jüdische Communitys ausgewirkt haben – etwa die Querdenken-Bewegung im Kontext der Corona-Pandemie, ebenso wie der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine. Dieser betrifft mindestens die Hälfte der jüdischen Community, weil 45 Prozent der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland Wurzeln in der Ukraine hat. Für mich persönlich ist es in diesen krisenhaften Zeiten ein stützendes Element, für eine jüdische Organisation arbeiten zu können. Ich befinde mich zwar in einer Konstellation, in der auch viele meiner jüdischen Arbeitskolleg*innen extrem belastet sind, zugleich aber herrscht ein Arbeitsumfeld, in dem ich weiß, dass ich meine Belastung nicht erklären muss. Das wird vielen anderen Personen nicht zuteil: Sie gehen jeden Tag zur Arbeit, bestreiten Schule oder Uni, gehen alltäglichen Routinen nach und treffen dort nicht unbedingt auf Personen, die begreifen, in was für einer traumatischen Situation sie sich gerade befinden.
Ich sehe in meinem Umfeld Menschen, die in unterschiedlichen kreativen Industrien tätig sind und das Gefühl haben, dass sie künstlerisch als Kreative gar nicht mehr frei tätig sein können, weil zum Beispiel Personen, die erfahren, dass sie Israelis oder jüdisch sind, nicht mit ihnen zusammenarbeiten wollen. Dadurch entsteht eine extreme Verunsicherung. Scheinbar gibt es einen Mainstream, in dem es normal ist, den eigenen Antisemitismus, der teilweise in der vermeintlichen Palästina-Solidarität reproduziert wird, nicht zu hinterfragen. Auch ich persönlich weiß, dass ich nicht in alle Formate eingeladen werde oder nicht mehr jeden Auftrag bekomme, weil Personen der Ansicht sind, dass ich eine „zu subjektive“ Perspektive auf dieses Thema habe. Meine berufliche Karriere beeinträchtigt das nicht tiefgreifend, weil sich meine hauptamtliche Tätigkeit vor allem auf die jüdische Community bezieht, aber für andere Personen bedeutet das eine existenzielle wirtschaftliche Gefährdung. Das beobachte ich mit großer Sorge, denn was bedeutet das denn, dass es beispielsweise nicht mehr möglich ist, als Person mit israelischer Herkunftsbiografie im Kreativsektor zu arbeiten? Auch in der Wissenschaft ist es schwierig. Das möchte ich nicht verallgemeinern, aber es gibt tatsächlich Bereiche, in denen es extrem schwierig geworden ist, sich als jüdische Person aufzuhalten, sich beruflich zu betätigen, ohne einer Form der Gesinnungsprüfung unterzogen zu werden, die es notwendig macht, dass Personen sich als antizionistisch positionieren oder das Existenzrecht des Staates Israel infrage stellen. Doch das werden die meisten Jüdinnen und Juden nicht tun – aus gutem Grunde nicht.
Lisa Wagenschwanz
Vielen Dank für das Gespräch!
1 Laura Cazés (Hg.). (2022). Sicher sind wir nicht geblieben. Jüdischsein in Deutschland. Frankfurt a. M., S. Fischer Verlag, 11–29.
2 Siehe dazu der Jahresbericht des Bundesverbands der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus e. V. zu antisemitischen Vorfällen in Deutschland 2023: report-antisemitism.de/documents/25-06-24_RIAS_Bund_Jahresbericht_2023.pdf, S. 28f.
4 Der Name der zivilgesellschaftlichen Kommission lautet „The Civil Commission on October 7th Crimes Against Women and Children“, mehr Informationen finden sich unter https://www.dvora-institute.org/.
5 Coffey, Judith/Laumann, Vivien (2021). Gojnormativität. Warum wir anders über Antisemitismus sprechen müssen. Berlin, Verbrecherverlag.
6 https://feminism-unlimited.org/.
7 Der interfraktionelle Antrag „Nie wieder ist jetzt: Jüdisches Leben in Deutschland schützen, bewahren und stärken“ ist online abrufbar unter https://dserver.bundestag.de/btd/20/136/2013627.pdf.
8 Das Lagebild zu den Auswirkungen des Krieges in Israel auf die Jüdischen Gemeinden in Deutschland ist online abrufbar unter https://www.zentralratderjuden.de/fileadmin/user_upload/Presseerklaerungen/ZDJ_GC-War_3009b-1.pdf.
9 OFEK ist als Fachberatungsstelle in Deutschland auf Antisemitismus und communitybasierte Betroffenenberatung spezialisiert. Seit der Gründung 2017 bietet OFEK Beratung und Begleitung im Zuge antisemitischer Übergriffe und Vorfälle an, siehe ofek-beratung.de.
Laura Cazés, M. A., studierte Psychologie und Sozialmanagement und leitet bei der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland den Bereich Kommunikation und Digitalisierung. Publizistische Themen sind u. a. die Diversität jüdischer Lebenswelten in Deutschland und deren Wahrnehmung und Einbezug in gesellschaftliche Diskursräume. 2022 erschien der von ihr herausgegebene Sammelband „Sicher sind wir nicht geblieben – Jüdischsein in Deutschland“ bei S. Fischer.
Lisa Wagenschwanz, studiert Soziologie und Politikwissenschaft an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und ist studentische Mitarbeiterin am IDZ Jena in verschiedenen Situations- und Ressourcenanalysen sowie in der Wissenschaftskommunikation.