Sicherheit – für wen? Die selektive Versicherheitlichung von Wohnungs- und Obdachlosigkeit

Sicherheit gilt als eine gesellschaftliche Wertidee, die angesichts multipler Krisen und Konflikte eine Strategie der Versicherheitlichung von immer mehr Lebensbereichen heraufbeschworen hat. Dabei bleibt im Dunkeln, wessen Sicherheit überhaupt bedroht ist und wie diesen Bedrohungen sicherheitspolitisch zu begegnen ist. Das Sicherheitsversprechen des Staates weicht einem selektiven Sicherheitsverständnis, das nicht gleichermaßen für alle Menschen Geltung hat, sondern v. a. das Sicherheitsempfinden und die Sicherheitsansprüche der Mehrheitsgesellschaft bedient. In unserem Beitrag setzen wir uns mit den selektiven Sicherheitsstrategien des Staates in Bezug auf wohnungs- und obdachlose Menschen auseinander. Für Menschen mit dem Lebensmittelpunkt auf der Straße werden spezifische Sicherheitsmaßnahmen bemüht, mit denen ihre besondere Schutzbedürftigkeit unter Verweis auf sicherheits- und ordnungspolitische Überlegungen außer Kraft gesetzt wird.


 

Empfohlene Zitierung:

Lukas, Tim/Imbusch, Peter (2024). Sicherheit – für wen? Die selektive Versicherheitlichung von Wohnungs- und Obdachlosigkeit. In: Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (Hg.). Wissen schafft Demokratie. Schwerpunkt Sicherheit – Schlüsselbegriff einer offenen Gesellschaft, Band 16. Jena, 60–71.

Schlagwörter:

Sicherheit, Versicherheitlichung, Wohnungs- und Obdachlosigkeit

 

Einleitung

Sicherheit gilt als eine zentrale Wertidee moderner Gesellschaften (Kaufmann [1970] 2012). Als menschliches Grundbedürfnis erscheint Sicherheit grundsätzlich positiv konnotiert. Die Orientierung auf Sicherheit strukturiert politische Entscheidungen ebenso wie das Alltagsleben der Menschen. Dabei ist der Sicherheitsbegriff nur scheinbar neutral. Das staatliche Sicherheitsverständnis fußt auf Verboten, Geboten und anderen Handlungseinschränkungen (Wehrheim 2018, 212), durch welche die Herstellung von Sicherheit für die Einen zu Einschränkungen der Sicherheit für die Anderen führen kann. Sicherheit wird daher als eine Art Klubgut beschrieben, zu dem man sich Zugang leisten können muss (Crawford 2006).

Das Leben wohnungs- und obdachloser Menschen ist maßgeblich durch eine in vielerlei Hinsicht drastisch erhöhte Unsicherheit geprägt. Ein Leben ohne eigene Wohnung bedeutet ohne Schutzraum und „oftmals lange an einem unsicheren Ort zu leben“ (Neupert 2024, 74). Menschen mit dem Lebensmittelpunkt auf der Straße sind sowohl durch die individuellen Ursachen ihrer Wohnungslosigkeit als auch durch ihre Lebensbedingungen ohne eigenen Wohnraum multiplen Belastungen ausgesetzt, die sie zu einer besonders vulnerablen Gruppe werden lassen (Pollich 2017, 11f.). Grundlegende Schutzmechanismen sind ihnen häufig nicht zugänglich und ihrem höheren Schutzbedarf stehen sogar staatliche Maßnahmen entgegen, die sie in ihrer Sicherheit zusätzlich einschränken. Menschen mit dem Lebensmittelpunkt auf der Straße werden in der öffentlichen Diskussion immer wieder mit Unsicherheit in Verbindung gebracht und bevorzugt zum Objekt selektiver Versicherheitlichung gemacht. Ihr Aufenthalt im öffentlichen Raum wird als Hinweis auf einen Mangel sozialer Kontrolle interpretiert und in etablierten kontrollpolitischen Ansätzen unmittelbar mit kriminellem Verhalten assoziiert (Tenz 2020, 2). Darüber hinaus wird ihre der Lebenslage geschuldete höhere Vulnerabilität und Schutzbedürftigkeit oftmals unter Verweis auf das Entstehen von sogenannten Angsträumen und die Verursachung von Unsicherheitsgefühlen in Teilen der Mehrheitsgesellschaft außer Kraft gesetzt (Hauprich und Lukas 2018, 133).

Vor diesem Hintergrund wollen wir uns in diesem Beitrag mit dem selektiven Sicherheitsverständnis und den Sicherheitsstrategien des Staates in Bezug auf wohnungs- und obdachlose Menschen auseinandersetzen. Wir werden nachzeichnen, wie soziale Problemlagen als Sicherheitsbedrohungen konstruiert werden. Dabei wird sich zeigen, dass der Staat ein offensichtlich selektives Sicherheitsverständnis verfolgt, das nicht uneingeschränkt und gleichermaßen für alle Menschen gilt, sondern v.a. das Sicherheitsempfinden und die Sicherheitsansprüche bestimmter Bevölkerungsgruppen bedient. Der Staat orientiert sich dabei in der Regel an der Vorstellung eines ‚Durchschnittsmenschen‘ mit ‚Durchschnittsinteressen‘ (Ammicht Quinn et al. 2017, 15), dessen Normalitätserwartungen in Sicherheitsmaßnahmen vorausgesetzt werden. Denn in der Imagination eines gesellschaftlichen Durchschnitts werden wohnungs- und obdachlose Menschen häufig als das eigentliche Sicherheitsproblem gesehen. Sie sollen öffentlich möglichst wenig sichtbar sein und das ‚Risiko’ einer Begegnung soll nach Möglichkeit minimiert werden (Bescherer et al. 2017, 12). Dabei bleibt jedoch vielfach im Dunkeln, worin genau die Bedrohung besteht bzw. welche und wessen Sicherheit in Gefahr ist – mehr noch, wie diesen Gefahren sicherheitspolitisch zu begegnen sei.

Die Versicherheitlichung sozialer Probleme

Der Begriff „Versicherheitlichung“, im englischen Original: „securitization“, beschreibt einen Prozess der Problematisierung, über den bestimmte Themen als Sicherheitsprobleme umgedeutet werden. Ausgangspunkt des von Barry Buzan, Ole Waever und Jaap de Wilde (1998) vorgelegten Konzepts ist die Beobachtung, dass Sicherheit und Unsicherheit nicht aus sich heraus bestehen, sondern vielmehr erst durch deren Aussprechen Wirklichkeit(en) und Wirkungen entstehen. Soziale Probleme stellen insofern nicht naturgegeben Risiken für die Sicherheit dar, sie müssen zunächst als Sicherheitsprobleme konstruiert werden, damit sie dann zum Gegenstand spezifischer Sicherheitspolitiken werden können (Groenemeyer 2015, 11). Durch Securitization lässt sich gewissermaßen jedes gesellschaftliche Phänomen zu einem Thema der Sicherheit machen. Der semantischen Mehrdeutigkeit des Begriffs „Sicherheit“ – Gewissheit (certainty), Zuverlässigkeit (safety), Geschütztheit (security) – werden dabei vornehmlich in Phänomene der Kategorie „security“ subsummiert, die damit quasi automatisch in den Zuständigkeitsbereich oder unter die Aufsicht der Sicherheitsbehörden fallen (Bauman 2000, 30f.; 2016, 27ff.). Armut und soziale Benachteiligung werden dann nicht länger als soziale Problemlagen, sondern als Sicherheitsbedrohungen und Risikofaktoren verstanden (Frevel 2016, 36).

Bettelnde Personen im Stadtbild erscheinen infolgedessen nicht mehr als Adressat*innen des Mitgefühls, denen man im Vorbeigehen einen Euro gibt, sondern als Gefahren für die öffentliche Sicherheit. So werden in einer städtischen Ausschusssitzung schon mal obdachlose Menschen mit Taubenkot und Graffiti verglichen, die entfernt werden müssten, und der Vorsitzende eines lokalen Einzelhandelsverbands drängt auf schnelle Lösungen („Wir wollen keine parlamentarische Demokratie, wir wollen etwas umsetzen“), da Sicherheit und Sauberkeit zentrale Zielsetzungen des Verbands seien (Ongaro 2007, 161). Politik und Verwaltung reagieren mit kommunalen Verordnungen zum Verbot von störendem Verhalten im öffentlichen Raum, die aggressives Betteln, Lagern in Personengruppen, Störungen im Zusammenhang mit Alkohol, öffentliches Urinieren, Übernachten im öffentlichen Raum und übermäßigen Lärm fortan unter Strafe stellen (Wendt 2001).

Die Thematisierung von Sicherheitsproblemen erzeugt in der Mehrheitsgesellschaft Unsicherheitsgefühle und Ängste, die – im Sinne eines „governing through crime“ (Simon 2007) – mitunter auch als Methode des Regierens instrumentalisiert werden, um weitreichende Gesetzesänderungen durchzusetzen und Kontrollkompetenzen von Sicherheits- und Ordnungsbehörden zu erweitern. In den vergangenen Jahrzehnten war die Strafgesetzgebung durch eine kontinuierliche Ausweitung von Strafrahmen und eine zunehmende Kriminalisierung von abweichenden Verhaltensweisen geprägt, während Entkriminalisierungen eine Ausnahme bildeten. Ihren Ausdruck findet diese Entwicklung in der Einführung bzw. Erweiterung von Straftatbeständen, der Vorverlagerung strafrechtlicher Sozialkontrolle sowie in der Einführung neuer präventiver Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen (Drenkhahn et al. 2020, 105; Schlepper 2014). Auf diese Weise verändert die Deutung von Obdachlosigkeit auch den Umgang mit dem zugrunde liegenden sozialen Problem. Obdachlosigkeit wird nicht länger als Gegenstand der Sozial- und Wohnungspolitik behandelt, sondern als ein Thema der Sicherheits- und Ordnungspolitik, durch das sich repressive Maßnahmen gegen wohnungs- und obdachlose Personen im öffentlichen Raum legitimieren lassen (Schindlauer 2016). „Die Versicherheitlichung ist ein Taschenspielertrick, der genau das bewirken soll. Er verschiebt die Angst von Problemen, die der Staat nicht zu lösen vermag (oder gar nicht erst angehen möchte), auf Probleme, mit denen die Regierung sich […] eifrig und (gelegentlich) erfolgreich auseinandersetzt.“ (Bauman 2016, 33)

Die Versicherheitlichung von Wohnungs- und Obdachlosigkeit

Wohnungs- und Obdachlosigkeit ist ein soziales Problem, das „immer wieder auch mit Kriminalität assoziiert“ wird (Ratzka 2012, 1241). Die extreme Mittellosigkeit obdach- und wohnungsloser Menschen führt zwangsläufig in eine ‚kriminogene‘ Lebenssituation, die ein erhöhtes Straftatrisiko mit sich bringt, etwa im Hinblick auf Hausfriedensbruch, Sachbeschädigung, Diebstahl, Drogendelikte und Leistungserschleichung (Neubacher und Bögelein 2021, 116). Mehrheitlich handelt es sich dabei um Bagatelldelikte, die der Befriedigung von Grundbedürfnissen dienen und auf Routinen der alltäglichen Lebensführung (z. B. Mobilität unter Nutzung des ÖPNV) zurückzuführen sind. Zugleich sind obdach- und wohnungslose Menschen aufgrund ihrer Lebenslage besonders vulnerabel und immer wieder mit verschiedenen Formen von Gewalt, Diskriminierung und Ausgrenzung konfrontiert (Neupert 2024). Hierzu zählen Formen der schweren physischen Gewalt wie Körperverletzungen oder Gewalttaten, die den Tod zur Folge haben können (Geschke 2021, 13), aber auch Formen struktureller Gewalt (Imbusch 2017), worunter gesellschaftliche Mechanismen zu fassen sind, „die wohnungslose Menschen in der Ausübung oder Wahrnehmung ihrer Rechte, insbesondere ihrer Grund- und Menschenrechte behindern oder einschränken“ (Giffhorn 2017, 275). Darunter fällt beispielsweise die Verdrängung aus dem öffentlichen Raum durch die Anwendung und Durchsetzung städtischer Verordnungen gegenüber Menschen mit dem Lebensmittelpunkt auf der Straße (Wolf 2016, 9ff.). Grundsätzlich gelten derartige Verordnungen für alle Nutzenden des öffentlichen Raums gleichermaßen. Einige Festlegungen in den ordnungsbehördlichen Verordnungen beziehen sich jedoch auf die Regulierung und Kontrolle von Verhaltensweisen, auf die obdach- und wohnungslosen Personen als Überlebensstrategien angewiesen sind. Dazu zählt etwa das Verbot des (aggressiven) Bettelns, z. B. in Fußgängerzonen und Einkaufsstraßen, das Verbot, im öffentlichen Raum seine Notdurft zu verrichten oder das Verbot der Zweckentfremdung städtischen Mobiliars, indem es beispielsweise als Liegefläche genutzt wird. „Obwohl obdachlose Personen nie explizit als Zielgruppe erwähnt werden, wird deutlich, dass sie im Vergleich zu nicht-obdachlosen BürgerInnen signifikant häufiger und besonders schwer von den genannten Regelungen betroffen sind.“ (Schindlauer 2015, 54)

Den Hintergrund derartiger Gesetze und Verordnungen zur Regulierung des Aufenthalts von obdach- und wohnungslosen Menschen an bestimmten öffentlichen Orten bildet eine verbreitete „Kultur der Kontrolle“ (Garland 2008), mit der vielerorts dem angenommenen Unsicherheitsgefühl der Mehrheitsgesellschaft Rechnung getragen werden soll (Lukas und Üblacker 2023, 112). In sicherheitspolitischen Programmen werden Obdach- und Wohnungslosigkeit sowie die damit assoziierten Verhaltensweisen, etwa das Betteln, als Zeichen der Unordnung oder „signs of incivility“ (Hunter 1978) gewertet, die auf einen Mangel sozialer Kontrolle hindeuten und zur Ausbildung kriminalitätsbezogener Unsicherheitsgefühle beitragen sollen. Die sogenannte Generalisierungsthese geht davon aus, dass Kriminalitätsfurcht Ausdruck abstrakter Ängste sei, die auf konkrete Sachverhalte projiziert würden, um sie „benennbar, kommunizierbar, bearbeitbar und manchmal auch bewältigbar“ (Hirtenlehner 2006, 310) zu machen. „Obdachlose Personen bilden in diesem Kontext die ideale Projektionsfläche […] für alle Verunsicherungen, die mit Armut, Ausgrenzung, Einsamkeit, Arbeitslosigkeit, Verwahrlosung, Devianz usw. verbunden sind oder assoziiert werden.“ (Wolf 2016, 7) Zu den kriminologischen Theorien der sozialen Desorganisation zählt der umstrittene Broken-Windows-Ansatz (Wilson und Kelling [1982] 1996), der einen Zusammenhang zwischen Verwahrlosungserscheinungen im sozialen Raum und der Entstehung von Kriminalität und Kriminalitätsfurcht behauptet. Demnach werden „Urban campers“, „Panhandling“ und „People with a ‚streety lifestyle‘“ (Skogan 2015, 466) als Indikatoren der sozialen Unordnung betrachtet. Der Aufenthalt obdachloser und bettelnder Menschen im öffentlichen Raum wird in dieser Perspektive als „Signaling für Gefahr wahrgenommen“ (Lauber und Mühler 2024, 4; Hervor. i. Orig.).

Als Ergebnis spezifischer Risikowahrnehmungen und Definitionen von Sicherheitsbedrohungen bedienen, verstärken und begründen „Signale der Unsicherheit“ (Feltes 2008, 258) moralische Paniken (Cohen 2002), in deren Folge – gemessen am statistischen Gefährdungsrisiko – überproportional restriktiv auf ein soziales Problem von Kriminalität oder Unordnung reagiert wird (Klimke/Legnaro 2022, 313). Wohnungs- und Obdachlosigkeit werden daher als eine Art Warnung zum moralischen Stand der gesellschaftlichen Ordnung verstanden, anhand derer gefährliche Menschengruppen und Situationen typisiert und das Netz der sozialen Kontrolle auf diese personifizierten sozialen Probleme (Negnal 2020) ausgeweitet wird. Für die Gruppe der Menschen mit dem Lebensmittelpunkt auf der Straße bedeutet das: Sie werden von handelnden Subjekten zu Objekten einer an Prinzipien von Broken Windows und Null Toleranz ausgerichteten Sicherheits- und Ordnungspolitik gemacht. Auf diese Weise lässt sich die Forderung nach einem „sauberen und geordneten Stadtbild“ (Landtag Nordrhein-Westfalen 2020, 2) und die Einrichtung bzw. der Ausbau kommunaler Ordnungsdienste legitimieren. Schließlich sind es insbesondere die Mitarbeitenden der Ordnungsämter, die durch regelmäßige Kontrollen, Aufenthaltsverbote und Platzverweise (Gerull 2018, 34) die Menschen aus ihren gewohnten Lebensräumen verdrängen und dafür sorgen, dass „Szeneangehörige als Gruppe von einem hot spot, von welchem sie von den Behörden vertrieben werden, zum je nächsten [wandern], um von dort wieder vertrieben zu werden – und immer so weiter“ (Thurn 2020, 343). Aber auch Sozialarbeiter*innen stellen ihre Klient*innen im Spannungsfeld von Hilfe und Kontrolle unter strengere Beobachtung und „Medien fokussieren und skandalisieren markante Straftaten oder Verhaltensweisen. Aus Menschen mit schwachem sozialem und ökonomischem Kapital werden öffentliche Ärgernisse und Sicherheitsprobleme. Verfolgung, Verdrängung, Stigmatisierung und Ausgrenzung sind die Folgen.“ (Hahne et al. 2020, 70)

Dahinter steht die Annahme, dass allein der Anblick obdachloser oder bettelnder Menschen im öffentlichen Raum einen Einfluss auf die subjektive Sicherheitswahrnehmung der Mehrheitsgesellschaft haben könnte. Miko-Schefzig (2021, 121 ff.) hat in gemischten Fokusgruppen den Beitrag der subjektiven Sicherheit zur Versicherheitlichung von Gefühlen im öffentlichen Raum untersucht und festgestellt, dass die im Diskurs um kriminalitätsbezogene Unsicherheitsgefühle dominante Narration, „Bettler*innen störten die subjektive Sicherheit“, tief im gesellschaftlichen Wissensvorrat verankert ist. In den Diskussionsrunden wurde die Deutung, dass die subjektive Sicherheit durch die Anwesenheit von Bettler*innen leiden könnte, von den Teilnehmenden selbst thematisiert oder bei Adressierung durch die Forschenden sofort aktiv abgerufen.

Solche Deutungsmuster zeichnen sich dadurch aus, dass die genannten Personengruppen als eine homogene, die Ordnung und Sicherheit der Mehrheitsgesellschaft bedrohende Einheit etikettiert werden, die zum Schutz der Bürger*innen im öffentlichen Stadtbild möglichst wenig sichtbar sein sollen. Auf diese Weise werden „obdachlose Personen von Individuen, deren Sicherheit existenziell gefährdet ist, zu Subjekten, die das Sicherheitsempfinden der Mehrheitsgesellschaft bedrohen“ (Schindlauer 2015, 53). Die Verdrängung obdach- und wohnungsloser Menschen aus dem öffentlichen Raum steht insofern in einem offensichtlichen Widerspruch zum häufig sogar höheren Schutzbedarf von Menschen mit dem Lebensmittelpunkt auf der Straße. Deren Sicherheitsbedürfnisse finden jedoch allzu oft keine Berücksichtigung im öffentlichen Diskurs und bei kommunalen (Sicherheits-)Akteur*innen. Im Gegenteil: Angehörige von Polizei, Ordnungsbehörden und privaten Sicherheitsdiensten verhalten sich oft unfreundlich oder gar aggressiv gegenüber Obdach- und Wohnungslosen und erzeugen bei den betroffenen Personen zusätzliche Unsicherheit (Lukas und Hauprich 2022). Die Schaffung subjektiver Sicherheit für die einen führt zu objektiven Unsicherheiten für die anderen.

Fazit

Durch die Versicherheitlichung sozialer Probleme rückt eine Perspektive auf Angst und Gefahr in den Vordergrund, während Offenheit und Toleranz zurückgedrängt werden (Hahne et al. 2020, 70). Der Perspektivwechsel zeigt, welche Auswirkungen sicherheitspolitische Ansätze in Bezug auf soziale Notlagen gegenüber einer humanitär-sozialen Behandlung von gesellschaftlichen Problemen für die betroffenen Bevölkerungsgruppen haben. Bauman (2005) hat wiederholt darauf hingewiesen, dass ein zentrales Ergebnis von Globalisierungs- und Modernisierungsprozessen in der Exklusion von Menschen aus sozialen, nationalstaatlichen oder kulturellen Zusammenhängen besteht. Das betrifft auch diejenigen für ‚überflüssig‘ gehaltenen Menschen, in deren Schicksal sich die Tatsache manifestiert, dass die Entwicklung moderner Gesellschaften in politischer und ökonomischer Hinsicht gerade nicht in der Integration aller besteht.

Das Problem geht aber insofern darüber hinaus, als die entsprechenden Maßnahmen und Diskurse auch gesamtgesellschaftliche Wirkungen zeitigen. Sie bestehen in einer gesellschaftlichen Verrohung gegenüber dem Leiden anderer. Haben sich erst einmal diffuse Ängste gegenüber abweichenden Verhaltensweisen auf spezifische, sicht- und greifbare Gruppen fokussiert, können diese leicht mit Feindbildern abgewertet werden. Dabei trägt die Versicherheitlichung dazu bei, „unsere – also die der Zuschauer – Gewissensbisse beim Anblick der Personengruppen, die zu ihren leidenden Objekten werden, schon im Voraus zu unterdrücken“ (Bauman 2016, 37). Wohnungs- und obdachlose Menschen und das, was man mit ihnen macht, werden insofern nicht länger unter moralischen Gesichtspunkten bewertet, sie werden quasi aus dem eigenen moralischen Universum und seinen Regeln ausgegrenzt. „Abgesehen davon, dass die Versicherheitlichung herzlos, moralisch verwerflich, gesellschaftlich blind, in weiten Teilen unbegründet und vielfach bewusst irreführend ist“ (Bauman 2016, 39), kann man auch sagen, dass sie die Unempfindlichkeit gegenüber und das Desinteresse bzw. die Gleichgültigkeit am Leiden anderer verstärkt.

 


Peter Imbusch, Prof. Dr., ist seit 2010 Professor für Politische Soziologie am Institut für Soziologie der Bergischen Universität Wuppertal. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Macht und Herrschaft, soziale Ungleichheit, Konflikt und Gewalt. Ausgewählte Publikationen: (Hg.) Soziologie der Hinterhältigkeit, Weinheim 2021; Konflikte beim Kranich. Die Tarifverhandlungen der Lufthansa – Geschichte und Gegenwart, Frankfurt a. M. 2021 (gemeinsam mit Joris Steg); Macht und Herrschaft. Sozialwissenschaftliche Theorien und Konzeptionen, Wiesbaden 2012.

Tim Lukas, Dr., ist Akademischer Oberrat und Leiter der Forschungsgruppe Räumliche Kontexte von Risiko und Sicherheit im Fachgebiet Bevölkerungsschutz, Katastrophenhilfe und Objektsicherheit an der Bergischen Universität Wuppertal. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: sozialwissenschaftliche Sicherheitsforschung und empirische Polizeiforschung. Ausgewählte Publikationen: Local Cultures of Control, Order Maintenance Policing, and Gentrification, in: Journal of Urban Affairs, 2023 (gemeinsam mit Jan Üblacker); Angsträume wohnungsloser Menschen, in Frank Sowa (Hg.), Figurationen der Wohnungsnot, 2022 (mit Kai Hauprich); Diskriminierung im Strafrecht, in Albert Scherr/Aladin El-Mafaalani/Anna C. Reinhardt (Hg.), Handbuch Diskriminierung, 2022 (mit Rita Haverkamp).


 

Literatur

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