Strukturelle Funktion versus demokratischer Antidiskriminierungsanspruch – wie Polizei sich (nicht) transformiert

Das Thema Rassismus im Kontext polizeilicher Arbeitspraxis wird medial, vor allem auf konkrete Vorfälle bezogen, immer wieder diskutiert. Vor diesem Hintergrund fragt dieser Beitrag, wie sich Polizei, als Organisation, die reibungslos funktionieren und gesellschaftliche Stabilität und Sicherheit gewährleisten soll, überhaupt mit Rassismus auseinandersetzt und sich dementsprechend verändern kann. Dafür werden Forschungsergebnisse aus qualitativen Erhebungen in zwei Polizeibehörden zur behördlichen Auseinandersetzung mit Rassismus diskutiert. Neben der Abwehr der Thematisierung von Rassismus finden sich durchaus strategische und öffentlichkeitswirksame Maßnahmen, die jedoch wenig alltagspraktische Anwendung haben. Der Beitrag diskutiert, wie anwendungsorientierte Forschung mit diesen Befunden umgehen kann und plädiert für eine konstante kritische Begleitung diskriminierungssensibler Veränderungen in (Polizei-)Behörden.


 

Empfohlene Zitierung:

Reichle, Leon Rosa/Dieckmann, Janine (2024). Strukturelle Funktion versus demokratischer Antidiskriminierungsanspruch – wie Polizei sich (nicht) transformiert. In: Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (Hg.). Wissen schafft Demokratie. Schwerpunkt Sicherheit – Schlüsselbegriff einer offenen Gesellschaft, Band 16. Jena, 86–99.

Schlagwörter:

Polizei, Rassismus, Sicherheit, anwendungsorientierte Forschung

 

Einleitung

Laut Afrozensus 2020, einer Befragung Schwarzer, afrikanischer und afrodiasporischer Menschen, hat in Deutschland „fast jede dritte Person (32,3 %) von 1945 Befragten bereits Polizeigewalt erlebt“ (Aikins et al. 2021, 120). Wiederholte Skandalisierungen des polizeilichen Umgangs mit rassistischen Straftaten, wie im Falle der NSU-Morde oder des Attentats von Hanau, führen dazu, dass viele von Rassismus betroffene Personen sich nicht von der Polizei geschützt fühlen. Empirische Studien zum polizeilichen Handeln beschreiben, wie rassistische Zuschreibungen in Kontrollpraktiken (Racial Profiling) reproduziert und somit in Kriminalstatistiken manifestiert werden (Thompson 2020), generell im Einsatz- und Streifendienst stattfinden (Jacobsen 2015) sowie in der polizeibehördlichen Kultur verankert sind (u. a. Behr 2018). Folglich muss sich die Polizei immer wieder der zivilgesellschaftlichen Kritik an Rassismus stellen, nicht nur auf individueller, sondern auch auf institutioneller Ebene. Die Kritik verweist nicht allein auf Haltungen und Handlungen einzelner Beamt*innen, sondern auch auf innerorganisatorische Strukturen und Routinen und ihre gesellschaftliche Einbettung, samt der spezifischen Rolle und damit verbundenen Anforderungen an die Behörde. Festzuhalten ist: Sicherheit ist nicht für alle gleich gewährleistet. Im Gegenteil, die Polizei trägt dazu bei, den Alltag marginalisierter bzw. rassifizierter Menschen in Deutschland unsicherer zu gestalten (vgl. FRA 2024). Statt diesen Status quo hinzunehmen, organisieren sich Betroffene seit jeher und üben Druck auf die Behörden aus. Am Beispiel der Thüringer Enquete-Kommission gegen Rassismus (Thüringer Landtag 2019) zeigt sich jedoch, dass selbst auf institutionalisierten Druck und konstruktive Vorschläge kaum praktische Veränderungen folgen (Ameer et al. 2022). Von diesen Beobachtungen ausgehend fragt der Beitrag: Wie gehen Polizeibehörden in Deutschland mit Rassismuskritik um?

Rassismuskritisch in die Geschichte der Polizei geblickt, zeigt sich, dass die Polizei in vielen Staaten die Aufgabe hatte, Eigentum und Klassenverhältnisse zu sichern, Aufstände und Streiks zu unterbinden sowie koloniale und sklavereigestützte – und somit zutiefst rassistische – Gesellschaftsordnungen aufrechtzuerhalten (Vitale 2022).1 In heutigen demokratischen Staaten ist es die Aufgabe der Polizei als staatliche Behörde, Sicherheit für alle und die Kontinuität des gesellschaftlichen Zusammenlebens durch Ordnung herzustellen – und das in immer noch, wenn auch anders, von Rassismus geprägten Gesellschaften (vgl. Aikins et al. 2021). Vor diesem Hintergrund untersucht der Beitrag, wie sich Polizei in Deutschland mit Rassismus auseinandersetzt und transformieren kann, hin zu einer Behörde, die Sicherheit für alle gewährleistet. Dafür eröffnen wir zunächst kurz einen institutionstheoretisch geleiteten Blick in bestehende Polizeiforschung. Im Anschluss veranschaulichen wir unsere empirischen Ergebnisse zum Umgang mit Rassismus zwischen Kritikabwehr und antirassistischen Strategien der Behörden, die deren Grundstruktur jedoch unangetastet lassen. Im Ausblick diskutieren wir die Bedeutung unserer Ergebnisse für mögliche Veränderungen der Polizei.

Institutionelle Trägheit einer diskriminierenden Organisation

Das Wort Diskriminierung stammt vom lateinischen Verb discriminare, was „unterscheiden“ bedeutet. Praktisch sind Unterscheidung, Typisierung und Selektion Voraussetzung des Polizeialltags, sie ermöglichen „polizeiliche Ordnungsleistungen“ bzw. Differenzierung von verdächtigen in unverdächtige Situationen (Jacobsen 2015). Diese Unterscheidung basiert in der Praxis aus „sich selbst generierende[m], dabei aber nicht reflexive[m] Praxiswissen“ (Behr 2018, 62), dem sogenannten „Polizeibauch“ (Kissmann 2002, 137). Weitergegeben wird das Erfahrungswissen informell im Arbeitsalltag. In einer streng hierarchischen Organisation, in der offizielle Leitlinien auf einen von Spontaneität und Unvorhersehbarkeit geprägten Alltag treffen, dokumentieren Forscher*innen informelle „Cop Culture“, die einerseits Alltagsbewältigung ermöglicht und andererseits zur Reproduktion von unreflektiertem Wissen führt (Behr 2006; Künkel 2014).

Hier besteht ein Einfallstor für institutionellen Rassismus, der aus „veralltäglichten, routinisierten und nicht in Frage gestellten Praktiken“ besteht, die Menschen aufgrund von Typisierungen hierarchisieren, benachteiligen und der „insbesondere in organisatorischen Kontexten begründet“ ist (Hasse und Schmidt 2012, 886). Max Weber definierte Institutionen über ihren „geronnenen Geist“, bestehend aus „Vergegenständlichungen von bestimmten Wissenselementen, von Normen und Werten und sonstigen Ideologemen“ (Weber in Jäger und Jäger 2002, 21). Durch unreflektierte Routinen verfestigen sich also Wissen, Praktiken und Strukturen in Institutionen. Damit erlangen Institutionen eine gesellschaftlich stabilisierende Funktion und sind zugleich resilient gegenüber Veränderungen (Bukow und Cudak 2017). Wie kann sich nun die Polizei als eine stabile Institution zur Ordnung der Gesellschaft, zu deren tagtäglichen Aufgaben die Unterscheidung von Menschen gehört, verändern, um institutionellen Rassismus zu vermeiden?

Ausgehend von der These, dass Polizeiarbeit von der Unterscheidung zwischen gesellschaftlichen Teilgruppen geprägt ist, die auch auf rassistischen Vorurteilen basiert, und rassismuskritische Veränderungen wichtig und zunehmend – auch innerhalb von Polizeibehörden – erwünscht sind, beleuchtet der Beitrag den polizeibehördlichen Umgang mit Rassismuskritik und dem Thema Rassismus. Die zugrunde liegenden qualitativen Untersuchungen wurden in zwei Ermittlungsdiensten in Thüringen und Niedersachsen durchgeführt. Die Ergebnisse zeigen, dass ein Großteil des Umgangs mit Rassismus von Abwehr geprägt ist, während zugleich einige Veränderungsansätze in Form von selektiver Professionalisierung einzelner Beamt*innen eingearbeitet werden, deren Handlungsfähigkeit und Auswirkung auf institutionalisierte Strukturen jedoch begrenzt bleiben.

Ergebnisse zum Umgang mit Rassismus – zwischen Kritikabwehr und oberflächlichem Antirassismus

Das Transformationspotenzial polizeilicher Behörden empirisch zu untersuchen, gehört zu den Zielen des Teilprojekts „Innerbehördliche Auseinandersetzung mit Rassismus“ der INRA-Studie.2 Basierend auf der Frage, wie sich polizeiliche Ermittlungsdienste sowie Behörden der Sozialverwaltung mit dem Thema Rassismus auseinandersetzen, entstand eine Analyse institutioneller Settings und Diskurse, aus der Handlungsempfehlungen zu deren konstruktiver Veränderung entwickelt wurden (Reichle et al. 2023). Dafür wurden in zwei ost- und zwei westdeutschen Städten insgesamt 33 Interviews (I), drei Gruppendiskussionen (GD) und neun Beobachtungsprotokolle (BP) in und um drei Sozialverwaltungs- und zwei Polizeibehörden geführt. Während erste Ergebnisse zur Sozialverwaltung anderswo thematisiert wurden (Reichle und Dieckmann 2024; Reichle et al. 2024), bietet dieser Beitrag Einblicke in die Studienergebnisse zur Polizei. Die Interviews wurden mit MAXQDA nach Critical Grounded Theory von zwei Forscher:innen ausgewertet (Belfrage und Hauf 2017). Die im Text verwendeten Zitate stehen exemplarisch für zentrale Themen, Umgangsweisen und Rassismusdefinitionen im Material.

Die erste Polizeibehörde befindet sich in einer thüringischen Mittelstadt mit überschaubarer Einwanderungsgeschichte und hoher AfD-Wähler*innenschaft (PT) und die zweite in einer niedersächsischen, stark migrationsgeprägten Großstadt mit rot-grün dominiertem Stadtrat (PN). Der Zugang zur thüringischen Behörde gelang über Unterstützung aus dem Thüringer Innenministerium. Er wurde quasi von oben angeordnet, während in der Lokalbehörde fast ausnahmslos die Meinung vorherrschte, die Untersuchung sei für sie nicht von Relevanz oder gar störend. Der Zugang zum niedersächsischen Ermittlungsdienst gelang über den Kontakt zu einer Führungskraft in der lokalen Polizeidirektion, welche als Teil ihres Amtes mit der Strategiebildung zu Demokratieförderung beauftragt war. Hier sollte die Studie zur Strategiebildung beitragen. Die zwei verschiedenen Herangehensweisen spiegelten sich im Feld wider. Im Folgenden werden zwei zentrale Umgangsformen mit Rassismus und Rassismuskritik dargelegt. Aufgrund der Kürze des Beitrags beschreiben wir Abwehr dort, wo sie dominant ist – in der thüringischen Polizei; und selektive Professionalisierung dort, wo sie aufgrund langjähriger zivilgesellschaftlicher Kritik fortgeschrittener ist – in der niedersächsischen Polizei. Ein skizzenhafter Vergleich folgt im Abschluss.

Kritikabwehr und Dethematisierung

Bestehende Untersuchungen zum öffentlichen und medialen Umgang mit Rassismus zeigen, wie Rassismuskritik durch ihre Skandalisierung oder Delegitimierung abgewehrt wird, durch Bagatellisierung und Individualisierung oder durch die Externalisierung von Rassismus anhand seiner Verengung auf entweder den historischen Nationalsozialismus oder den gegenwärtigen Rechtsextremismus (u. a. Bojadžijev 2014; Messerschmidt 2014). Ähnliche und weitere Umgangsweisen fanden in den untersuchten Polizeibehörden statt. Vor allem in der thüringischen Behörde traten Dethematisierung und Kritikabwehr als zentrale Umgangsformen mit Rassismus auf.

Rassismus wurde relativiert durch Opfer-Täter*innen-Umkehr und die Einordnung von Betroffenenaussagen als Übertreibungen. Ging es beispielsweise um Ermittlungen im Jugendbereich, wurden Rassismusbeschwerden wie folgt eingeordnet: „Die Kinder wissen gar nichts mit dem Wort [Rassismus] was anzufangen. [...] Es ist auch viel Schutzreaktion, über eigenes Verhalten wegzutun.“ (I3_PT) Den Jugendlichen wurde so die Fähigkeit abgesprochen, Rassismus zu erkennen, und die von ihnen geäußerte Rassismuskritik als „Schutzreaktion“ verharmlost. Dem liegt eine implizite Täter*innen-Opfer-Umkehr vor: Wer kriminell wird, unterstellt anderen Rassismus. Mit solchen Annahmen ging einher, dass beispielsweise eine eingeführte Pflichtführung zur Erhebung rassistischer Tathintergründe „als Gängelei, als sinnlose Gängelei“ (I2_PT) eingeschätzt wurde.

Auf die Relativierung von Rassismus folgte die Einordnung des Themas als irrelevant. Wenn Rassismus nicht vorliegt, sondern nur Ausdruck eines Abwehrmechanismus oder Missverständnisses ist, muss man sich mit ihm auch nicht auseinandersetzen. Eine Polizistin sagte trocken:

„also da [auf Rassismus] ist bei uns wirklich nicht so der Fokus drauf, das ist einfach ausgelutscht.“ (BP2_PT)

Viele Interviewpartner*innen hatten Schwierigkeiten damit, die alltagspraktische Relevanz des Themas für ihren Beruf zu erkennen:

„Was kann ich überhaupt zum Thema Diskriminierung sagen? Weil […] ich würde niemanden aufgrund der Hautfarbe oder so sonst irgendwie diskriminieren. […] wenn die Person gerade durch den gefährlichen Ort läuft, egal ob sie jetzt, sag ich mal, dunkle Hautfarbe ist oder helle, wird er kontrolliert oder sie […] Das spielt eigentlich keine wirkliche, […] keine große Rolle.“ (I4_PT)

Das Rassismusverständnis der interviewten Beamt*innen beschränkt sich auf individuelle Einstellungen und Handlungen. Dieser Einordnung liegt der Umgang der Individualisierung von Rassismus zugrunde. Dass allein die Entstehung sogenannter gefährlicher Orte von historischem, institutionellem oder strukturellem Rassismus geprägt ist (Gaston und Brunson 2020), wird ausgeblendet. So äußerte ein Beamter ärgerlich:

„Mir ist das egal. Also ich muss da... Wenn mich das nicht betrifft, dann muss ich auch nicht drüber reden. [...] was soll ich denn darüber reden?“ (GD_PT)

Kritik an polizeilichem Rassismus wird dementsprechend auch als Vorwurf gegen einzelne Polizist*innen, vermeintliche Rassist*innen gewertet. Institutionelle Mechanismen, Rahmenbedingungen und Routinen, die zu rassistischer Diskriminierung beitragen, werden in beiden untersuchten Behörden kaum reflektiert.

Die Eingrenzung von Rassismus auf abweichende Einzelfälle drückt sich auch durch die praktische Auslagerung des Themas auf den Staatsschutz aus. Rassismus wird verstanden als Rechtsextremismus, der sich in konkreten Gewalttaten, Symbolen oder Beschimpfungen ausdrückt, und nur in Ermittlungen zu solchen Fällen polizeilich relevant wird. Damit wird institutioneller Rassismus unsichtbar gemacht und das Thema im ‚normalen‘ Ermittlungsdienst vermieden:

„Ich finde, das wird in den Medien immer so gehyped, dass das so extrem viel wäre, was den Rassismus angeht, aber meine Wahrnehmung gerade im Team- also ich krieg‘ da jetzt nicht so viel davon mit. [...] Also das kann auch daran liegen, weil wir das halt nicht auf den Tisch kriegen oder weil das alles direkt an [...] Staatsschutz oder Verfassungsschutz [geht].“ (GD_PT)

Nonperformativer Antirassismus

Sarah Ahmed hat anhand ihrer Untersuchungen zu britischen Universitäten das Konzept des nonperformativen Antirassismus geprägt (Ahmed 2006). Nonperformativer Antirassismus besteht aus Maßnahmen wie policy papers, die zwar symbolträchtig auf Rassismuskritik eingehen, in ihrer praktischen Auswirkung jedoch nichts an institutioneller Diskriminierung ändern. Laut Ahmed funktionieren sie genau dadurch, dass sie nicht funktionieren. Sie sind sichtbar, haben aber keine praktischen Konsequenzen, sondern können diese sogar unterbinden, „as the document then gets taken up as evidence that we have done the work“ (ebd., 117). Organisationssoziologisch betrachtet sind nonperformative Maßnahmen legitimitätsstiftende Reaktionen auf gesellschaftliche Veränderungsanforderungen an Institutionen, die gleichzeitig innerorganisatorische Stabilität und Machtverhältnisse bewahren.

Das Spannungsfeld zwischen behördlichem Ringen um Legitimität als Reaktion auf gesellschaftlichen Druck auf der einen und innerbehördliche Gewohnheiten auf der anderen Seite wurde insbesondere in der niedersächsischen Behörde deutlich. Neben dort ebenso vorhandenen Mustern der Dethematisierung fand hier – als Reaktion auf gesellschaftlichen Druck – auch Auseinandersetzung mit dem Thema Rassismus statt. Die beiden Strategiebeauftragten im behördlichen Führungsstab, die sich für das Forschungsprojekt einsetzten, baten einerseits um „echte Ergebnisse“, um ihre Strategiebildung voranzubringen, gleichzeitig sollten „gute Entwicklungen“ gezeigt werden und „es [wäre] ein Schlag ins Gesicht, wenn die Polizei hier als total rassistisch dargestellt würde“ (BP1_NP). Die Strategiebildung müsse einen Umgang mit medialer Rassismuskritik an der lokalen Polizei finden, damit Vertrauen in staatliche Institutionen nicht weiter erodiere und gleichzeitig den innerbehördlichen „90 % Desinteresse“ beziehungsweise der Ablehnung gegenüber den Themen Diversität und Antirassismus („Haben wir keine anderen Sorgen?“) begegnen (I3_NP).

Führungskräfte beschrieben Strategien zu Diversität und Demokratie als „Dauerthema in [...] Besprechungen“, mit dem sich „massiv beschäftigt“ und in das „über das Ministerium, aber auch durch unsere Behördenleitung [...] ziemlich viel [...] investiert“ werde (I1_NP). Die Strategien bestanden maßgeblich aus einem Demokratiepaten-Projekt, in Zuge dessen einzelne Beamt*innen als sensibilisierende Multiplikator*innen an Workshops oder ‚interkulturellen Austauschen‘, einem Workshop und einer Führungskräftetagung zum Thema Diversität teilnahmen. Während die Menge und Vielfalt der Strategien sowie die dahinterstehenden Mühen und Ressourcen betont wurden, konnten sich Teilnehmende bei Rückfragen zu den konkreten Formaten an Inhalte nur vage erinnern:

„weiß gar nicht mehr, wie das hieß [...] weiß gar nicht mehr, in welchem Rahmen [...] weiß gar nicht, was die Überschrift war. [...] es war so ein bisschen wie, wie Kaffeetrinken mit Fremden“ (I3_NP).

Gleichzeitig offenbarten sich die Strategien an verschiedenen Stellen als praxisfern für den Arbeitsalltag. Auf die Frage „Aber haben Sie dafür jetzt für Ihren Arbeitsalltag irgendwas mitgenommen?“ verlor sich die Antwort der mittleren Führungskraft: „Nee, nein, das ist dann tatsächlich ...“ (I3_NP).

Nach ihren Berührungspunkten mit verschiedenen Antidiskriminierungsstrategien der Behörde gefragt, war eine Sachbearbeiterin im Ermittlungsdienst ratlos:

„Also ich würd sagen, gar nicht. [...] Ich weiß nicht, fällt mir nichts ein [...] Möglicherweise gibt es das, weil es ja, weil es ja gerade so groß, so groß diskutiert wurde und auch ja so ein großes Thema ist. Möglicherweise gibt es das, aber bei mir ist es wenn dann noch nicht angekommen und ich denke, ich bin ja nichts Besonderes, wenn es bei mir nicht angekommen ist, vielleicht bei den anderen auch nicht angekommen.“ (I6_NP)

So besteht in dieser Behörde zwar, im Gegensatz zur untersuchten Dienststelle in Thüringen, ein als sehr ausgeprägt beschriebener Umgang mit Rassismus, seine praktischen Konsequenzen, insbesondere für die alltägliche Basisarbeit der Behörde, bleiben jedoch unklar.

Ausblick: Institutionelle Unterschiede und ihre Bedeutung für demokratische Sicherheit

Anwendungsorientierte Polizeiforschung hat zum Ziel, Polizei zu verändern. Durch das Aufzeigen einiger Umgangsweisen von Polizeibehörden trägt dieser Beitrag dazu bei, Ansatzpunkte für eine rassismussensible Veränderung einer, historisch und strukturell verankert, eher veränderungsträgen Behörde zu liefern.

Gesellschaftlicher Druck auf die Polizei, die Anforderung ihr Sicherheitsversprechen für alle gleich einzulösen, statt Schutz und Kriminalisierung anhand historischer rassistischer Routinen zu organisieren, hat Auswirkungen. Thüringische Beamt*innen berichteten, dass Rassismus für sie kein Thema sei, weil sie weder mit antirassistischer noch mit linker Kritik konfrontiert seien:

IP2: „Aber wir haben jetzt hier nicht dieses... dieses Problem, was Rassismus angeht. [...] hier [...] ist das, glaube ich, ein... ja...“
IP1: „Ganz normal. (lacht)“
IP4: „[...] wenn du jetzt rechts und links in einer Stadt hast, ich glaube, dann hast du da mehr Berührungspunkte auch als Polizei natürlich. Ich glaube, das ist in [hier] halt nicht so, dass du da diese zwei Gruppierungen hast.“
IP2: „Wir haben ja kein links.“ [GD_PT]

In der niedersächsischen Behörde hingegen waren öffentliche und mediale Kritik zentrale Treiber antirassistischer Strategiemaßnahmen. Trotz Veränderungswillen, der in der Zugewandtheit zum Forschungsprojekt und in verschiedenen Gesprächen mit Führungskräften deutlich wurde, schienen die dort durchgeführten Strategiemaßnahmen auf einer Ebene der täglichen Basisarbeit nonperformativ. Das zeigte sich auch darin, dass neben dem wiederholten Bekenntnis zu Maßnahmen und Programmen Individualisierung von Rassismus und Abwehr des Themas auch dort vorgefunden wurden: „Einzelfälle, die werden hochstilisiert“ (I1_PN) sagt eine Führungskraft und eine andere:

„Für meinen Bereich, muss ich sagen, spielt es insbesondere für meine nachgeordneten Mitarbeiter keine Rolle. Die stöhnen eher, wenn sie das Thema hören [...] Also weil sie keine Probleme sehen.“ (I3_NP)

Sarah Ahmed sieht in diesem „Keine-Probleme-Sehen“ eine Form des institutionellen Stolzes. Dieser sei hinderlich für eine tatsächliche antirassistische Veränderung der Institution: „organizational pride and the self-perception of being good block the recognition of racism. Organizational pride in being good at hearing messages prevents the message getting through. [...] ‘you’ are wrong to describe us as uncaring and racist because ‘we’ are committed to being antiracist.“ ( Ahmed 2006, 111).

Gleichzeitig zeigt sich, dass die Behörde mit ihrer (nonperformativen) Auseinandersetzung Standards setzt, anhand derer sie gemessen werden kann. Auf ein Bekenntnis zu Antirassismus kann sich berufen werden, um reale Veränderungen zu fordern. Diese könnten beispielsweise verpflichtende, rassismuskritische Supervisionen beinhalten, oder externe Beschwerdestellen und behördenübergreifende bindende Rassismusdefinitionen, die strukturellen Rassismus berücksichtigen und von Betroffenenorganisationen geprüft wurden. Bestehende nonperformative, öffentlichkeitswirksame Maßnahmen müssen dafür mit Ahmed kritisch hinterfragt und zugleich genutzt werden, um eine Organisation zur Verantwortung zu ziehen. In Niedersachsen kann das mindestens geschehen, weil Rassismus besprechbar geworden ist: „Und ich denke mal [...] Hinweise auf Verfehlungen, die werden hier relativ offen benannt“ (I1_NP).

Genau darin liegt der Unterschied zur thüringischen Behörde. Es gilt also im Angesicht nonperformativer Antidiskriminierungsstrategien, den Willen zur Transformation hin zu einer rassismusfreien Organisation von Sicherheit nicht aufzugeben. Stattdessen müssen Veränderungen kritisch begleitet und transparent evaluiert werden. Um institutionellen Rassismus zu bekämpfen, muss dieser benennbar und kritisierbar werden, damit Institutionen auf dieser Basis praktisch zur Verantwortung gezogen werden können. Hier sehen wir einen Beitrag kritischer anwendungsorientierter Forschung.

Dabei sollte gleichzeitig der mögliche Horizont von Veränderungen nicht aus dem Blick geraten. Mit ihrer aktuellen Zuständigkeit und im Rahmen bestehender Migrationsregime kann auch eine veränderte Polizei nicht allein für Sicherheit für alle sorgen. Angetrieben durch politische Debatten über Migration und bspw. darauffolgende Entscheidungen über Abschiebungen zeigt sich: So lange die Polizei Abschiebungen durchführen muss, wird sie zur Hierarchisierung von Menschen beitragen. Zusätzlich zu Demokratisierungsanforderungen an bestehende Behörden bedarf es demnach der kontinuierlichen Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen (Un-)Sicherheit marginalisierter Personen und mit alternativen Sicherheitskonzepten.

 


Leon Rosa Reichle, Dr., wissenschaftliche Mitarbeit am IDZ im Projekt Innerbehördliche Auseinandersetzung mit Rassismus (INRA)
Janine Dieckmann, Dr., IDZ-Bereichsleitung „Diversität, Engagement und Diskriminierung“, stellvertretende Standortsprecherin Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ) Jena sowie Projektleitung INRA


 

 

1    Für weitere polizeihistorische Einblicke siehe u. a. Loick und Thompson (2022).

2    Institutionen und Rassismus, BMI geförderte Teilstudie des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ).

 

Literaturverzeichnis

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