„Die Bilder des Pogroms, das Wissen, wie der Staat und seine Institutionen darauf reagierten bzw. eher nicht reagierten, haben mein Deutschlandbild grundsätzlich infrage gestellt. Bereits zu wissen, dass Rostock-Lichtenhagen möglich war und ein neues rassistisches Pogrom jederzeit und überall in Deutschland möglich ist, veränderte die Art und Weise, wie ich mich in Deutschland bewege, fühle und lebe.“ (Ha 2021, 168–169)
Das Zitat von Kien Nghi Ha bezieht sich auf die rassistische Gewalt Anfang der 1990er-Jahre und insbesondere auf die Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen im August 1992, die sich gegen Asylsuchende und ehemalige vietnamesische Werkvertragsarbeiter*innen richtete. Die Gewalt war verbunden mit einer intensiven gesellschaftlichen Auseinandersetzung zum Thema Asyl. Die Situation wurde als so dramatisch eingeschätzt, dass von einer „Überlebensfrage der Nation“ gesprochen wurde, dass „das Asylthema ‚gesellschaftlichen Sprengstoff‘ darstelle und den inneren Frieden in der Bundesrepublik in Gefahr bringe“ (Heptner 19.09.1992).
Dies geschah kurz nach der Wiedervereinigung, in der insgesamt viel Unsicherheit in der Gesellschaft herrschte und Fragen von Zugehörigkeit und Deutschsein neu zu verhandeln waren. Hinzu kam, dass seit Ende der 1970er-Jahre die Asylantragszahlen stiegen, mehr „außereuropäische Flüchtlinge“ kamen und sich ein Diskurs über „Asylmissbrauch“ entwickelt hatte. Unter „Asylmissbrauch“ wurde verstanden, dass Menschen aus wirtschaftlichen Gründen nach Deutschland kommen und Asyl beantragen. Als die Zahlen Anfang der 1990er-Jahre erneut stiegen, gab es nicht nur vermehrt Forderungen nach einer Einschränkung des Asylrechts im Grundgesetz, sondern auch einen massiven Anstieg an rassistischer Gewalt. Die Anzahl von Gewalttaten war 1991 fünf- bis achtmal so hoch wie 1990 (Prenzel 2012, 13). In der kollektiven Erinnerung sind die Gewalttaten vor allem mit den Orten Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Solingen und Mölln verknüpft. Es gab jedoch insgesamt mehr als 4.700 Anschläge, durch die 26 Menschen starben und mehr als 1.800 verletzt wurden (Virchow 2014, 73). Rassistische Gewalt kann auch als Botschaftstat beschrieben werden, da sie nicht nur konkrete Opfer betrifft, sondern Angst und Verunsicherung bei vielen Menschen auslöst. Dabei sind die Täter*innen davon überzeugt, im Interesse einer größeren schweigenden weißen Mehrheit zu handeln.
In diesem Artikel wird die Berichterstattung der Frankfurter Allgemeinen (FAZ) und der Süddeutschen Zeitung (SZ) zu den Ereignissen Anfang der 1990er-Jahre analysiert. Dabei wird betrachtet, wer ein Recht auf Sicherheit und Wohlbefinden hat, für das sich Politik und Gesellschaft verantwortlich fühlt, und wem im Diskurs Empathie und Verständnis entgegengebracht wird. Die vorgestellten Ergebnisse sind Teil meiner Dissertation (Sylla 2023), welche aus einer postkolonialen Perspektive analysierte, wie das Eigene im Verhältnis zum Anderen – in diesem Fall die Schutzsuchenden – im medialen Diskurs von 1977 bis 1999 konstruiert wird (Conrad et al. 2013; Hall 2018). Der Analyse lag in Anlehnung an Foucault ein Diskursverständnis zugrunde, welches Diskurse als Wissensordnungen versteht, in dem Wissen für eine bestimmte Zeit stabilisiert und institutionalisiert wird. Für die Untersuchung wurden zwei der auflagenstärksten bundesdeutschen Tageszeitungen der bürgerlichen Mitte als Analysematerial genutzt, da sie Aufschluss auf die vorherrschenden Diskurse dieser Zeit geben. Mediale Diskurse, in diesem Fall die untersuchten Tageszeitungen, produzieren und verbreiten Wissen und spielen daher eine wesentliche Rolle bei der Konstituierung gesellschaftlichen Wissens (Foucault 1974; Keller 2005). Die Berichterstattung über die Anschläge nahm nicht nur Einordnungen und Bewertungen vor, sondern hatte auch direkte Auswirkungen auf Nachahmer*innen.
Im Folgenden werden die Darstellungen von drei verschiedenen Gruppen analysiert: die Opfer der Gewalt, die Bevölkerung und die Täter*innen. Grundlegend lässt sich der Diskurs so beschreiben, dass die Asyl- bzw. Schutzsuchenden als Opfer der Gewalt im Diskurs kaum vorkommen und somit ihre Sicherheit als nachrangig betrachtet wird. Die Gefühle und das Sicherheitsempfinden der Bevölkerung hingegen nehmen großen Raum ein. Den Gewalttäter*innen wird Verständnis entgegengebracht und es wird in ihrer Lebenssituation nach Ursachen für die Taten gesucht. Den oft jugendlichen Täter*innen solle man trotz ihrer Tat eine Perspektive bieten.
Schutzsuchende als Opfer der Gewalt – eine Leerstelle
In den 129 untersuchten Artikeln in der FAZ und SZ von 1991 – 1993, in denen über die rassistische Gewalt berichtet wird, bleiben die Perspektive und Erfahrungen der Opfer zum größten Teil eine Leerstelle. Eine Einfühlung mit den Opfern und eine Parteinahme für ihre Belange werden dadurch verhindert. Sie bleiben Fremde, selbst eine Verantwortungsübernahme findet nicht statt. Dies zeigt sich beispielsweise daran, dass nach dem Brandanschlag in Mölln, bei dem mehrere Menschen mit Migrationsgeschichte starben, Bundeskanzler Helmut Kohl seinen Außenminister schickte, da er sich für die „Ausländer“ nicht zuständig fühlte. Er wolle keinen „Mitleidstourismus“ betreiben. Stattdessen findet im Diskurs eine Täter*innen-Opfer-Umkehr statt. Die Asylsuchenden werden als Verursacher*innen der Gewalt dargestellt, weil sie Asylmissbrauch begehen, sich nicht anpassen und kriminell seien. Die Gewalttaten werden zwar verurteilt, um weitere Gewalt zu verhindern, die Lösung wird jedoch in der Beschränkung von Zuwanderung gesehen:
„Angesichts der Ausschreitungen von Rostock sagte Gerster, er wolle nicht den Eindruck erwecken, als sei die Asylproblematik die einzige Ursache hierfür. Sie sei aber ein wesentlicher Grund. Die ungesteuerte Zuwanderung, die sich aus dem Asylrecht faktisch ergeben habe, [...] führe zu Eskalation.“ (Feldmeyer 27.08.1992)
„Die Bundesregierung verurteilte die Ausschreitungen ‚mit aller Schärfe‘. Die Vorgänge seien einer zivilisierten und toleranten Gesellschaft ‚unwürdig‘. Daher müsse in der Asylpolitik rasch eine Einigung der politischen Parteien gefunden werden.“ (AP/epd/Reuter 24.09.1991)
Es sei daher nur möglich, eine zivilisierte und tolerante Gesellschaft zu erhalten, wenn das Asylrecht geändert und weiterer Asylmissbrauch verhindert werde. Dass eine Asylgewährung und Solidarität mit Schutzsuchenden Bestandteil einer solchen Gesellschaft sein könnte, wird dabei nicht benannt. Der häufigste Satz über die Opfer der Brandanschläge lautet:
„Es wurde niemand verletzt.“ (o. A. 01.10.1991).
„Mehrere hundert Jugendliche haben am Wochenende ein Asylbewerberheim in Rostock angegriffen, die Polizei in stundenlange Straßenschlachten verwickelt und einen Beamten lebensgefährlich verletzt. [...] Unter den Heimbewohnern gab es keine Verletzten.“ (krp. 24.08.1992)
Dabei wird völlig übersehen, dass rassistische Gewalt nicht nur körperlich verletzen kann, sondern auch psychisch eine Verletzung bedeutet, die genauso schwerwiegend ist und langfristige Folgen für die Betroffenen haben kann. Viele der Gewalttaten werden offiziell nicht als Rassismus bzw. Rechtsextremismus anerkannt, in den wenigstens Fällen kommt es zu einer Verurteilung. Lediglich in 3 der 129 Artikel werden die Erfahrungen, Gefühle und Ängste der Betroffenen thematisiert und sie kommen selbst zu Wort. Darin wird ersichtlich, was die Bedrohung und Erfahrung von rassistischer Gewalt für die Betroffenen bedeutet. Der erste Artikel zeigt auf, dass die Menschen im Asylheim in beständiger Angst vor einem Anschlag leben:
„Zwar habe es noch keine gewalttätigen Übergriffe gegeben, aber fast jeden Abend kommen sie mit höllisch lärmenden Motorrädern. ‚Ausländer raus‘, ‚Deutschland den Deutschländern‘ rufen sie und fluchen. [...] Die Polizei reagiere überhaupt nicht, auch könne man sie während den furchterregenden Aktionen nicht rufen, weil es in der Jugendherberge kein Telefon gibt. Und für Präventivschutz sei kein Handlungsbedarf. Der Spuk dauere immer nur einige Minuten, das angstvolle Warten darauf ziehe sich dagegen unerträglich in die Länge.“ (Britz 10.10.1991)
Von einer „Roma-Familie aus Rumänien“ (Britz 10.10.1991) wird berichtet, dass sie von dort flohen, weil in vielen Dörfern ihre Häuser angezündet wurden. Nun würden sie hier ähnliche Erfahrungen machen. Die SZ berichtet ein Jahr nach den Gewalttaten in Rostock-Lichtenhagen ausführlich von der Situation von Ausländer*innen, die dortgeblieben sind. Dabei kommt ein Vietnamese zu Wort, der den Brandanschlag im Sonnenblumenhaus miterlebt hat. Er berichtet von der „wahnsinnigen Angst“, die er damals hatte:
„Es waren viele seiner langjährigen Nachbarn, die tagelang johlend Molotow-Cocktails und Steine auf Türen und Fenster warfen. ‚Ihre haßerfüllten Gesichter werde ich niemals vergessen.‘ Nach einigen Tagen sind Tinh und die anderen Vietnamesen wieder zurück in das verbrannte Haus gezogen. ‚Das hat viele damals gewundert, aber wohin hätten wir gehen sollen‘, fragt er. [...] So bleibt er und träumt sogar davon, bald eine Begegnungsstätte zu eröffnen, für Vietnamesen und Deutsche, und zwar auch für solche Deutsche, ‚die uns damals töten wollten‘.“ (Lebert 18.08.1993)
In den drei Artikeln wird deutlich, dass das Leben der Asylsuchenden, aber auch von anderen mehrheimischen Menschen von Angst geprägt ist, verbunden mit der Frage, ob sie in diesem Land wirklich Schutz und eine dauerhafte Perspektive finden können, ob sie irgendwann dazugehören werden. Dazu kommt die Erfahrung, dass die Polizei keine Unterstützung bietet und sie von den Behörden im Stich gelassen werden. Selbst die Aufklärungs- und Versöhnungsarbeit wird von den Betroffenen geleistet.
Bei aller Empathie für die Betroffenen wird auch dort eine Verbindung hergestellt zwischen der Gewalt und weniger Zuwanderung: „Aber vielleicht löst sich das Problem bald von selbst: Brandsätze und Steine, Motorradlärm und ausländerfeindliche Parolen könnten die Wirkung haben, daß bald ohnedies viel weniger kommen werden“ (Britz 10.10.1991). Dies findet sich auch an anderer Stelle, beispielsweise in dieser Buchrezension: „Die Geschichte nimmt ein trauriges, doch nicht hoffnungsloses Ende. Aischas Familie geht in den Libanon zurück, weil auf das Flüchtlingsheim ein Anschlag verübt wurde. Die Freundinnen schreiben sich Briefe und als ein neues fremdes Mädchen in die Klasse kommt, ist neben Steffi noch Platz frei“ (Seuss 03.11.1993). Dies zeigt, dass die geflüchteten Menschen nicht als Teil der Gesellschaft gesehen werden, die Anspruch auf Schutz haben. Sie sind zwar der Angriffspunkt der Gewalt und müssen bei Gewalttaten verlegt werden. Eine Verantwortungsübernahme oder eine sich daraus ableitende Präventionsstrategie, die sich mit den existierenden rassistischen Ideologien in der Gesellschaft beschäftigt, entsteht daraus nicht. Die Lösung wird vor allem in ihrer Rückkehr gesehen.
Die Verunsicherung und das Sicherheitsempfinden der Bevölkerung
Die Bevölkerung und ihre Gefühle nehmen im Gegensatz zu den Gefühlen der Opfer eine zentrale Stellung im Diskurs ein. Diese werden vor allem als Unruhe, Beunruhigung, Ängste, Besorgnis, Überforderung und Verunsicherung beschrieben. In der SZ dominiert der Begriff der Überforderung. Die Bevölkerung wird in beiden Zeitungen homogenisiert, als werde die gesamte Bevölkerung in Deutschland von einem Gefühl geleitet. Obwohl durchaus anerkannt wird, dass dieses Gefühl eine irrationale und emotionale Reaktion auf Zuwanderung ist, wird es als gegeben und nicht beeinflussbar hingenommen. Es geht sogar so weit, dass die Gefühle ernst genommen und nicht kritisiert werden dürfen, sonst würden sie sich nur verstärken und die Bereitschaft zu Gewalt fördern. „Erst wenn die Bevölkerung den Eindruck gewinnt, daß ihre Sorgen in der öffentlichen Diskussion nicht als legitim und ernst zu nehmend angesehen werden, ist eine wachsende Unterstützung für radikale Gruppierungen zu befürchten.“ (Köcher 09.10.1991) Das Hinterfragen der Bedrohungsgefühle ist daher nicht möglich. Stattdessen wird betont, dass diese den inneren Frieden gefährden: „Wie jeder andere Staat muß auch Deutschland Zuwanderung steuern und begrenzen können. Ohne eine solche Möglichkeit werden Ängste und Unsicherheiten verstärkt, die für den inneren Frieden schädlich sind.“ (SZ 08.12.1992) Für alle, die von der rassistischen Gewalt betroffen waren, war der friedliche Zustand bereits beendet. Es geht hier um „eine Ordnung, die die Mehrheitsgesellschaft bestätigt und schützt. Bestätigt in dem Sinn, dass sie in einem positiven Selbstbild gestärkt wird, dass alles friedlich und demokratisch in dieser Gesellschaft zugehe“ (Rommelspacher 2015, 9). Der innere Frieden blendet sowohl Opfer rassistischer Gewalt als auch den Schutz geflüchteter Menschen systematisch aus, da dadurch das positive Selbstbild infrage gestellt werden würde.
Die Vorstellung des Kontrollverlusts spielt auf zwei Seiten eine Rolle. Die Zuwanderung wird vonseiten der Bevölkerung als Kontrollverlust empfunden, nun drohe auch ein Kontrollverlust hinsichtlich der Reaktionen in der Bevölkerung. Diese bedrohliche Situation wird dramatisierend als Volksaufstand, Volkszorn, Pulverfass, Alarmzustand oder als Bürgerkrieg beschrieben. Die Verunsicherung aufgrund der Asylmigration wird als Volkswillen gedeutet, der von der Politik berücksichtigt werden müsse. Ansonsten drohten Vertrauensverlust und eine Eskalation der Gewalt. Lediglich in der SZ wird teilweise dazu aufgerufen, sich für ein friedliches Zusammenleben und gegen Gewalt einzusetzen.
Die Ursachen und das zugrunde liegende Problem werden einvernehmlich in allen Artikeln in der „ungesteuerte[n] Zuwanderung“ (Feldmeyer 27.08.1992) und im „offenkundigen Mißbrauch des Asylrechts“ (Feldmeyer 09.09.1991) gesehen. Es geht somit um die Anzahl der Asylsuchenden, die fehlenden Kontrollmöglichkeiten der Zuwanderung und die als nicht legitim empfundenen Fluchtgründe. Als weiterer Aspekt werden soziale Probleme der einheimischen Bevölkerung hervorgehoben und eine damit verbundene Abstiegsangst. „Zur Unruhe der Bevölkerung tragen auch Neidgefühle und Ängste bei, die vielfach auf Unkenntnis beruhen: ‚Die Asylanten nehmen uns die Wohnungen und die Arbeitsplätze weg‘.“ (Schäffer 29.09.1992) Rassismus hingegen kann in diesem Diskurs nicht als Ursache der Gewalt benannt werden. Genauso wenig wird diskutiert, dass Deutschland schon lange ein Einwanderungsland ist und dass es notwendig wäre, diese Realität politisch anzuerkennen und die damit verbundene gesellschaftliche Auseinandersetzung zu fördern: „Nach Ansicht des Aussiedlerbeauftragten [...] kann Deutschland kein Einwanderungsland werden. In dieser Frage müsse auch auf Ängste in der Bevölkerung Rücksicht genommen werden.“ (o. A. 05.10.1991)
Lösungsmöglichkeiten für den Umgang mit den Ängsten werden in der Politik gesehen. Dabei ist ein paternalistisches Verständnis vorherrschend, das sich darin ausdrückt, dass es darum gehe, „die Bürger vorzubereiten“ (Möller 25.09.1991b), „das Unbehagen aufzufangen“ (Noelle-Neumann 16.12.1992), „ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln“ (Funk 26.08.1992) und „das Vertrauen der Bevölkerung [...] zurückzugewinnen“ (Köcher 13.01.1993). Eine Auseinandersetzung mit rassistischen Ungleichheitsideologien und eine Sensibilisierung der Bevölkerung wird nicht in Erwägung gezogen. Stattdessen wird die Grundgesetzänderung als Möglichkeit gesehen, Kontrolle zurückzugewinnen, da dies dem Willen des Volkes entspreche: „[...] ein Parlament könne auf Dauer nicht Politik gegen den erkennbaren Willen der Bevölkerung machen“ (Bannas 16.10.1992). Die „legitimen Interessen der deutschen Bevölkerung“ (Heuwagen 16.10.1991) müssten berücksichtigt werden. „Die Bürger seien ‚in ihrer eindeutigen Mehrheit der Auffassung, und es bezeugt ein merkwürdiges Demokratieverständnis, wenn man glaubt, diesen Mehrheitswillen auf Dauer ignorieren zu können‘“ (AP 05.09.1992). Gewalt wird damit als eine mehr oder weniger legitime Form der politischen Einflussnahme gedeutet. Abschließend lässt sich festhalten, dass in den beiden Zeitungen nicht reflektiert wird, welche Rolle sie und andere Medien bei der Entstehung von „Gefühlen der Bevölkerung“ spielen.
Verständnis für die Gewalttäter*innen
„Die Rechten haben bewirkt, die Politiker dafür zu sensibilisieren, daß das Asylrecht eingeschränkt wird und daß das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung an erster Stelle steht – nicht nur in Ostdeutschland.“ (Lebert 18.08.1993)
Dieses Zitat zeigt die Grundtendenz des Diskurses: Den Gewalttäter*innen wird für ihr Anliegen Verständnis entgegengebracht, es geht vor allem um das Sicherheitsempfinden der Bevölkerung, welches durch die Zuwanderung gestört werde. Das Verständnis für die Täter*innen ist damit verknüpft, dass die Gewalt als Jugendphänomen, als ostdeutsches Problem oder als ein Problem von Menschen mit niedrigem sozialem Status bagatellisiert wird. Die Täter*innen werden individualisiert, um die rassistische Gewalt nicht als gesamtgesellschaftliches Problem und damit eine Mitverantwortung anerkennen zu müssen. Es wird jedoch eine Mitverantwortung für die Zukunft der Täter*innen formuliert. Eine Auseinandersetzung mit rassistischen Ideologien und rechtsextremen Organisationen findet nicht statt. Stattdessen wird hervorgehoben, dass die rassistische Gewalt kein Ausdruck einer gefestigten politischen Haltung sei. Die Berichterstattung ist somit geprägt von Empathie und Verständnis – bis hin zu einer Anerkennung, dass die Täter*innen das vollziehen, was viele denken. Obwohl sie die Täter*innen der Gewalt sind, werden sie als Opfer konstruiert.
Dass die Täter*innen vor allem als Jugendliche wahrgenommen werden, machen bereits die genutzten Begrifflichkeiten deutlich. Obwohl auch als Skinheads oder Rechtsradikale bezeichnet, dominieren Begriffe wie ausländerfeindliche Jugendliche, junge Leute, junge Männer, gewalttätige Chaoten, Störer, jugendliche Gewalttäter, Heranwachsende, Burschen, Clique, Randalierer. Das Jugendlich-Sein der Täter*innen wird statt der gewalttätigen Handlung in den Vordergrund gestellt. Die gewalttätigen Handlungen selbst werden als Randale, Krawalle, Jugendrevolte, Störung oder Chaos verursachend verharmlost und die Opfer der Gewalt sowie die dahinterstehende rassistische Ideologie unsichtbar gemacht.
Die Darstellung der ostdeutschen (auch hier meist jugendlichen) Täter*innen bezieht sich zum einen auf die Sozialisation in der DDR mit wenig Kontakt zu zugewanderten Menschen, zum anderen auf soziale Probleme der aktuellen Lebenssituation – nämlich, dass viele Menschen „die Zeit nach der Wende nicht als Befreiung oder gar als Aufbruch, sondern immer mehr als eine weitere Stufe der Demütigung“ (Möller 25.09.1991a) erfahren würden. Es sind dabei vor allem wirtschaftliche Probleme, wie Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot, die genannt werden, aber auch die Angst vor sozialem Abstieg. Die Asylsuchenden würden dabei als Konkurrenz wahrgenommen, die von staatlicher Seite gefördert und geschützt würden. „Die Krawalle in Hoyerswerda sind wie ein Brennglas der drängenden Probleme in den neuen Bundesländern“ (Möller 25.09.1991a): In wenigen Artikeln wird die Reduktion des Problems auf Ostdeutschland kritisiert:
„Jetzt wird die Rostocker Gewalt zum Anlaß genommen, die Kluft zwischen Ost und West zu vertiefen.“ (Libbert 07.01.1993)
„Es sind dieselben Menschen in Ost und West: mit ihrem Fleiß und ihrer Tüchtigkeit, mit Ungenügsamkeit und Anspruchsdenken, Besitzegoismus und Sozialneid, mit ihrer Überheblichkeit und Besserwisserei, mit Radikalismus, Fremdenfeindlichkeit und – welcher Widerspruch – unterentwickeltem Nationalgefühl.“ (Libbert 07.01.1993)
Bei Anschlägen in Westdeutschland wird die Gewalt ebenfalls als ein soziales Problem, als Orientierungslosigkeit oder Ausdruck einer jugendlichen Phase gesehen. Vorherrschend ist eine Relativierung des politischen Aspekts der Gewalttaten: „Ein Ziel sei, den harten Kern der rechten Szene von den ‚eigentlich unpolitischen und eher zu spontanen Aktionen neigenden Mitläufern‘ zu trennen. [...] Man wolle die Jugendlichen nicht kriminalisieren.“ (Funk 26.08.1992) Sie seien „keine rechtsradikalen politischen Gewalttäter“ (Müller-Gerbes 20.04.1993) und „weder verrohte, noch politisch fanatisierte Verbrecher, sondern unreife junge Männer“ (Schäffer 24.12.1992). Durch Gespräche könne erreicht werden, „daß die Jugendlichen ‚Frust abbauen‘ könnten, daß sie ihre Vorschläge vorbringen könnten, daß sie ein Gefühl bekämen, ernst genommen zu werden“ (Funk 26.08.1992). In den Lösungsvorschlägen wird auch eine Hilflosigkeit im Umgang mit den gewaltbereiten Jugendlichen deutlich.
An verschiedenen Stellen scheint durch, dass die Täter*innen durchaus auch als Held*innen wahrgenommen werden: „Sie sind für ihn fast so eine Art Robin Hood , die den Ängsten der Anwohner endlich Nachdruck verleihen“ (Möller 25.09.1991a). „Und plötzlich konnten sie den Helden spielen, sich das trauen, was alle anderen auch wollten, aber zu feige dazu waren“ (Lebert 18.08.1993). Selbst vor Gericht wird dies in der Urteilsfindung berücksichtigt: „Richter Dehne sagte dazu, die Angeklagten hätten sich zu ihrer menschenverachtenden Tat sicher auch in dem Bewußtsein bereit gefunden, ‚den Willen eines nicht kleinen Teils der Bevölkerung zu vollziehen‘“ (Müller-Gerbes 20.04.1993). Lediglich an einer Stelle in der SZ wird die vorherrschende Haltung zu Opfern und Täter*innen kritisiert: „Wir haben zu trauern. Das heißt, uns einzufühlen in die Opfer, heißt aber auch, uns die schmerzliche Erkenntnis zuzumuten, daß wir alle damit zu tun haben, was die Täter in Solingen und Mölln angerichtet haben. Die gewalttätigen Skins, die unser Land unsicher machen, sind ein Teil unserer Gesellschaft, für den wir insgesamt mitverantwortlich sind.“ (Richter 28.06.1993)
Ausblick
Migration wird auch heute noch im öffentlichen Diskurs mit Kriminalität, Kontrollverlust und irregulärer Einreise verknüpft und gilt als Bedrohung der inneren Sicherheit. In der aktuellen Diskussion um die Einführung von Grenzkontrollen bis hin zur Abschaffung des individuellen Rechts auf Asyl zeigen sich deutliche Parallelen zu den 1990er-Jahren. Nur der einheimischen Bevölkerung wird ein Recht auf Sicherheit und ein menschenwürdiges Leben zugestanden. Die Gewährleistung der Sicherheit von Menschen, die nach Deutschland fliehen und hier Schutz suchen, sowie die Frage, ob Staatsorgane in der Lage sind, diese Menschen vor Gewalt zu schützen, sind nicht Gegenstand der Staatsräson. Dabei entsteht Gewalt nicht im luftleeren Raum. Menschenfeindliche Äußerungen und Abwertungen sind der erste Schritt, dass Ungleichbehandlung und Gewalt legitimiert werden und Menschen sich hier nicht mehr sicher fühlen, Zugehörigkeit abgesprochen und Solidarität und Empathie verweigert wird. Im Jahr 2023 ist die Zahl der rechtsextremistischen Straf- und Gewalttaten im Vergleich zum Vorjahr um mehr als 20 Prozent gestiegen. Die Rolle von Politik und Medien ist bei der Einordnung und Verurteilung der Gewalt nicht zu unterschätzen: Während es nach den Gewaltexzessen in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen, deren Gewalt live im Fernsehen übertragen wurde, bis zu 78 Nachahmungen pro Tag gab, entstanden nach den Brandanschlägen in Solingen und Mölln, die politisch stärker verurteilt wurden, in vielen Städten Solidaritätsaktionen.
„Es gibt in allen Gesellschaften ein rassistisches Repertoire. Die Frage ist, inwieweit hat es der intellektuelle oder politische Diskurs geschafft, das existierende rassistische Repertoire so zu ächten, dass es sich aus den öffentlichen Räumen ins Private zurückzieht [...] und sich nicht als Normalität generieren kann. [...] Um den öffentlichen Raum zu besetzen, braucht es den Verlust des intellektuellen Konsenses.“ (Foroutan 2019, 150)
Der aktuelle politische Diskurs konstruiert die Asylmigration als Ursache allen Übels, obwohl die Asylantragszahlen im Vergleich zum Vorjahr um 20 Prozent gesunken sind. Dies hat zur Folge, dass sich alle Parteien vor allem mit Migrationspolitik beschäftigen und keine Antworten auf die Fragen finden müssen, die sich insbesondere nach den Wahlergebnissen in Thüringen und Sachsen und einer erstarkenden AfD aufdrängen: Wie gelingt es, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken, die Würde und Integrität aller Menschen zu schützen und Erfahrungen von Zugehörigkeit und Teilhabe aller Menschen an unserer Demokratie zu ermöglichen?
Nadine Sylla, Prof.’in Dr., ist Professorin für Soziale Arbeit in der Migrationsgesellschaft an der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg. Der Artikel beleuchtet einen Aspekt ihrer Dissertation zur Konstruktion des Eigenen und Anderen im Asyldiskurs von 1977 bis 1999. Ihre Schwerpunkte sind Diskriminierungs- und Rassismuskritik, postkoloniale Perspektiven und reflexive Migrationsforschung.
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