Bis zur Befreiung des Konzentrationslagers Dachau durch das US-Militär im April 1945 gingen etwa 200.000 Menschen durch die Haft – 41.000 Menschen wurden durch Massenerschießungen, Erschöpfung, medizinische Experimente oder Typhus infolge der Lagerbedingungen ermordet. Die US-Militärregierung übergab das ehemalige Lager nach wenigen Jahren in bayerische Verwaltung. So wurde im 1946 gegründeten Bayern bald überlegt, das ehemalige Konzentrationslager als Zwangsarbeitslager zu nutzen.1 Bereits im Oktober 1947 verfasste Hans Hagn, ein CSU-Abgeordneter und Mitglied im Ausschuss für sozialpolitische Fragen, gemeinsam mit 15 Parteikollegen einen Antrag, der sich auf das ehemalige Konzentrationslager Dachau bezog (Verhandlungen des Bayrischen Landtags, Beilage 786/1948). Am 16. Januar 1948 reichte Hagn den Antrag ein. Der Antrag lautete: „Die Staatsregierung sei zu beauftragen, mit der Militärregierung umgehende Verhandlungen aufzunehmen, um auf dem schnellsten Wege Lagerobjekte freizubekommen (Dachau) zur Errichtung von Arbeitslagern für asoziale Elemente“ (Verhandlungen des Bayrischen Landtags, PP 45/16.01.1948: 587–589).
Hagns Antrag wurde vom Landtag einstimmig angenommen. Der vorliegende Aufsatz diskutiert, inwiefern der Antrag in der Kontinuität nazistischer Herrschaft gegenüber Arbeits- und Erwerbslosen zu sehen ist.2 Dabei wird argumentiert, dass der Landtagsbeschluss sowohl in Vorstellung von Asozialität und Arbeitsscheue wie auch in der Rechtspraxis auf die Zeit des Nationalsozialismus zurückgriff. Um die Kontinuitätslinie des Landtagsbeschlusses zu erörtern, werden die rechtlichen Grundlagen und die Funktion des Konzentrationslagers Dachau als Arbeitslager und der Umgang mit sogenannten Asozialen im Nationalsozialismus geschildert. Diese werden mit der knappen Landtagsdebatte und dem historischen Kontext der Debatte in Beziehung gesetzt.
‚Arbeitserziehungslager‘ im Nationalsozialismus
Mindestens 16.600 Häftlinge des Konzentrationslagers Dachau trugen einen grünen oder schwarzen Winkel und galten im Jargon des ‚Dritten Reichs‘ als Berufsverbrecher oder Asoziale. Für die Inhaftierung in das Konzentrationslager war keine konkrete Straftat notwendig, sondern lediglich eine angebliche Gefährdung der NS-‚Volksgemeinschaft‘ in sozialer, wirtschaftlicher und rassischer Dimension. Die Einweisung von ‚Asozialen‘ und ‚Berufsverbrechern‘ fußte hierbei auf konzertierten Aktionen von Fürsorge, Polizei und Justiz mit dem Zweck der „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ (Eberle 2008: 253f.). Betroffen waren insbesondere subproletarische Schichten, deren Abhängigkeit von staatlicher Wohlfahrt nicht als Folge politischer Ökonomie erklärt, sondern als Ausdruck rassisch-eugenischer ‚Minderwertigkeit‘ verstanden wurde. Dementsprechend galten die kriminalisierten Handlungen der sogenannten Berufsverbrecher in der nationalsozialistischen Ideologie als Ausdruck ihres rassischen Wesens. Wegen dieses angeblich biologisch determinierten Wesens konnte die Inhaftierung von sogenannten Asozialen und Verbrechern als ‚Volksschädlinge‘ zum Schutz der Volksgemeinschaft legitimiert werden,3 statt sozialpolitische Maßnahmen einzuleiten und die Lebensbedingungen zu heben.
Dass in der nationalsozialistischen Ideologie ein innerer Zusammenhang zwischen kriminalisierter Handlung, vermeintlicher Arbeitsscheue und Abhängigkeit von staatlicher Fürsorge bestand, zeigen u. a. die Titel der groß angelegten Maßnahmen gegen angebliche Arbeitsscheue: Bereits Ende September 1933 wurde vom Reichsinnenministerium die ‚Bettlerrazzia‘ im gesamten Reichsgebiet durchgeführt und propagandistisch als Maßnahme gegen die ‚Bettelmafia‘ und ‚Landstreicher‘ – die damals häufig noch einfach ‚Wanderer‘ genannt wurden – aufgeladen. Die Gestapo verhaftete zudem gemeinsam mit der Kriminalpolizei im Jahr 1938 10.000 Menschen im Zuge der Aktion ‚Arbeitsscheu Reich‘ zur ‚vorbeugenden Verbrechensbekämpfung‘. Die Aktion richtete sich vor allem gegen Bettler, mittellose Alkoholkranke, Landstreicher, teilweise auch gegen Zuhälter und Personen, die mit Unterhaltszahlungen im Rückstand lagen, sowie gegen Sinti und Roma. Auch der nationalsozialistischen Rechtsprechung lag ein angenommener Zusammenhang von Arbeitsscheue, Kriminalität und Asozialität zugrunde. Beispielsweise galt das mehrmalige aus ‚Gewinnsucht‘ betriebene kriminelle Handeln in der NS-Rechtsprechung als eine Voraussetzung für die vorbeugende Haftanordnung. Um diese Gewinnsucht nachzuweisen, verwiesen viele Haftanträge auf das angebliche arbeitsscheue Verhalten der Zielpersonen. Dagegen war Arbeitsbereitschaft und Arbeitsleistung Grund der KZ-Entlassung (vgl. Hörath 2014).
Die nationalsozialistische Rechtspraxis stützte sich u. a. auf das Fürsorgerecht der Weimarer Republik, da Paragraf 20 der Reichsfürsorgepflichtverordnung (RFV) die wichtigste rechtliche Grundlage zur Einweisung von ‚Asozialen‘ in Arbeitshäusern war. Seit Juni 1934 sah auch Paragraf 42 des Reichstrafgesetzbuches die Unterbringung im Arbeitshaus vor, um den Inhaftierten „zur Arbeit anzuhalten und an ein gesetzmäßiges und geordnetes Leben zu gewöhnen“ (Fuchs 2010: 183). Der Paragraf bezog sich auf Personen, die wegen Trunksucht, Bettelei aus Liederlichkeit oder Arbeitsscheue, Landstreicherei oder Unzucht zum gewohnheitsmäßigen Erwerb festgenommen wurden. Seit 1937 konnte die Arbeitshausunterbringung auch zur Vorbeugehaft eingesetzt werden, wodurch die als ‚asozial‘ stigmatisierten Zielpersonen endgültig der Willkür des Maßnahmenstaates ausgeliefert wurden. Die Gesetze zeigen die Varianz der Zielpersonen, die als ‚Asoziale‘ gefasst und als Gegenstück der NS-Volksgemeinschaft begriffen wurden.
Das KZ Dachau spielte im Terror gegen ‚Asoziale‘ und ‚Berufsverbrecher‘ eine gewichtige Rolle. Im März 1934 rühmte der Leiter der Politischen Polizei, Heinrich Himmler, die Effizienz des Konzentrationslagers in einem Schreiben an das Bayerische Innenministerium:
Es muß anerkennend hervorgehoben werden, daß das Lager als Erziehungsstätte für Arbeitsscheue nur Ersprießliches geleistet hat. Die Arbeitshäuser haben vor allem ihre renitentesten Insassen in das Lager abgeschubt [sic!]. Das Benehmen dieser Leute in den ersten 24 Stunden im Lager Dachau war auch dementsprechend. Durch den nur im Lager Dachau möglichen scharfen Zugriff gelang es in kurzer Zeit, aus diesen Berufsverbrechern Menschen zu machen, die sich wenigstens nach außen hin ohne jede Widersetzlichkeit in die straffe Ordnung und Disziplin des Lagers einfügten; ein Erfolg, der in den Arbeitshäusern nie hätte erzielt werden können. Dieser Erfolg war jedoch nur dadurch möglich, daß den Leuten eine ständige gleichbleibende Arbeit zugewiesen werden konnte. (Himmler 1998: 139)
Von den bayerischen Fürsorgeverbänden begrüßt, erkannte das Bayerische Innenministerium das KZ Dachau ein halbes Jahr nach Himmlers Schreiben als eine Arbeitsanstalt nach Paragraf 20 RFV an, was die Einweisung von ‚Arbeitsscheuen‘ in das Konzentrationslager ermöglichte. Der Bezirksfürsorgeverband der Stadt München bzw. das Wohlfahrtsamt der Stadt verhängten diese Zwangsmaßnahme bereits seit Juli 1933 und gehörten im Nationalsozialismus „bayernweit bei den Einlieferungen ins KZ Dachau quantitativ zu den ‚Spitzenreiten‘“ (Brunner 1997: 264). Etwa jeder vierte der über 16.000 Inhaftierten mit schwarzem oder grünem Winkel überlebte Dachau nicht. Damit lag deren Sterberate 9 Prozent über den Sterberaten der anderen deutschen und österreichischen Häftlinge (Eberle 2008: 254).
Kontinuität und Reintegration
Im postnazistischen Bayern knüpfte die Regierung an der Institution Dachau als Arbeitslager an. Die grausame Effizienz des KZ Dachau war vermutlich auch Hans Hagn und den anderen Mitberichterstattern bekannt, als sie 1948 den Antrag zur Nutzung des ehemaligen KZ als „Arbeitslager für asoziale Elemente“ in den Landtag einbrachten. Von den 15 CSU-Abgeordneten, die den Antrag im Oktober 1947 einreichten, war Rupert Berger sogar selbst 1933 für einige Zeit im KZ Dachau inhaftiert. Der Antrag wurde von Hagn als Berichterstatter des sozialpolitischen Ausschusses mit dem erzieherischen Aspekt der Arbeitslager begründet.4 Im Protokoll heißt es u. a.:
Der Berichterstatter zeigte die Notwendigkeit der Errichtung von Arbeitslagern an der heutigen schwer gefährdeten Sicherheit auf. Wie sich an dem Beispiel des Münchner Hauptbahnhofs erwiesen habe, wirkte die Ankündigung der Einweisung in ein Arbeitslager Wunder. Die bisherige Methode des Einsperrens nütze nichts. Dagegen könne den Betreffenden in Arbeitslagern das Arbeiten beigebracht werden. Der Mitberichterstatter verwies vor allem auf die Bedeutung von Arbeitslagern als Stätten der Umerziehung von arbeitsscheuen Elementen hin zu willig arbeitenden Menschen. (Verhandlungen des Bayerischen Landtags, PP 45/16.01.1948: 587)5
Indem im Bericht die Qualität Dachaus als Arbeitslager angesprochen wurde, bezogen sich die Antragsteller auf die Praxis des NS und nationalsozialistisches Wissen im Umgang mit ‚Asozialen‘. Zudem deutet auch die begriffliche Kontrastierung von „arbeitsscheuen Elementen“ und „willig arbeitenden Menschen“ Residuen spezifisch nationalsozialistischer Arbeitsethik an, die die Anerkennung als Menschen an die Arbeitswilligkeit knüpfte.6 Dass die Praxis der Zwangsarbeit als Strafe und Erziehung sowie der Ort Dachau als Straflager auch den potenziellen Häftlingen drei Jahre nach der Niederlage des Regimes bekannt war, deutete Hagn in seiner Begründung ebenfalls an: Dessen primäres Argument für die Wiedereröffnung des ehemaligen Konzentrationslagers Dachau als Arbeitslager war schließlich die Wirkung der Arbeitslager als Drohung auf potenzielle Häftlinge am Münchner Hauptbahnhof. Die angenommene Wirkung dieser Drohung ist kaum verwunderlich, denn die Willkür der oben geschilderten vorbeugenden Verbrechensbekämpfung und das Drohszenario von Zwangsarbeit waren den potenziellen Zielgruppen sicherlich noch gegenwärtig.
Der Münchner Hauptbahnhof, der den Berichterstattern ein zentraler Angriffspunkt für die Maßnahmen gegen ‚Arbeitsscheue‘ war, galt neben der Möhlstraße, dem Bahnhof München-Pasing sowie den Mathäser Hallen als gewichtiger Ort des städtischen Schwarzhandels, gegen den die Münchner Polizei seit September 1945 mit eskalierenden Maßnahmen vorging: Etwa 3.800 Personen wurden im Zuge von Razzien gegen Schwarzhändler im Jahr 1946 festgenommen. Anfang 1947 wurde ein eigenes Schnellgericht für Schwarzhändler eingeführt und im Herbst 1947 sollten Schwarzhändler, die zum zweiten Mal dem Schnellgericht überführt wurden, mit bis zu zwei Jahren Arbeitslager bestraft werden (vgl. Nussbaumer 1994: I/218). Auf dieses repressive Mittel spielte Hagn zum einen an und wollte zum anderen den Kampf gegen Schwarzhandel mit der Eröffnung des ehemaligen KZ Dachau als Arbeitslager weiter ausbauen.
Indem Hagn für die Arbeitslager als Maßnahme gegen mutmaßliche Verbrecher plädierte, stand der Antrag in einer Kontinuitätslinie zu der im NS-Regime üblichen vorbeugenden Verbrechensbekämpfung. Die Nähe zur nationalsozialistischen Praxis legt auch der von Hagn in der Landtagsdebatte zitierte Bericht der Münchner Kriminaldirektion nahe: Für die über 5.500 im Jahr 1947 in München wegen „Bettelns, Landstreicherei und Ausweislosigkeit“ Festgenommenen wurde laut Bericht eigens ein Lager in München-Pasing eingerichtet. Die Arbeitslosen waren aus Sicht der Polizei arbeitsscheu und stammten aus außerbayerischen Gebieten. Die Gefahr sei weitaus größer, denn die Festgenommenen stellten nur „einen Bruchteil jener Asozialen dar […], die laufend das Agrarland Bayern durchwandern“ und „zum Teil selbst offen zugeben“, dass es sich hier „gut leben lässt und zwar in ihrem Sinne, nämlich ohne Arbeit“. Dieser „Überflutung“ müsse Einhalt geboten werden.7 Allerdings habe sich die Arbeitsanstalt in Pasing schnell für die Polizei als „ungeeignet“ gezeigt, „weil nicht der nötige massierte Arbeitseinsatz garantiert war und die Leute, nachdem sie sich erholt, ausgeruht und orientiert hatten, wieder flüchtig gingen“. Um diesen Eigensinn der Arbeitslosen zu brechen – das impliziert die Kritik an der mangelnden Arbeitsintensität – forderte die Kriminalpolizei die Einrichtung von Arbeitslagern, in denen die Arbeitsintensität Inhaftierte zur permanenten Erschöpfung zwingen sollte.
Die geforderte Eskalation polizeilicher Maßnahmen gegen Arbeitslose ist auch angesichts des gleichzeitigen Rückgangs der Arbeitslosenzahlen in Bayern frappierend: Das Bayerische Statistische Landesamt konnte im am 2. Januar 1948 abgeschlossenen Bericht zur Entwicklung von Staat und Wirtschaft in Bayern vermelden, dass „sich im Herbst 1947 erstmals keine jahreszeitlich bedingte Erhöhung, sondern ein weiterer Rückgang der Arbeitslosenziffer“ zeigte (Bayerisches Statistisches Landesamt 1948: 12). Lag die absolute Zahl der in Bayern als arbeitslos gemeldeten Personen im September 1946 noch bei 316.158, sank sie bis Oktober 1947 auf 173.657 (ebd.: 12). Zudem wurde in einem internen Bericht des Ministeriums für Arbeit und Soziale Fürsorge Ende Januar die Zahl der Arbeitslosen durchaus gering eingeschätzt. Von den im Januar 1948 ca. 175.000 Arbeitslosen galten rund 26 000 bereits vermittelt und knapp 58.000 waren wegen Kriegsversehrungen gar nicht ‚vollarbeitsverwendungsfähig‘ (BMfAuSF 1948: 4–5). Obwohl sich die Inanspruchnahme von Arbeitslosen- und Kurzarbeitsunterstützung im Januar verdreifachte, erkannte das Ministerium die Gesamtzahl „als wieder gering“ an (BMfAuSF 1949: 10). Die geringe Belastung der Münchner Wohlfahrt führte das Statistische Amt der Landeshauptstadt 1947 darauf zurück, dass die Produktion zum einen „merkwürdig viele Arbeitskräfte bindet“, dass die Gesellschaft „überaltert“ ist und dass die „Geldunterstützung heute auch für den Fürsorgeempfänger nur beschränkten Wert hat“. Es fehlten Sachwerte wie „Obdach, warme Kleidung, Schuhwerk, Hausrat“, die die Wohlfahrt jedoch nicht zur Verfügung stellen könne, weshalb viele auf Unterstützung verzichten und sich mit „Schwarzhandelsgeschäften“ durchschlagen würden. Eine gefährliche Belastung der städtischen Wohlfahrt erkannte das Amt deswegen nicht (Statistisches Amt der Landeshauptstadt 1947: 47f.). Der Schwarzhandel war also eine Überlebensstrategie vieler Personen angesichts der rudimentären Versorgungsleistungen staatlicher Wohlfahrt in den ersten Nachkriegsjahren – statt Folge einer angeblich grassierenden arbeitsscheuen Haltung, die die Polizei attestierte.
Die Kontinuität des nationalsozialistischen Denkens in der Nachkriegszeit zeigt sich in verschiedenen Aspekten: Die Rhetorik der Entmenschlichung Arbeitsloser und von Armut getroffener, die Kriminalisierung von Überlebensstrategien und das Wiederaufgreifen der auch in der nationalsozialistischen Praxis gängigen Vermengung von Fürsorge und vorbeugender Verbrechensbekämpfung gehören zu diesen Aspekten, die im Versuch, die Funktionalität des KZ Dachau weiterzuführen, auf einen Höhepunkt zuliefen.
Die Reintegration der NS-Ortes blieb auch von den Sozialdemokraten in der Landtagsverhandlung unwidersprochen. Hagns Mitberichterstatter war der Ministerialreferent des Ministeriums für Arbeit und soziale Fürsorge, der Sozialdemokrat und ehemalige Gewerkschafter Richard Oechsle. Er berichtete laut Landtagsprotokoll unterstützend, dass vom Arbeitsministerium bereits ein Gesetzesentwurf zur „Bekämpfung von Arbeitsscheue und Arbeitsbummelei“ erstellt werde, welcher als rechtliche Grundlage zur Intensivierung der Arbeitslager diene, obwohl in seinem Ministerium, wie oben vorgestellt, weder die Belastung der Arbeitsämter noch die absolute Zahl der Arbeitslosen als besonders hoch eingeschätzt wurde. Der sozialdemokratische Abgeordnete Hans Beck, der in der kurzen Landtagsdebatte das Wort ergriff, legte ebenfalls keinen prinzipiellen Einwand vor und teilte die Vorstellung, armutsbedingte Überlebensstrategien als Arbeitsscheue zu kriminalisieren. Er wies zwar darauf hin, dass nicht jeder Fremde arbeitsscheu sei, wodurch die Gefahr bestehe, dass die arbeitswilligen Fremden mit ‚Arbeitsscheuen‘ über Jahre hinweg in Lagern gehalten und damit vom Arbeitsmarkt abgehalten werden könnten. Dennoch bezweifelte er die Relevanz der Arbeitslager nicht und hielt sie „in bestimmten Fällen [für] notwendig“. Der Antrag wurde einstimmig angenommen.
Flankiert wurde dieser Landtagsbeschluss vom Druck der Straße. Die katastrophalen Produktionsbedingungen führten vor allem in den Wintermonaten zu Engpässen in der Versorgung von Lebensmitteln.8 Die Kalorienrationen wurden im Winter 1947/48 empfindlich gesenkt, wogegen Arbeiterinnen und Arbeiter agitierten. Am 7. Januar beispielsweise setzten allein in München 8 000 Metallarbeiter in wilden Streiks die Arbeit aus, um für höhere Lebensmittelzuteilungen zu protestieren. Der kurz zuvor gegründete Bayerische Gewerkschaftsbund koordinierte bald die Proteste der Arbeiterinnen und Arbeiter (vgl. Erker 1988: 95–96). Am 17. Januar, also einem Tag nach dem Landtagsbeschluss, reichte er sieben ultimative Forderungen zu Verbesserung der Ernährungslage an die Bayerische Staatsregierung ein. Darunter lautet Punkt fünf: „Einweisung aller asozialen Elemente in Arbeitslager“ (zitiert nach Erker 1988: 96). Um den Forderungen Nachdruck zu verleihen, rief der Gewerkschaftsbund am 23./24. Januar zu demonstrativer Arbeitsruhe auf, der sich über eine Million bayerische Arbeiter und Angestellte anschlossen (vgl. Erker 1988: 97). Bei den Protestveranstaltungen, die im Rahmen dieses Streiks durchgeführt wurden, wurden auch Plakate mit der Aufschrift „Nur wer arbeitet, soll auch essen“ getragen (vgl. Henker 1995: 61). Die Einweisung sogenannter ‚Asozialer‘ in Arbeitslager war also über politische Gruppen hinweg Konsens. Die Gewerkschaften schlossen mit ihren Forderungen keineswegs die Schwächsten der Gesellschaft ein, sondern zielten darauf, den Normalverbraucher zu repräsentieren, weshalb der arbeitslosenfeindliche Landtagsbeschluss auch von ihrer Unterstützung getragen war. Mit dem einstimmigen Beschluss, das ehemalige Konzentrationslager als Arbeitslager erneut zu nutzen, wurde also für kurze Zeit eine Institution des NS-Terrors transformiert und in das demokratisch regierte Bayern überführt. Folgt man den Forschungen von Dagmar Lieske zum Terror gegen sog. ‚Berufsverbrecher‘ und zum Umgang mit dieser Opfergruppe in der Nachkriegszeit, erscheint diese Sichtweise als kein singuläres Ereignis. Die „Einweisung von ‚Kriminellen‘ in Konzentrationslager wurde generell nicht als Unrecht wahrgenommen, sondern allenfalls als zu hohes ‚Strafmaß‘ bewertet“. Deshalb „erschien die Einweisung in die Lager mittels polizeilicher Maßnahme weniger als spezifisches Instrument des nationalsozialistischen Staates, sondern vielmehr als Fortsetzung einer an sich gerechtfertigten Maßnahme“ (Lieske 2016: 324). Auch in Hamburg wurde geplant, auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Neuengamme eine Haftanstalt zu eröffnen – und zwar mit der „intention of erasing Neuengamme’s bad name“ (Marcuse 2001: 159–160). Vor diesem Hintergrund könnte auch der Landtagsbeschluss zur Konversion des ehemaligen KZ Dachau in ein Zwangsarbeitslager die Funktion der Amnesie gehabt haben.
Nachspiel
Der Versuch, das ehemalige KZ als Zwangsarbeitslager wieder zu nutzen, scheiterte. Da die Zunahme an Flüchtlingen in Bayern infolge der Blockbildung es nötig machte, die freien Flächen für die Unterkunft von Geflüchteten zu nutzen, beschloss der Landtag im April 1948, im ehemaligen KZ Dachau Flüchtlinge unterzubringen (Verhandlungen des Bayerischen Landtags, PP 68/29.04.1948: 1364), und billigte über 5 Millionen DM zum Umbau des ehemaligen KZ in ein Wohnlager.9 Der Sachzwang verhinderte die Reintegration des KZ als ‚Pflichtarbeitslager‘ in die Bundesrepublik. Allerdings blieb das Herrschaftsinstrument der Arbeitsanstalt zunächst erhalten. Als die US-Militärverwaltung in ihrem Hoheitsgebiet 1949 sämtliche Arbeitsanstalten schloss und die gesetzliche Legitimation für deren Existenz aufhob, gehörte die unbezahlte Pflichtarbeit noch zum Repertoire kommunaler Behörden, da zwischen 80 und 90 Landkreise und Städte Fürsorgeempfänger zu dieser Form der Arbeit verpflichteten. Noch 1955 wurden etwa 70 Mädchen in Bamberg in ein Arbeitshaus eingewiesen. Erst 20 Jahre später wurde diese Praxis durch die Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts beendet (vgl. Rudloff 2002: 361–364).
1 Ausführlich zur Geschichte und Nachgeschichte des Konzentrationslagers Dachau siehe Marcuse 2001. Einführend zum KZ Dachau siehe Hammermann 2008 und zur Nachgeschichte Marcuse 1990.
2 Allgemein zum Neubeginn in Bayern und der US-amerikanischen Besatzung siehe Krauss 2007: 59–90.
3 Die rassistische Erklärung sozioökonomisch bedingter Ungleichheit und damit die eugenische Diffamierung kriminalisierten Handelns ist Bestandteil des rassistischen Konzeptes nationalsozialistischer Volksgemeinschaft. Dabei kann diese Volksgemeinschaft mit Detlev Peukert in einen nach außen wirkenden ethnischen Rassismus und einen nach innen wirkenden eugenischen Rassismus unterschiedenen werden, vgl. Peukert 1982: 246–279.
4 Zu den Antragsstellern siehe: Beilage zu den Verhandlungen des Bayerischen Landtags (Nummer 786/1948).
5 Sofern nicht anders angegeben, sind zitierte Textstellen diesem Protokoll entnommen.
6 Zum Verhältnis von NS-Arbeitsethos und Ausschluss von „Arbeitsscheuen“ aus der „Volksgemeinschaft“ siehe Lelle 2016.
7 Die Auslagerung der Gründe für die schlechte Wirtschafts- und Ernährungslage an Nicht-Bayern, etwa an die US-Militärregierung, die angeblich Rationierung als Druckmittel nutzte, oder an Norddeutsche, die durch Bayern streiften, hing eng mit der eigenstaatlichen Haltung politischer Institutionen in Bayern zusammen. Die Grundhaltung wird in der Forschung immer wieder als ‚bayerische Stimmung‘ bezeichnet, die auch von Polizeimeldungen befeuert wurde, vgl. Griess 1991: 232–234.
8 Zu den strukturellen Bedingungen der wirtschaftlichen Entwicklung Bayerns während der Besatzungszeit siehe: Willenborg 1988: 121–142.
9 Im September bewilligte der Landtag 3 Millionen DM, siehe Verhandlungen des Bayerischen Landtags, Plenarprotokoll (87/22.09.1948: 88). Im Dezember bewilligte er weitere 2,26 Millionen DM, siehe Verhandlungen des Bayerischen Landtags, Plenarprotokoll (94/2.12.1948: 359).
Quellen
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Verhandlungen des Bayerischen Landtags. Beilage (Nummer 786/1948).
Verhandlungen des Bayerischen Landtags. Plenarprotokoll (45/16.01.1948).
Verhandlungen des Bayerischen Landtags. Plenarprotokoll (68/29.04.1948).
Verhandlungen des Bayerischen Landtags. Plenarprotokoll (87/22.09.1948).
Verhandlungen des Bayerischen Landtags. Plenarprotokoll (94/02.12.1948)
Literatur
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