Zum Gerücht
Ein Gerücht kann etwas Wahres enthalten, muss es aber nicht. Gerüchte lassen Raum zur Interpretation, machen Andeutungen, liefern aber nicht unbedingt Begründungen. Gerüchte beruhen auf Hörensagen und Nacherzählen, auf Weglassen und Hinzuerfinden. Gerade weil Gerüchte flüchtig und vergänglich scheinen, sind sie umso unberechenbarer und kaum zu kontrollieren. Es bleibt meist etwas hängen, auch dann, wenn eigentlich jeder einsehen müsste, dass nichts dran ist. Gerüchte haben einen zweifelhaften Ruf und dennoch – oder vielmehr gerade deswegen – verbreiten sie sich wie im Flug. Und dass es sehr lustvoll sein kann, ein Gerücht weiterzuerzählen, diese Erfahrung hat bestimmt jede*r schon einmal gemacht.
Zu den besonders erfolgversprechenden Zutaten eines deftigen Gerüchts gehört „seit jeher eine Prise Sex“ (Gestmann 2010). Das dokumentiere schon die Herkunft des Wortes „klatschen“: „Klatschweiber waren Wäscherinnen. Ihr Name rührt von der damals üblichen Reinigungstechnik her, bei der die nasse Wäsche gegen Steine geschlagen wurde, um das Gewebe möglichst gut durchzuwalken. Die Waschweiber bemerkten bei ihrer Tätigkeit hin und wieder verräterische Flecken auf den Laken. Sie erhielten so einen Einblick in das Geschlechtsleben ihrer Auftraggeber, den sie gerne mit anderen teilten.“ (Ebd.) Die Lust am Gerücht, so ließe sich an dieser Stelle sagen, entspringt – vielleicht im Gegensatz zur durchausmöglichen Lust an einer gut begründeten Erkenntnis, einer neuen Entdeckung, einer neuen sicheren Information, einer neuen Beweisführung, einer neuen Quelle – gerade daraus, dass es etwas liefert, dessen Quelle unklar ist und das sich gerade nicht beweisen lässt: weil man genau darüber auch gar nicht so viel wissen will. Die Lust am Gerücht hat also etwas zu tun mit dem Nicht-so-genau-wissen-Wollen.
Sigmund Freud hat sich nicht mit der Psychoanalyse des Gerüchts beschäftigt, aber mit Formen der Äußerungen des Unbewussten, deren Psychodynamik sehr ähnlich ist: und zwar mit dem Witz. Ich werde die Psychodynamik der Lust am Gerücht mithilfe der Freud‘schen Witztheorie (Freud 1987 [1905]) zu erklären versuchen. Freud nahm das Lachen über Witze nicht als selbstverständlich an, sondern als etwas, das zwar als selbstverständlich erscheint, aber erklärungswürdig ist. Er ging davon aus, dass es sich um eine lustvolle Abfuhr handelt. Wegen der Möglichkeit, Inhalte, die ansonsten der Zensur zum Opfer fallen würden – der Witz ist neben Traum, Symptom und Fehlleistung eine der psychischen Leistungen, in denen sich das Unbewusste zeigt –, nahm Freud an, dass das Lustvolle am Witz eine „Ersparnis“ sei; und zwar die Ersparnis, kritisch, rational und aufmerksam an den Witz heranzugehen, und sich so die Möglichkeit zu geben, Affekte durchzulassen, die man sich sonst versagen würde. Man könnte sagen: Als Witz passieren Gedanken die Zensur, können durchgemogelt werden, die sonst als unanständig, verboten etc. wahrgenommen würden. Für das Lachen über einen Witz ist genau das entscheidend. Kein Witz funktioniert, wenn man an ihn mit einer kritischen, rationalen Haltung herangeht.
Dass das nicht immer eine harmlose Sache ist, hat Freud in seiner Beschäftigung mit der Zote gezeigt (ebd.). Die „sexuell erregende Rede“ werde als „Zote“ vom „Verführungsversuch“ zum Selbstzweck, wenn in diesem Moment zumindest mehr nicht ginge, eine sexuelle Handlung aus äußeren oder inneren Gründen nicht möglich sei (ebd.: 108). Die Frau solle nun wenigstens mittels einer anzüglichen Äußerung erregt werden, indem in ihrer Gegenwart einem Dritten ein obszöner Witz erzählt wird. Billigend in Kauf genommen werde dabei, dass die Frau „in Scham oder Verlegenheit“ gebracht werde, schließlich sei das ursprüngliche Motiv der Zote, „das Sexuelle entblößt zu sehen“ (ebd.: 106). Auf die Reaktion kommt es jetzt nicht mehr an, denn wenn das Objekt der Begierde ohnehin nicht erreichbar ist, kann man es auch erniedrigen. Gleichzeitig verbrüdern sich Erzähler und Zuhörer in der lachenden Lust an der Bloßstellung. Die Frau wird zur ausgeschlossenen Dritten, der kaum eine Möglichkeit bleibt, sich der Zumutung zu erwehren. Würde sie wütend und erhöbe Einspruch, wäre in dieser Logik das Ziel – die Frau erregen – ebenfalls erreicht. Abfuhr und Gemeinschaftsbildung qua Zote funktionieren auch, wenn die Anwesenheit einer Frau nur vorgestellt wird. Je gebildeter Erzähler und Publikum, so Freud, desto witziger müsse die Zote sein und desto eher würde die tatsächliche Anwesenheit einer Frau dazu führen, dass der Erzähler verstumme (ebd.). Der Inhalt dürfe nicht offen obszön sein, müsse verschoben und verkleidet werden, die Lust aber stamme aus der „nämlichen Quelle“, man lache über dasselbe, was „den Bauer bei einer groben Zote lachen mache“ (ebd.: 111). Aus dem ursprünglichen Ziel, die Frau, in deren Anwesenheit die Zote erzählt wird, sexuell zu erregen (also für sich zu interessieren), wird, je vergeblicher dieser Versuch gerät, das Ziel, die Frau überhaupt zu erregen. Das heißt: Auch wenn sie beschämt wird oder sich mächtig ärgert, ist das Ziel erreicht.
Genauso funktioniert laut Freud auch der feindselige Witz, bei dem „die gewalttätige Feindseligkeit, vom Gesetz verboten, [...] durch die Invektive in Worten abgelöst worden“ (ebd.: 112) sei. Wenn das Objekt des Witzes nicht in ernsthafter Form, also direkt, geschmäht werden könne, werde der Witz zur Hilfe genommen, „welcher [...] eine Aufnahme beim Hörer“ (ebd.: 113) sichere. Auch hier schließen sich Erzähler und Publikum zur Gemeinschaft zusammen, der Dritte, dem die Feindseligkeit gilt, wird ausgeschlossen. Was bedeutet dies nun für die Psychodynamik des Gerüchts? Das Lustvolle am Gerücht, so die These, beruht ebenfalls auf einer Ersparnis: Unbewusste Fantasien und Affekte, die man sich sonst nicht zugestehen könnte, können ausgelebt werden. Was einem hier erspart bleibt und die Lust am Gerücht ermöglicht, ist der Aufwand der „Realitätsprüfung“ bzw. noch einfacher: der Aufwand des Denkens. Beides wird vermieden. Damit wird auch vermieden, sich mit einer Realität auseinanderzusetzen, die komplizierter ist, als man wahrhaben möchte. Nicht zuletzt geht es dabei, so ist zu vermuten, um eine Vermeidung der Auseinandersetzung mit der eigenen Ohnmacht: Statt hilflos vor einer komplexen, übermächtigen Realität zu stehen, ist man eine*r von denen, die Bescheid wissen.
Der Übergang vom bloßen Gerücht zur Verschwörungsideologie erfolgt dort, wo ein Gerücht, um es nicht sein lassen zu müssen, mit teilweise sehr hohem Aufwand begründet wird. Verschwörungserzählungen werden gebildet, so könnte man sagen, um das Gerücht und die damit verbundene Lust bzw. Entlastung nicht aufgeben zu müssen. Imponieren Verschwörungserzählungen durch ihre Aufklärungsresistenz – ähnlich einem Wahn können sie jeden Widerspruch integrieren –, nehmen sie dem Gerücht gerade den flüchtigen, reversiblen Charakter, geben ihm eine Form, in der es Generationen überdauern kann.
Das bekannteste zur Verschwörungserzählung geronnene Gerücht über die Juden dürften die sogenannten „Protokolle der Weisen von Zion“ sein, Vorbild aller Weltverschwörungsideologien. Die Protokolle geben vor, von einem geheimen Treffen zu stammen, auf dem Juden die Übernahme der Weltherrschaft planen. An den „Protokollen der Weisen von Zion“ lässt sich gut nachvollziehen, wie aus dem Gerücht der jüdischen Weltherrschaft bzw. dem Streben danach, eine unangreifbare Verschwörungserzählung wird. Grundlage war eine Satire, nämlich die „Gespräche in der Unterwelt zwischen Machiavelli und Montesquieu“ von Maurice Joly aus dem Jahr 1864 (Benz 2007). Wie Umberto Eco in einer seiner Harvard-Vorlesungen unter dem Titel „Fiktive Protokolle“ vorführt, tauchen in diesem Entwurf einer geheimen Weltverschwörung allerdings überhaupt keine Juden auf (Eco 1994). An der Verbreitungsgeschichte (Benz 2007; Hagemeister 2017) des 1903 zuerst in St. Petersburg publizierten Verschwörungsmythos ist interessant, dass sie seit ihrem Erscheinen immer wieder zur Fälschung erklärt wurde (vgl. den Beitrag von Botsch in diesem Band), was ihrer Popularität nicht geschadet hat.
Psychodynamik des Antisemitismus I: Gerücht, Riechen und Mimesis
Auch wenn bei einem Gerücht meist etwas hängen bleibt, hat das Gerücht etymologisch nichts mit dem Geruch zu tun. Der Geruch stammt vom „riechen“ ab; die Wurzel von „Gerücht“ kommt vom mittelhochdeutschen geroufede, geroufte etc. Dies sind Verbalabstrakta von „rufen“, im heutigen Deutsch könnte man sagen von „Gerufe“. Die Bedeutung von geroufde, geroufte ist nach Kluge ein „rechtlich relevantes Geschrei“, das über eine Untat erhoben wird, und dann zum „Gerede“ absinkt (Kluge 1995: 317).
Was das Gerücht aber mit dem Geruch zu tun hat, ist, dass man beide nicht so schnell wieder loswird. Wenn Adorno (1951: 200) also schreibt, dass der Antisemitismus das „Gerücht über die Juden“ sei, mag er damit zum einen daran gedacht haben, dass es sich um das laute Geschrei über vermeintliche Untaten von Juden handelt, das sich einer genaueren Prüfung entzieht, weil sich das Gerücht ja gerade dadurch bestimmt, dass es Ausweichen und Umwege ermöglicht. Die von Kluge angegebene Dynamik hat sich dabei verkehrt: Manche Gerüchte sind justiziabel, also rechtlich relevant, und gerade das kann Menschen dazu bewegen, erst recht an sie zu glauben. Wenn es verboten ist, dann wird das seinen Grund haben. Der Antisemitismus ist nicht nur der Verbreitungsform nach, sondern auch inhaltlich als Gerücht zu fassen – oder eben nicht zu fassen, weil er so wandelbar ist und sich gerade deswegen erhalten kann. Aber damit kommt man auch schon wieder in die Nähe des Geruchs: Gleich dem Geruch ist das Gerücht nicht greifbar und wabernd, nicht aufzuhalten und nur ungefähr zu lokalisieren. Ein Gerücht ist nicht widerlegbar, es kann aber wahrgemacht werden. Der Nationalsozialismus habe, so Horkheimer und Adorno, die Behauptung, die Juden seien die „Gegenrasse“, durch seine Praxis wahrgemacht (1987 [1947]). Die Gerüchtförmigkeit des Antisemitismus führt auch dazu, dass er immer wiederkehren kann – so seine psychischen und gesellschaftlichen Ursachen fortbestehen: in verwandelter Form am gleichen Ort oder an anderem Ort in ähnlicher Form.
Nach Horkheimer und Adorno gilt sie als die „seelische Energie“, die der „politische Antisemitismus“ einspannt, die „rationalisierte Idiosynkrasie“ (Horkheimer/Adorno (1987 [1947]: 213). Mit „rationalisierter Idiosynkrasie“ ist gemeint, dass eine unüberwindliche, bewusst nicht zu erklärende Abneigung (die, wie gleich zu sehen sein wird, auf eine große Anziehung zurückzuführen ist) rationalisiert wird und daher realitätsgerecht wird. Das heißt, es wird ein Grund dafür gefunden, der etwas sonst Anstößiges passabel macht. So hassen Antisemiten Juden selten, weil sie diese schlicht nicht leiden bzw. nicht riechen können, sondern zum Beispiel aus Notwehr gegen die vermeintlich drohende bzw. heimlich schon vollzogene Weltherrschaft. Rationalisierungen sind austauschbar, sie müssen lediglich passen, also zumindest in größeren Gruppen, dort wo man sich bewegt, als akzeptabel gelten, und innerlich müssen sie auch passen, also vom Ich als unanstößig durchgelassen werden: „Alle die Vorwände, in denen Führer und Gefolgschaft sich verstehen, taugen dazu, dass man ohne offenkundige Verletzung des Realitätsprinzips, gleichsam in Ehren, der mimetischen Verlockung nachgeben kann.“ (Ebd.: 213)
Horkheimer und Adorno verdeutlichen diesen Gedanken am Riechen:
Von allen Sinnen zeugt der Akt des Riechens, das angezogen wird, ohne zu vergegenständlichen, am sinnlichsten von dem Drang, an andere sich zu verlieren und gleich zu werden. Darum ist Geruch, als Wahrnehmung wie als Wahrgenommenes – beide werden eins im Vollzug – mehr Ausdruck als andere Sinne. Im Sehen bleibt man, wer man ist, im Riechen geht man auf. (Ebd.: 214)
Nun war Freud davon ausgegangen, dass sich die Menschheit im Laufe der Zivilisation ihre Lust am Niederen erst mühsam abgewöhnen musste – etwas von dem wird in jeder Kindheit wiederholt. Wenn Sie mal gesehen haben, wie ein Kind seine Windel untersucht bzw. dem Toiletteninhalt nachforscht, wissen Sie, was ich meine. Diesen Gedanken nehmen Horkheimer und Adorno auf. Sie gehen in der Dialektik der Aufklärung, ihrer kritischen Geschichte der Zivilisation, der Zurichtung der äußeren wie der inneren Natur, davon aus, dass sich der Mensch die unreglementierte Lust am Schnüffeln mühsam abgewöhnen muss. Der Faschismus, so ihre These, setzt diese Gelüste frei, aber in Form von Herrschaft und projektiv in der Verfolgung anderer:1
Wer Gerüche wittert, um sie zu tilgen, ‚schlechte Gerüche, darf das Schnuppern nach Herzenslust nachahmen, das am Geruch seine unrationalisierte Freude hat. Indem der Zivilisierte die versagte Regung durch seine unbedingte Identifikation mit der versagenden Instanz desinfiziert, wird sie durchgelassen. Wenn sie die Schwelle passiert, stellt Lachen sich ein. Das ist das Schema der antisemitischen Reaktionsweise. Um den Augenblick der autoritären Freigabe des Verbotenen zu zelebrieren, versammeln sich die Antisemiten, er allein macht sie zum Kollektiv, er konstituiert die Gemeinschaft der Artgenossen. (Ebd.: 214)
Warum Horkheimer recht hatte
In „Die Juden und Europa“ stellte Max Horkheimer fest, dass es zur Erklärung des modernen Antisemitismus des „Rückgangs auf die Tendenzen des Kapitals“ (Horkheimer 1987 [1939]: 308) bedürfe. „Der bürgerliche Antisemitismus“, so Horkheimer und Adorno dann in der Dialektik der Aufklärung, „hat einen spezifischen ökonomischen Grund: die Verkleidung der Herrschaft in Produktion“ (Horkheimer/Adorno 1987 [1947]: 202).
Die spezifische Brutalität und Dynamik, also die Form des modernen „eliminatorischen Antisemitismus“ (Goldhagen 1996) liegt für Horkheimer und Adorno in der kapitalistischen Gesellschaft begründet, die wegen der abstrakten Form der Vergesellschaftung zur Personalisierung treibt, dazu, Verantwortliche für die ganze undurchschaubare Misere zu finden.
Horkheimer und Adorno haben sich angesichts von Faschismus und Nationalsozialismus nicht von der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie in Gänze abgewandt, wohl aber vom Marxschen Geschichtsoptimismus, seiner positiven Geschichtsphilosophie und von deren teleologischen Gehalt: Für Marx war auf die Arbeiterklasse noch Verlass, die Antwort auf die Zumutungen des Kapitalismus konnte nur die Bildung des revolutionären Subjekts sein, welches dann die Revolution macht. Dass dem nicht so ist, hat der Nationalsozialismus deutlich gezeigt. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrung wendete Adorno den Marxschen Geschichtsoptimismus negativ und formulierte in der Negativen Dialektik (1966: 356) einen neuen kategorischer Imperativ: Alles Denken und Handeln so auszurichten, dass Auschwitz sich nicht wiederholen könne.
Detlev Claussen analysiert den Antisemitismus als zentralen Bestandteil einer Alltagsreligion. Dies nennt er „Psychoanalyse gesellschaftlicher Erkenntnisformen“ (Claussen 1992: 163). In der allgemein üblichen Wahrnehmungsweise der Warengesellschaft würden „Personen an die Stelle von sachlich vermittelten Verhältnissen zwischen Personen [gesetzt]. Diese verzerrte Wahrnehmung gesellschaftlicher Realität wird in der Alltagsreligion noch einmal verzerrt.“ (Ebd.) Verantwortlich gemacht werden so nicht Strukturen, die Maximen kapitalistischen Wirtschaftens, Profitmaximierung um jeden Preis, nach denen man handeln muss, wenn man Erfolg haben möchte, sondern Einzelne oder Gruppen, die in heutiger Diktion zum Beispiel als Heuschrecken oder gierige Spekulanten bezeichnet werden.
Warum es meist Juden sind, die mit Strukturen identifiziert werden, hat eine lange Geschichte, auf die ich hier nicht genauer eingehen kann. Horkheimer und Adorno haben als wichtigstes Motiv die Identifizierung der Juden mit der Zirkulationssphäre genannt. „Die Verantwortlichkeit der Zirkulationssphäre für die Ausbeutung ist gesellschaftlich notwendiger Schein.“ (Horkheimer/Adorno 1987 [1947]: 204) Zum Beispiel wird die Zirkulationssphäre, dort wo die Waren verkauft, also getauscht werden, als der Ort verkannt, an dem die Ausbeutung stattfindet. Erst in der Zirkulation wird „die raffende Natur des Wirtschaftssystems überhaupt“ (ebd.: 203) erfahrbar, nämlich im Verhältnis des Lohns, des „kulturellen Minimums“, zu den Preisen (ebd.). Oder in anderen Worten: Erst an der Differenz, was man sich leisten könnte und was man sich leisten kann, an der Differenz von dem, was man an Geld zur Verfügung hat und was an Luxus möglich wäre, der ungeheuren Warensammlung also, wird erfahrbar, dass etwas nicht mit rechten Dingen zugeht: „Die Verantwortlichkeit der Zirkulationssphäre für die Ausbeutung ist gesellschaftlich notwendiger Schein“ (ebd.: 204). Dies ist ein Problem, das im Begriff des Geldes liegt: Es handelt sich um ein allgemeines Äquivalent, das gegen alles zu tauschen ist, es liegt aber – zumindest für die überwältigende Mehrheit der Menschen – stets nur in beschränkter Menge vor. Jüdische Menschen wiederum waren zumindest in Europa durch das Verbot, ein Handwerk auszuüben, „lange genug in sie [die Zirkulationssphäre] eingesperrt“ (ebd., Anm. v. Ch. K.), sodass sie mit dieser identifiziert werden konnten.
Horkheimer und Adorno bleiben nicht bei der Identifikation der Juden mit der Zirkulationssphäre stehen. Eine Wurzel des Antisemitismus – die nach wie vor aktuell ist – sei, dass das Versprechen der Menschenrechte von „Glück ohne Macht“ nicht geglaubt werde. Dieses Versprechen heißt erstmal nichts anderes, als dass in einer Gesellschaft von formal Gleichen jeder glücklich sein könne und dies kein ständisches Privileg ist. Weil es Lüge bleibe, weil erfahrbar sei, dass es nicht stimme, errege es Wut, man fühle sich verhöhnt: „Noch als Möglichkeit, als Idee müssen sie den Gedanken an jenes Glück immer aufs Neue verdrängen, sie verleugnen ihn umso wilder, je mehr er an der Zeit ist.“ (Ebd.: 201)
Hier wird die psychoanalytische Herkunft dieses Gedankenganges deutlich: Je offensichtlicher es wird, dass das gute Leben für alle längst möglich wäre, dass Not und Mangel irrational sind, desto aufwendiger gerät es, dies zu verleugnen und eine Welt zu ertragen, in der dieses Versprechen offensichtlich nicht eingelöst wird. Und genau das ist die Dynamik von Abwehr: Diese wird immer rigider, je weniger dem Nachdrängenden entgegengesetzt werden kann. Die „Exponenten der Zirkulation“ – „der Bankier“ und „der Intellektuelle“, Geld und Geist, die, die nicht schaffen und die, die die „überflüssigen Kram“ machen; die, die ortlos sind – werden psychoanalytisch-geschichtsphilosophisch erklärt: Sie sind das „verleugnete Wunschbild der durch Herrschaft Verstümmelten, dessen die Herrschaft sich zu ihrer eigenen Verewigung bedient“ (ebd.: 202). Was Horkheimer und Adorno hier ansprechen, wird in psychoanalytischen Begriffen Projektion genannt: Ein eigener Wunsch, der aber nicht als eigener ertragen werden kann, vielleicht, weil man ihn für unrealistisch hält und sich dafür schämt, wird dort, wo etwas an diesen Wunsch erinnern könnte, also bei denjenigen, die für mächtig gehalten werden, bekämpft. Hier hat man es also mit einer Spaltung im Sinne der Psychoanalyse zu tun: An „Geld und Geist“ – in dieser Reinheit schon Produkt der Spaltung – wird als dem Anderen, der eigenen Existenz entgegengesetzten, das bekämpft, was man sich selbst verkneifen muss. Das Bekämpfte zeichnet sich dadurch aus, dass es im Gegensatz zu anderen Dingen, die als unterschiedlich erfahren, aber nicht auch auf diese verstümmelte Weise gewünscht werden, nicht in Ruhe gelassen werden kann. Zerstört werden soll das, was daran erinnert, was auch sein könnte. Es handelt sich um die „Zerstörungslust der Zivilisierten [...], die den schmerzlichen Prozeß der Zivilisation nie ganz vollziehen konnten“ (ebd.: 201f.).
Freud hat dies genau gesehen: Die meisten Menschen waren seiner Ansicht nach nicht „wirklich kulturelle Menschen“, sondern „Kulturheuchler“ (Freud 1987 [1915]: 336). Die Zahl der „kulturell veränderten Menschen“ werde stark überschätzt: „Die Kulturgesellschaft, die die gute Handlung fordert und sich um die Triebbegründung derselben nicht kümmert, hat also eine große Zahl von Menschen zum Kulturgehorsam gewonnen, die dabei nicht ihrer Natur folgen.“ (Ebd.: 335). Ausführlich heißt es: „Wer so genötigt wird, dauernd im Sinne von Vorschriften zu reagieren, die nicht der Ausdruck seiner Triebneigungen sind, der lebt, psychologisch verstanden, über seine Mittel ‚und darf objektiv als Heuchler bezeichnet werden, gleichgültig ob ihm diese Differenz klar bewußt worden ist oder nichtʻ.“ (Ebd.: 336)
Psychoanalyse des Antisemitismus II: Pathische Projektion
Das „Pathische“ – also das Erkrankte – am Antisemitismus, so Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung, sei nicht „das projektive Verhalten als solches“, sondern der „Ausfall der Reflexion“ darin (Horkheimer/Adorno 1987 [1947]: 219). „In gewissem Sinn“, so heißt es kurz vorher, sei „alles Wahrnehmen Projizieren“ (ebd.: 217). Zunächst ist zu klären, was mit Projektion gemeint ist. Allgemein gefasst wird unter Projektion ein psychischer Prozess verstanden, der dazu dient, bei sich selbst Unerträgliches dem Anderen zuzuschreiben und so loszuwerden: „Unerwünschte eigene Erlebnisse werden unbewusst einem anderen zugeschrieben, um das Selbstgefühl zu stabilisieren. Dabei wird die Wahrnehmung von anderen verzerrt“ (Ermann 2020: 49). Dabei – und das ist entscheidend, denn hier steht nicht ohne Grund unbewusst – ist der Betreffende, also derjenige, der projiziert, felsenfest davon überzeugt, dass der andere auch genau so ist, wie er wahrgenommen wird. Das geschieht nicht ohne Grund: Die Projektion dient der Vermeidung von unerträglichen Gefühlen, zum Beispiel Angst, und der Aufrechterhaltung eines mit dem eigenen Selbstverständnis übereinstimmenden Selbstbildes. So ist man beispielsweise nicht selbst gierig, neidisch und herrschsüchtig, sondern die anderen sind dies – die Juden zum Beispiel. Wenn nicht nur in bestimmten konflikthaften Situationen projiziert wird, sondern sehr oft, kann sich die Wahrnehmung im Extrem soweit verzerren, dass sie sich zu einer von der äußeren Realität weit entfernten Wahrnehmung, zum Wahn, schließen kann.
Jean Laplanche und Jean-Bertrand Pontalis (1973: 400) sprechen im Vokabular der Psychoanalyse von einer Abwehr „sehr archaischen Ursprungs“, die sie besonders bei der Paranoia am Werk sehen, aber auch beim Aberglauben. Projektion sei eine „Operation, durch die das Subjekt Qualitäten, Gefühle, Wünsche, sogar ‚Objekteʻ, die es verkennt oder in sich ablehnt, aus sich ausschließt und in dem Anderen, Person oder Sache, lokalisiert“ (ebd.).
Projiziert wird, so lässt sich zusammenfassend sagen, was als eigenes Gefühl nicht akzeptabel, nicht auszuhalten ist und daher unbewusst bleiben muss. Es wird abgespalten und beim anderen gefunden – und nicht selten auch dort bekämpft. Dies lässt sich gut am Beispiel von Schuldgefühlen erklären: Jemand, der ständig damit beschäftigt ist, Menschen um sich herum Vorwürfe zu machen, wie schlecht sie sich verhalten würden, projiziert vielleicht eigene unbewusste Schuldgefühle, das Gefühl, dass er sich schlecht verhalten habe, auf die anderen, denen er dann die befürchteten Vorwürfe machen kann. Projektion ist nicht nur im subjektkonstitutiven oder erkenntnistheoretischen Sinne, wie es Horkheimer und Adorno beschreiben, ein Teil der menschlichen Auseinandersetzung mit der Welt, sondern gehört als Moment auch zum alltäglichen Umgang miteinander: „Der zunächst unumgängliche projektive Anteil an der Fremdwahrnehmung – vor allem zu Beginn einer Beziehung oder bei noch nicht allzu großer Vertrautheit – weicht normalerweise einer schrittweisen Zurücknahme der ‚Projektionenʻ, die auch als ‚Vorausurteile‘ bezeichnet werden können; eine Persistenz von Vorausurteilen führt hingegen zu deren Verfestigung und damit zu Vorurteilen, die als Aufhänger für Projektionen herhalten müssen.“ (Spektrum.de 2000)
Daraus kann schnell eine sich verstärkende Bewegung werden, ein Teufelskreis: Je mehr „Vorausurteile“ man fällt, desto mehr verstellen diese die Möglichkeit, überhaupt Erfahrungen machen zu können, etwas Neues, vielleicht Überraschendes oder Irritierendes oder Infragestellendes oder Verunsicherndes oder Enttäuschendes am anderen wahrnehmen zu können. Oder anders formuliert: Ein langanhaltender Gebrauch von Projektion schwächt die Realitätsprüfung, also den Prozess, in dem man feststellt, ob die eigene Wahrnehmung tatsächlich an die (mit anderen Menschen geteilte) Realität heranreicht oder durch Wünsche oder Ängste entstellt ist. Wenn man sich dann noch vorstellt, wie das eben Beschriebene in einer Gruppe Gleichgesinnter wirkt, hat man die „Grenzen der Aufklärung“ (Claussen 1992) vor Augen.
Horkheimer und Adorno (1987 [1947]: 227) schreiben, dass „paranoide Bewusstseinsformen“ zur „Bildung von Bünden, Fronden und Rackets“ strebten. „Die Mitglieder haben Angst ihren Wahn alleine zu glauben.“ Wer mit seinem Wahn nicht allein ist, ist auch näher an der Realität, zumindest an der in der Gruppe. Und das kann dann dem Wahn recht zuträglich sein, wenn man nämlich dann glaubt, auserwählt an einer Art Geheimwissen teilzuhaben. An dieser Stelle könnte man über die Rolle des Internets diskutieren: Heute braucht man nur online zu gehen, um sofort andere zu finden, die auch glauben, dass beispielsweise die Juden die Außenpolitik Amerikas beherrschen oder dass Israels Palästinenserpolitik als „Holocaust“ zu bezeichnen ist und Israel überhaupt verantwortlich ist für die gegenwärtige Krise im Nahen Osten. Neu am Internet ist nicht, dass man immer jemanden findet, der ähnlich verrückt ist wie man selbst, sondern dass es so einfach ist. Neu ist auch nicht, dass „das Gerücht über die Juden“ eben genau wie ein Gerücht funktioniert und daher auch widerlegungsresistent ist, sondern dass die Umschlagszeit von Gerüchten viel kürzer ist und die Verbreitung sehr viel schneller geht.
Schluss
Was wäre das Gegenteil zur pathischen Projektion? In der Dialektik der Aufklärung geben Horkheimer und Adorno (1987 [1947]: 219) folgende Perspektive, sie sprechen hier über das Ich – bekanntlich Vermittler zwischen der Innen- und der Außenwelt.
Auch als selbständig objektiviertes freilich ist es nur, was ihm die Objektwelt ist. In nichts anderem als in der Zartheit und dem Reichtum der äußeren Wahrnehmungswelt besteht die innere Tiefe des Subjekts. Wenn die Verschränkung unterbrochen wird, erstarrt das Ich. Geht es, positivistisch, im Registrieren von Gegebenem auf, ohne selbst zu geben, so schrumpft es zum Punkt, und wenn es, idealistisch, die Welt aus dem grundlosen Ursprung seiner selbst entwirft, erschöpft es sich in sturer Wiederholung. Beide Male gibt es den Geist auf. Nur in der Vermittlung, in der das nichtige Sinnesdatum den Gedanken zur ganzen Produktivität bringt, deren er fähig ist, und andererseits der Gedanke vorbehaltlos dem übermächtigen Eindruck sich hingibt, wird die kranke Einsamkeit überwunden, in der die Natur befangen ist. Nicht in der vom Gedanken unangekränkelten Gewissheit, nicht in der vorbegrifflichen Einheit von Wahrnehmung und Gegenstand, sondern in ihrem reflektierten Gegensatz zeigt die Möglichkeit von Versöhnung sich an. Die Unterscheidung geschieht im Subjekt, das die Außenwelt im eigenen Bewusstsein hat und doch als anderes erkennt. ‚Daher vollzieht sich jenes Reflektieren, das Leben der Vernunft, als bewusste Projektion’.
Dieser Prozess ist das Gegenteil der pathischen Projektion und hat erhebliche Konsequenzen für den Wahrheitsbegriff, weil so in jeder Erkenntnis immer schon notwendigerweise Subjektives enthalten ist. Das bedeutet aber auch, dass man es mit der Erkenntnis immer mit einer Lücke zu tun bekommt: „In jenem Abgrund der Ungewissheit, den jeder objektivierende Akt überbrücken muss, nistet sich die Paranoia ein. Weil es kein absolut zwingendes Argument gegen materialfalsche Urteile gibt, lässt die verzerrte Wahrnehmung, in der sie geistern, sich nicht heilen.“ (Ebd.: 223) Womit ich zum Thema meines Beitrags zurückkomme: Gerücht wie Verschwörungsglauben versprechen, diesen Abgrund zuzuschütten, sie ersparen die Ungewissheit, die Reflexion der eigenen unerwünschten Affekte und die der Welt. Das macht sie so attraktiv wie gefährlich und häufig so aufklärungsresistent.
1 Wenn ich einen Vortrag zum Thema „Das Gerücht über die Juden halte“, kommt immer wieder die Rückfrage, ob das (noch) stimme, dass Juden mit Schnüffeln in Verbindung gebracht werden. Schon kurze Internetrecherchen, die jede*r selbst ausprobieren kann, ergeben: „Schnüffelnde Juden“ sind ein Topos in zeitgenössischer rechter Rockmusik und tauchen als Motiv auf vielen Verschwörungswebsites auf.
Literatur:
Adorno, Theodor W. (1966): Negative Dialektik. Suhrkamp Verlag: Frankfurt a. M.
Adorno, Theodor W. (1951): Minima moralia: Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Suhrkamp Verlag: Berlin und Frankfurt a. M.
Benz, Wolfgang (2007): Die Protokolle der Weisen von Zion: die Legende von der jüdischen Weltverschwörung. C.H. Beck: München.
Claussen, Detlev (1992): Die antisemitische Alltagsreligion Hinweise für eine psychoanalytisch aufgeklärte Gesellschaftskritik. In: Bohleber, Werner/Kafka, John S. [Hrsg.]. Antisemitismus. Aisthesis Verlag: Bielefeld, S. 163.
Eco, Umberto (1996): Im Wald der Fiktionen. Sechs Streifzüge durch die Literatur. Harvard-Vorlesungen (Norton lectures 1992–93). Hanser: München.
Ermann, Michael (2020): Psychotherapie und Psychosomatik. Kohlhammer: Stuttgart.
Freud, Sigmund (1987 [1905]): Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten.Gesammelte Werke, Band VI. Fischer Verlag: Frankfurt a. M.
Freud, Sigmund (1987 [1905]): Zeitgemäßes über Krieg und Tod. Gesammelte Werke, Band X. Fischer Verlag: Frankfurt a. M., S. 324–355.
Gestmann, Michael (2010)
: Jeden kann es treffen. Über die Psychologie des Gerüchts. Online: www.perspektive-mittelstand.de/Jeden-kann-es-treffen-Ueberdie-Psychologie-der-Geruechts/management-wissen/3427.html [20.08.2018].
Goldhagen, Daniel Jonah (1996): Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust. Siedler Verlag: Berlin.
Hagemeister, Michael (2017): Die „Protokolle der Weisen von Zion“ vor Gericht. Der Berner Prozess 1933–1937 und die „antisemitische Internationale“. Veröffentlichungen des Archivs für Zeitgeschichte der ETH Zürich (Band 10). Chronos Verlag: Zürich.
Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W. (1987 [1947]): Die Dialektik der Aufklärung. In Horkheimer, Max: Gesammelte Schriften (Band 5). Fischer Verlag: Frankfurt a. M., S. 13–292.
Horkheimer, Max (1987 [1939]): Die Juden und Europa. In: Horkheimer, Max: Gesammelte Schriften (Band 4). Fischer Verlag: Frankfurt a. M., S. 308–331.
Kluge, Friedrich (1995): Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. De Gruyter: Berlin.
Laplanche, Jean/Pontalis, Jean-Bertrand (1973): Vokabular der Psychoanalyse. Suhrkamp: Frankfurt a. M.
Spektrum.de (2000): Lexikon der Psychologie: Projektion. Online: www.spektrum.de/lexikon/psychologie/projektion/11907 [21.10.2020].