Einleitung

Die weltweite Corona-Pandemie ist nicht nur eine humanitäre Katastrophe, sondern in ihrer Totalität und ihren Auswirkungen eine gesellschaftliche Krise ungeahnten Ausmaßes. Seit dem Frühjahr 2020 hält sie auch Deutschland und Thüringen im Griff, sie ist allgegenwärtig und hat unser aller Leben teils auf drastische Weise verändert. Die gewöhnungsbedürftigen Hygiene-Maßnahmen und die Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, in der Arbeitswelt, im Schul- und Kita-Betrieb und im Freizeitbereich, die Schließungen und Einbußen im Hotel- und Gaststättengewerbe, im Einzelhandel und im Kultursektor, Kurzarbeit, Jobverlust und gestiegene Armutsrisiken, Komplikationen durch Homeoffice, Homeschooling und veränderte Settings der Pflege und Betreuung von Angehörigen – die sozialen und psychischen Herausforderungen und Belastungen waren und sind erheblich, ebenso die volkswirtschaftlichen Schäden. Deutlich hat sich gezeigt, dass der akute Handlungsdruck, der auf demokratischer Politik lastet, in Krisenzeiten so stark ansteigt, dass die hastig herbeigeführten Entscheidungen sehr kontrovers sind, heftig debattiert werden und nicht nur auf Zustimmung, sondern auch auf scharfe Kritik, Zweifel, Ablehnung und Proteste stoßen.

Als wir im August 2020 mit unserem Call for Papers zur Einreichung von Beiträgen für den vorliegenden Band aufgerufen haben, hatte sich bereits abgezeichnet, dass antidemokratische und radikale Kräfte die Krisensituation ausnutzten und teilweise bedenkliche Geländegewinne verzeichnen konnten. In den sozialen Netzwerken breiteten sich Desinformationen und Verschwörungsideologien aus, rechtsextreme, antisemitische und rassistische Hass- und Hetzinhalte rund um Corona und völlig abwegige Behauptungen über den angeblich absichtlich von der Regierung bzw. „globalistischen Eliten“ herbeigeführten Ausnahmezustand grassierten – und sickerten offenbar auch in die Gehirne ein.

Eindrücklich zeigte sich dies vor allem bei jenen Gruppen, die sich unter der Eigenbezeichnung „Querdenken“ oder mit ähnlichen Namen im Internet formierten und dann mit ihren Protestaktivitäten Aufmerksamkeit erregten. Auch auf Thüringer Straßen und Plätzen fanden sich seit Frühjahr des letzten Jahres wöchentlich Menschen ein, die ihren Frust über das Tragen von Masken oder die Schul- und Geschäftsschließungen artikulierten, die Gefahr des Virus verharmlosten oder ihre ablehnende Haltung gegenüber Impfungen zum Ausdruck brachten. Bei den Kundgebungen wurden Redner:innen beklatscht, die zwar „Frieden und Freiheit“ als ihre Werte reklamierten, im gleichen Atemzug aber die Souveränität der Bundesrepublik anzweifelten, einen angeblichen „Schuldkult“ beenden wollten, sich mit den Opfern der nationalsozialistischen oder der kommunistischen Diktatur gleichsetzten, von einer „Plandemie“ sprachen und „finstere Mächte“ am Werk wähnten, gegen die „Widerstand“ zu leisten sei. Wiederholt kam es zu gewalttätigen Angriffen auf Polizeibeamt:innen, Journalist:innen und Gegendemonstrant:innen.

Für demokratiegefährdende Akteur:innen, extreme und populistische Rechte sowie menschenfeindliche Narrative und Verschwörungsideologien hat sich durch die Coronakrise und ihre Folgen ein Möglichkeitsfenster geöffnet. Antisemitismus und Rassismus, zum Beispiel gegen als asiatisch gelesene Menschen, sowie Wissenschafts- und Medienfeindlichkeit sind Probleme, die größte Brisanz besitzen. Der vorliegende Sammelband widmet sich diesen Aspekten und fragt: Wie nutz(t)­en welche antidemokratischen Akteur:innen die Coronakrise in Thüringen und Deutschland aus? Welche Folgen hat(te) die Krise auf die demokratische Kultur und den gesellschaftlichen Zusammenhalt? Welche Perspektiven ergeben sich daraus für Akteur:innen im Feld des zivilgesellschaftlichen Engagements und für Verantwortungsträger:innen in Politik und Behörden?

Der erste Teil des Sammelbands widmet sich Verschwörungsideologien, Desinformationen und toxischen Narrativen in der Corona-Krise. Wolfgang Frindte blickt in seinem Beitrag überblicksartig auf Verschwörungstheorien, -hypothesen und -mythen, stellt theoretische Zugänge vor und präsentiert empirische Befunde. Carolin-Theresa Ziemer, Fahima Farkhari & Tobias Rothmund legen die Ergebnisse ihrer wissenschaftlichen Studie über Einschätzungen zur COVID-19-Pandemie in der deutschen Bevölkerung zum Zeitpunkt des Abklingens der ersten Pandemiewelle vor. Die Forschenden unterscheiden vier Gruppen und charakterisieren diese bezüglich ihrer politischen Einstellungen, kognitiven Verarbeitungsstile und ihres Mediennutzungsverhaltens. Wie sich politische Verschwörungstheorien auf Gedanken und Verhaltensweisen auswirken, die für ein gesellschaftliches Miteinander in der Pandemie relevant sind, hat Lotte Pummerer untersucht. In ihrem Beitrag präsentiert sie die wichtigsten Ergebnisse – u. a., dass der Glaube und die Konfrontation mit einer politischen Verschwörungstheorie das Vertrauen in staatliche Institutionen und deren Maßnahmen senken. Gereon Bals zeigt in seinem Beitrag Parallelen zwischen rechtsradikalen und rechtsextremen Positionen zur Coronapandemie und zur Klimakrise auf und legt die inhaltlichen Verbindungen in den Erzählungen rechter Akteur:innen offen. Den demokratiepolitischen Herausforderungen im Umgang mit Verschwörungserzählungen, wissenschaftsfeindlicher Esoterik und rechtsoffenen Corona-Protesten wenden sich Friedemann Bringt & Heiko Klare zu.

Der zweite Teil beschäftigt sich mit Rechtsextremismus, Rechtspopulismus und menschenfeindlicher Gewalt während der Corona-Krise. Christoph Richter & Axel Salheiser bieten einen Überblick zu den Positionen und Strategien der radikalen und extremen Rechten in Thüringen, Deutschland und Europa während der Corona-Pandemie seit dem Frühjahr 2020. Sie gehen dabei auf das Agieren von rechtspopulistischen Parteien, auf die Mobilisierung zu den Protesten und deren Radikalisierung ein. MOBIT, die Mobile Beratung in Thüringen, fasst die Aktivitäten der extremen Rechten in Thüringen zusammen, betrachtet dabei ihre Rolle im Kontext der Hygienedemos und blickt auf die Herausforderungen, die die Pandemie für die demokratische Zivilgesellschaft mit sich brachte. Franziska Schmidtke & Lukas Benedikt Hoffmann beschäftigen sich mit dem Ortsteil Herrenberg in Erfurt als Beispiel für neonazistische Geländegewinne und zeichnen zivilgesellschaftliche und staatliche Interventionsformen nach, die zur Schließung der rechtsextremen Agitationsräume führten. Theresa Lauß & Franziska Schestak-Haase berichten aus Sicht der fachspezifischen Opferberatung von den Herausforderungen und Hindernissen für Betroffene von rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt, die durch pandemiebedingte Maßnahmen verursacht wurden. Zu Wort kommt dabei auch Sinbi, eine Betroffene von antiasiatischem Rassismus, die spezifische Anfeindungen im Zusammenhang mit COVID-19 schildert. Claudia Tutino & Valentin Schillig untersuchen die parlamentarischen Redebeiträge des AfD-Landesvorsitzenden Björn Höcke und kommen zu dem Schluss, dass Höcke rechtsextreme Hassrede im Thüringer Landtag betreibt, demokratische Grundwerte missachtet und damit eine Ideologie der Ungleichwertigkeit untermauert.

Der dritte Teil setzt sich mit der politischen Kultur und demokratischen Zivilgesellschaft auseinander.  Marion Reiser, Anne Küppers, Jörg Hebenstreit, Lars Vogel & Axel Salheiser präsentieren die Ergebnisse des THÜRINGEN-MONITORs 2020, der im Zeichen der COVID-19-Pandemie stand. Sie belegen deutliche Verschiebungen in den politischen Einstellungen der Thüringer:innen zu Demokratie, Partizipation, Rechtsextremismus und Diversität. Mit dem Zusammenhang von Demokratie und Zivilgesellschaft in der COVID-19-Pandemie beschäftigen sich Siri Hummel, Malte Schrader & Rupert Graf Strachwitz. Dabei führen sie aus, dass der traditionell als stark angenommene Zusammenhang zwischen Demokratie und Zivilgesellschaft fragiler ist als angenommen. Geflüchtete waren und sind von der Coronakrise besonders betroffen: Martin Arnold vom Flüchtlingsrat Thüringen schildert im Interview mit Anne Tahirovic ihre besondere Situation in Thüringen während der ersten und zweiten Welle der Pandemie im Jahr 2020.  Franziska Hartung, Marie-Theres Piening & Janine Dieckmann betrachten, anknüpfend an die Erfahrungen aus der HIV-/Aids-Krise, die gesellschaftspolitischen Dimensionen von Viruspandemien und diskutieren solidarische und diskriminierungssensible Weg aus der Pandemie. Nicole Harth beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit den Auswirkungen der Coronapandemie auf Menschen unterschiedlichen Geschlechts. Mit ihrer Querschnittsstudie aus dem Jahr 2020 und unter Bezugnahme sozialpsychologischer Forschung belegt sie, dass insbesondere Eltern in der Krise verstärkt mit klassischen Erwartungen an ihre Geschlechterrolle konfrontiert sind. Maik Fielitz, Jana Hitziger & Karolin Schwarz diskutieren ihre Forschungsergebnisse aus dem Jahr 2020 zur Legitimation und Wirkung des Sperrens von Accounts, Gruppen und Individuen, die gegen die selbst gesetzten Standards von social-media-Plattformen verstoßen haben. Sie legen dar, wie sich dieses Deplatforming auf das Medienverhalten und die Mobilisierungsfähigkeit der extremen Rechten auswirkt.

Erstmalig enthält der Band abschließend den Abschnitt Aktuelles aus der Forschung, in dem wir Kurzzusammenfassungen ausgewählter Publikationen internationaler Autor:innen zum Schwerpunktthema bündeln. Der Fokus liegt auf wissenschaftlichen Studien aus den Forschungsfeldern, in denen das IDZ tätig ist: Rechtsextremismus- und -populismus, Demokratiegefährdung und Herausforderungen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, Antisemitismus und Rassismus, Diskriminierung, Diversität und zivilgesellschaftliches Engagement. Auch neuere Entwicklungen in der digitalen Sphäre, wie die Verbreitung von Hassrede und Verschwörungsideologien in den sozialen Medien, werden dabei thematisiert. Aufgrund der Vielzahl der Publikationen, die mittlerweile zur Corona-Pandemie erschienen sind und unablässig erscheinen, kann unsere Auswahl keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Die Kurzzusammenfassungen bieten jedoch einen facettenreichen Überblick und verstehen sich als Empfehlungen zum Weiterlesen.