Islamischer Antisemitismus unterscheidet sich von anderen Formen des Antisemitismus. Er speist sich aus spezifischen Quellen und zeigt spezifische Äußerungsformen. Es besteht hierzulande jedoch eine starke Zurückhaltung, diese Form des Antisemitismus klar zu benennen. Diese Scheu hat teilweise mit der Sorge zu tun, Muslim*innen, die in Deutschland und Europa mit Muslimfeindlichkeit und Rassismus konfrontiert sind, nicht pauschal stigmatisieren zu wollen. Um eine solche pauschale Verurteilung zu vermeiden, wird häufig eine klare Linie zwischen „Islam“ und „Islamismus“ gezogen und das Problem des Antisemitismus nur im radikalen Rand des islamischen Gesellschaftsspektrums verortet. Zahlreiche empirische Studien der letzten Jahre haben jedoch gezeigt: Der Antisemitismus ist in muslimischen Communitys viel weiter verbreitet und das Problem reicht weit über das islamistische Spektrum hinaus. Dennoch ist es sehr wichtig zu differenzieren: Der Begriff „islamischer Antisemitismus“ bezeichnet eine antisemitische Ideologie innerhalb einer religiös geprägten Gesellschaft. Er zielt weder pauschal auf alle Muslim*innen noch generell auf den Islam, dessen Schriften auch projüdische Passagen enthalten.
Eine griffige Definition des islamischen Antisemitismus hat Matthias Küntzel (2019) vorgelegt. Er unterscheidet zwei wesentliche Dimensionen: erstens eine Dimension der religiösen Judenfeindschaft, die sich aus dem Frühislam speist – die Judenfiguren1 im Frühislam waren schwach und unterlegen und Muslime sahen auf sie herab. Die zweite Dimension bilden antisemitische Verschwörungslegenden europäischen Ursprungs, die um die Vorstellung von „jüdischer Macht“ kreisen. Diese beiden Dimensionen widersprechen einander: Die schwachen Judenfiguren der islamischen Überlieferungen passen nicht zu den Fantasien einer machtvollen jüdischen Verschwörung neuerer Zeit. Der Antisemitismus ist jedoch eine Ideologie, die mühelos gegensätzliche Vorstellungen zu einem festen Feindbild und Weltdeutungssystem integrieren kann (Rensmann 2004: 138) und so verschmelzen die widersprüchlichen Dimensionen im islamischen Antisemitismus zu einer Einheit (Küntzel 2019: 34).
In diesem Artikel sollen zunächst die Dimensionen des islamischen Antisemitismus vorgestellt werden. Im Anschluss wird die aktuelle Verbreitung des islamischen Antisemitismus betrachtet und abschließend erörtert, was gegen den islamischen Antisemitismus getan werden muss.
Die religiöse Dimension: das Judenbild im Frühislam
Der Islam ist in einer tiefen Auseinandersetzung mit dem Judentum entstanden, die das islamische Selbstverständnis stark prägte. Beide Religionen entstanden im selben Sprach- und Kulturraum. Der Koran nahm verschiedene frühere prophetische Traditionen in sich auf, darunter jüdische und christliche. David Nirenberg (2015) hat die Judenfeindschaft seit der Antike neu untersucht. Er verweist auf das ambivalente Verhältnis des Islams zu den jüdischen Überlieferungen, aus denen er sich speist: Einerseits akzeptiert und ehrt der Islam die jüdische Thora wie die christlichen Evangelien als authentische göttliche Offenbarungen. Andererseits gelten diese Überlieferungen als unzuverlässig. Der islamischen Vorstellung zufolge enthielt der jüdische Bund mit Gott Prophezeiungen über das spätere Auftreten von Mohammed. Den Juden und den Christen wird vorgeworfen, sie hätten ihre eigenen Schriften verfälscht, um die Hinweise auf den Propheten Mohammed zu unterdrücken. Diese Vorwürfe werden in der islamischen Theologie „tahrif“ (Fälschung) genannt.
Nirenberg beschreibt die besondere Funktion, die das Judentum im Koran einnimmt. Grob gesagt unterscheidet der Koran drei Gruppen: Gläubige, Ungläubige und Heuchler. Der Umgang mit den Ungläubigen ist klar definiert: Sie sind die Gegner, ihnen drohen harte Strafen. Komplizierter ist die Auseinandersetzung mit den „Lügnern“ und „Heuchlern“, also mit denjenigen, die ihren Glauben nur vortäuschen, ihr Herz gegen die Botschaft von Mohammed aber verschließen. Das Konzept der „Heuchelei“ besitzt eine große Bedeutung im islamischen Denken und ist im Koran eng mit dem Judentum verbunden. Juden kommt im Koran also eine spezifische Funktion zu: Sie stellen für die Gläubigen eine besondere Gefahr dar, weil sie den Propheten infrage stellen und Gläubige zum Unglauben verführen können. Nicht jeder Jude ist ein Feind Gottes. Die jüdischen Propheten Abraham und Mose sind Vorbilder für Frömmigkeit. Juden stehen aber auch für alle möglichen Formen eines schlechten Lebenswandels: für Neid, Feindschaft, Habgier, Feigheit, Materialismus, den Vorzug des Diesseits vor dem Leben nach dem Tod. In diesem Punkt ähnelt der Koran nicht nur den Evangelien, sondern ist auch direkt von ihnen beeinflusst (Nirenberg 2015: 154ff., 173). In ihren Ursprüngen sind christliche und islamische Judenfeindschaft also durchaus miteinander verwandt.
Küntzel benennt jedoch einen entscheidenden Unterschied zwischen der christlichen und islamischen Auseinandersetzung mit dem Judentum: Während im Christentum Juden für die Leidensgeschichte Jesu verantwortlich gemacht wurden, zelebrierte der muslimische Prophet seine Überlegenheit über die Juden. Im Koran wird erzählt, wie Mohammed zwischen 624 und 628 die jüdischen Stämme aus der Stadt Medina vertrieb; an einem Tag ließ er 600 bis 900 jüdische Männer enthaupten. In der Folge wurden Juden zwar als Gegner gesehen, aber als schwach, als „Objekt der Lächerlichkeit, nicht der Furcht“ (Lewis 1987: 152; Küntzel 2019: 26ff.).
Nirenberg macht auf einen zweiten spezifischen Punkt des islamischen Selbstverständnisses gegenüber den Juden aufmerksam. Die Juden wurden nicht vertrieben oder getötet, denn ihre Anwesenheit sollte die Herrschaft und Wahrheit des Islams beweisen. Dies drückt Sure 9, Vers 29 aus, wo es heißt, dass diejenigen, „die nicht der Religion der Wahrheit angehören“, also Juden (ebenso Christen), „erniedrigt den Tribut aus der Hand entrichten“ sollen. Diese Sure regelt, wie jüdische und christliche Gläubige in der muslimischen Gesellschaft weiterleben können, und zwar als „dhimmis“, also als „Schutzbefohlene“. Dieser Status schützte zwar vor Vertreibung und Mord, doch die Toleranz hatte eine Kehrseite: Die dhimmis lebten in einem Status der Erniedrigung und wurden von den Muslimen verachtet (Nirenberg 2015: 156). In der Folge war die arabisch-muslimische Welt zwar nicht in der gleichen Weise wie das christliche Europa von Schüben antijüdischer Gewalt geprägt. Dennoch ist die weit verbreitete Vorstellung eines jüdisch-arabischen „goldenen Zeitalters“ eine imaginäre Konstruktion.
Insbesondere nach dem Mittelalter wendete sich das Schicksal der Juden in der islamischen Welt zum Negativen. Auch nachdem der dhimmi-Status in der Mitte des 19. Jahrhunderts abgeschafft wurde, prägte der degradierende Blick die islamisch-jüdischen Beziehungen. Jüdinnen und Juden waren während des ganzen 19. Jahrhunderts alltäglicher und willkürlicher Gewalt ausgesetzt, wie Georges Bensoussan (2019) gezeigt hat. Anhand diplomatischer Quellen, Polizeiakten und Erzählungen von Zeitzeug*innen belegt er ein Klima der Angst und Unsicherheit im arabischen Raum. So war es alltäglich, dass arabische Kinder Jüdinnen und Juden mit Steinen bewarfen, wenn sie arabische Viertel durchquerten. Eindrücklich schildert Bensoussan eine ganze Reihe von Alltagsszenen aus Marokko, Algerien, Irak, Jemen, Ägypten oder Tunesien, in denen Jüdinnen und Juden grausamen Züchtigungen ohne den geringsten Grund ausgesetzt waren. Dieses „System der Gewalt“ erfüllte den Zweck, die Juden „daran zu erinnern, dass sie Herren unterstehen, die mit ihnen machen können, was sie wollen“, wie ein Lehrer es 1876 in Marokko beschrieb (Bensoussan 2019: 98, 43; dazu auch Fenton/Littman 2016).
Dies war der Status der Juden in der arabisch-islamischen Welt bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Mit dem Aufkommen des Nationalismus und der Rezeption europäischer antisemitischer Verschwörungstheorien entwickelte sich auf dieser Basis etwas Neues: der moderne islamische Antisemitismus.
Das Verschwörungsdenken: der Einfluss des europäischen Antisemitismus
Mit Beginn des 20. Jahrhunderts bis in die 1930er-Jahre wurden die wesentlichen Elemente der Verschwörungserzählungen entwickelt, die bis heute in der islamischen Welt verbreitet sind. In dieser Zeit wurde die „antisemitische Welterklärung in die soziokulturellen Kontexte der ägyptischen Gesellschaft“ integriert und dabei an spezifische Bedürfnisse angepasst (Gebert 2011: 12).
Die spezifisch islamische Variante des Verschwörungsdenkens kreist um die vermeintliche Gefährdung der eigenen Identität: Imaginiert wurde ein geistiger Krieg der Juden gegen den Islam, eine Unterhöhlung der spirituellen und moralischen Basis der muslimischen Gesellschaft. Dieser Prozess lässt sich gut am Kairoer Herausgeber Rashid Rida beschreiben, einem führenden Denker des Pan-Islam. Rida schrieb zwischen 1898 und 1935 Dutzende Berichte, Analysen und Koran-Exegesen über Juden und den Zionismus, die jüdische Nationalbewegung. Sein Blick auf Judentum und Zionismus wandelte sich in dieser Zeit von einer wohlwollenden Betrachtung zu einer antisemitischen Weltanschauung (Shavit 2015). Den Zionismus betrachtete Rida 1898 noch als ein humanistisches Unterfangen zur Rettung armer Juden aus Europa; den dortigen Antisemitismus kritisierte er scharf. In der Entwicklung Palästinas durch die Zionisten sah er zunächst ein Vorbild für die arabischen Gesellschaften. Doch vier Jahre später wurde ihm der politische Anspruch der zionistischen Bewegung bewusst. Die Juden, die er 1898 als ohnmächtig wahrgenommen hatte, imaginierte er nun als mächtige Nation, die für ihre Verfolgung selbst verantwortlich sei. Er beschrieb Juden nun als klüngelhaft und unterstellte ihnen, den Reichtum der Länder, in denen sie lebten, unter sich aufteilen zu wollen.
Entscheidend für die Herausbildung eines antisemitischen Weltbildes war Ridas Verarbeitung der Modernisierungsrevolution in der Türkei 1908. Aus seiner Sicht geriet die Türkei damit unter einen zionistisch-freimaurerischen Einfluss. Daniel Rickenbacher sieht diese Zeit als Ursprung der antijüdischen Verschwörungsmythen in der islamischen Welt an. Das Ressentiment gegen Juden verband sich mit dem gegen die Freimaurer, deren egalitärer, universalistischer und säkularer Geist mit der ungleichen Gesellschaft des Osmanischen Reiches kontrastierte. Theorien einer jüdisch-freimaurerischen Verschwörung fanden von nun an eine weite Verbreitung (Rickenbacher 2018: 159). Auch Rida nahm Juden zunehmend durch ein paranoisches Raster wahr: Er sah sie als treibende Kraft hinter der Französischen Revolution und unterstellte ihnen, große Gebiete im Nahen Osten erobern und die Araber spalten zu wollen (Shavit 2015: 28ff.). Rida glaubte an eine jüdisch-zionistische Weltverschwörung, wähnte einen existenziellen Kampf. Seine Texte beeinflussen bis heute den arabischen politischen Diskurs und prägten die wichtigsten islamistischen Denker – etwa Hassan al-Banna, den Gründer der Muslimbruderschaft, die sich zum wichtigsten Träger des islamischen Antisemitismus in der arabischen Welt entwickelte.
In den 1920er Jahren initiierte Amin el-Husseini eine Kampagne, die Elemente des islamischen Antisemitismus aufwies. Amin el-Husseini war als Mufti von Jerusalem auch Leiter des „Obersten Islamischen Rates“ und Vertreter der muslimischen arabischen Bevölkerung Palästinas bei der britischen Mandatsregierung. Er verbreitete die Behauptung, die Juden wollten die al-Aqsa-Moschee in Jerusalem zerstören. Bestrebungen von jüdischer Seite, das Grundstück vor der Klagemauer zu erwerben, wurden dabei als Versuche dargestellt, den gesamten Tempelberg zu übernehmen. Mithilfe der Kampagne um die al-Aqsa-Moschee wollte Amin el-Husseini den Konflikt um das Land internationalisieren und islamisieren. Der Oberste Muslimische Rat sandte dazu bis 1924 Delegationen in die Länder des Nahen Ostens und bis nach Indien, um die Öffentlichkeit für die vermeintliche Gefährdung der heiligen Stätten zu sensibilisieren. Damit sollte aus dem territorialen Konflikt in Palästina eine religiöse Angelegenheit aller Muslime gemacht werden (Rickenbacher 2018: 161; Webman 2019: 4). Die Krise um die Klagemauer spitzte sich 1929 zu. Der Mufti verbreitete gefälschte Fotos von einem Brandanschlag auf die Al-Aqsa-Moschee, es kam zu Straßenschlachten und zum Massaker in Hebron, bei dem 67 Jüdinnen und Juden getötet wurden. Der israelische Historiker Hillel Cohen nannte das Jahr 1929 in der Folge das „Jahr Null des jüdisch-arabischen Konflikts“ (Webman 2019: 7; Küntzel 2019: 41; Segev: 324). Der Mythos um die angeblichen jüdischen Pläne zur Übernahme und Zerstörung der heiligen muslimischen Stätten in Jerusalem überwölbte von nun an den Konflikt um Palästina und gehört bis heute zu den wichtigsten Elementen im islamischen Verschwörungsdenken.
Entscheidend für die Verankerung des islamischen Antisemitismus in den arabischen Gesellschaften war jedoch die antisemitische Propaganda aus Deutschland. Während des Nationalsozialismus wurde diese gezielt für ein islamisches Publikum konzipiert (Herf 2009; Küntzel 2019). Die nationalsozialistische Reichsführung entschied 1937, „die Judenfrage“ sei eines „der wichtigsten Probleme der deutschen Außenpolitik“. Jeglicher „Machtzuwachs des Judentums“ müsse gestoppt und das „Arabertum als Gegengewicht“ gestärkt werden (Küntzel 2019: 58f.) Mit Hilfe einer antisemitischen Mobilisierung wollte die nationalsozialistische Führung den ersten Teilungsplan für Palästina, den eine britische Kommission im Frühjahr 1937 empfohlen hatte, durchkreuzen und verhindern, dass auf palästinensischem Boden ein jüdischer Staat an der Seite eines arabischen Staates entstehen könnte. Sechs Jahre lang, von 1939 bis 1945, sendete Berlin vom Kurzwellensender Zeesen aus ein Programm in die arabischen Länder, dessen Inhalte zu großen Teilen aus antisemitischer Propaganda bestanden. Dabei wurde der nationalsozialistische Antisemitismus jedoch nicht einfach exportiert. Stattdessen wurden die Zuhörer*innen der Sendung „Berlin auf Arabisch“ gezielt als Muslim*innen angesprochen. So begann jede Nachrichtensendung mit der Rezitation von Versen aus dem Koran. In Kooperation mit arabischen Antisemiten im deutschen Exil (etwa dem Mufti von Jerusalem) entstand „eine nationalsozialistische Lesart des Koran“ (Herf 2009: 51). Eine selektive Auswahl an Texten aus dem Koran wurde kombiniert mit nationalsozialistischen Angriffen auf den westlichen Kolonialismus und sowjetischen Kommunismus, vermeintliche Gemeinsamkeiten zwischen Nationalsozialismus und Islam wurden betont. Zudem wurden zentrale Behauptungen über die Juden und den Zionismus permanent wiederholt, zum Beispiel, dass der Zionismus große Gebiete des Nahen Ostens, darunter Palästina, Syrien und Transjordanien, erobern und von dort aus den Nahen Osten und schließlich die ganze Welt kontrollieren wolle (Herf 2009; Küntzel 2019).
Die Dauerbeschallung hatte Folgen. Die islamistische Muslimbruderschaft in Ägypten wurde zur größten antisemitischen Bewegung. Sayyid Qutb, der Theoretiker der Muslimbruderschaft, avancierte in der Nachkriegszeit zum einflussreichsten islamistischen Denker und konstatierte: Die arabischen Länder seien in einen Zustand ‚vorislamischer Barbarei‘ (gahiliya) zurückgefallen, deshalb müsse die Herrschaft Gottes wiederhergestellt werden – und zwar mit Waffengewalt (jihad) (Gebert 2011: 6). Entscheidend in Qutbs Denken war die Feindkonstruktion: Für den Zustand der arabischen Gesellschaften machte er nicht die in der Gegenwart lebenden Muslime verantwortlich, sondern die Juden, die sich nach der Ankunft Mohammeds in Medina im Jahr 622 gegen den Islam verschworen hätten. So konstruierte Qutb die Idee einer ‚ewigen Feindschaft‘ des Judentums gegenüber dem Islam. Diese Einschreibung des Verschwörerischen in ein vorgestelltes Kollektiv aller Juden, egal wo und wann, hergeleitet aus den Schriften des Islams, ist damit ein weiteres Kennzeichen des islamischen Antisemitismus (Gebert 2011: 7).
Qutbs Dämonisierung der Juden macht jeden Gedanken an eine Koexistenz unmöglich. Er hat mit seinen Ideen Generationen von Muslim*innen beeinflusst, sein Denken erhält sich insbesondere in den salafistischen Bewegungen bis heute. Der islamische Antisemitismus findet sich jedoch nicht nur am islamistischen Rand der arabischen Gesellschaften, sondern auch im Alltagsdiskurs. Robert Wistrich untersuchte zu Beginn des Jahrtausends arabische Presseerzeugnisse und stellte fest, dass sich negative und antisemitische Darstellungen von Juden und Judentum in regierungsnahen wie oppositionellen, populären und akademischen Publikationen ebenso finden ließen wie in Fernsehsendungen, Karikaturen und in den Predigten von Klerikern, von Marokko bis zu den Golf-Staaten, in Ägypten und im Irak ebenso wie in Libyen und Syrien. Dort werden Juden als „Dämonen und Mörder“ dargestellt, „als hasserfülltes, abscheuliches Volk. […] Sie werden ausnahmslos als Ursprung allen Übels und aller Verdorbenheit gesehen, Urheber einer dunklen, unerbittlichen Verschwörung, die die muslimische Gesellschaft infiltrieren und zerstören wollen, um letztlich die Welt zu erobern.“ (Wistrich 2002: 4) Die Propaganda ziele nicht nur darauf, Israel als jüdischen Staat moralisch zu delegitimieren, sondern das Judentum wie auch Jüdinnen und Juden insgesamt zu entmenschlichen.
Islamischer Antisemitismus in Deutschland und Europa heute
Antisemitismus, der heute unter Muslim*innen in Deutschland und Europa verbreitet ist, ist nicht begrenzt auf spezifisch islamischen Antisemitismus, der durch eine gefühlte Bedrohung der islamischen Identität entsteht. Günther Jikeli hat eine der wenigen systematisch angelegten Studien zum Antisemitismus unter Muslim*innen in Europa vorgelegt. Er führte Interviews mit jungen muslimischen Männern unterschiedlicher ethnischer Hintergründe in London, Berlin und Paris. In diesen Gesprächen stellte er unterschiedliche Formen des Antisemitismus fest: „klassischen Antisemitismus“, etwa Stereotype, dass Juden reich seien, Formen des israelbezogenen Antisemitismus und einen Antisemitismus, der vollkommen auf Rechtfertigungen verzichtet. Es gab zudem Befragte, die Antisemitismus explizit kritisierten. Für maßgeblich hält Jikeli den Antisemitismus, der „in der Interpretation der muslimischen Identität liegt“, die eine Feindschaft gegen Juden impliziere (Jikeli 2018: 113).
Im islamischen Antisemitismus steht die aggressive Verteidigung der islamischen Identität gegen eine imaginierte jüdische Gefahr neben der Verachtung einzelner Juden. Die Demütigung der als schwach und verachtenswert wahrgenommenen Juden sieht Matthias Küntzel als charakteristisch an: „Als arabische Jugendliche in Berlin im Sommer 2014 die Parole: ‚Jude, Jude, feiges Schwein, komm heraus und kämpf allein‘ skandierten, wurde diese Abwertung sinnfällig. Als im April 2018 ein Araber in Berlin zu seinem Gürtel griff, um damit einen Kippa-Träger auszupeitschen, nutzte auch er eine archaische Sprache, die mehr ausdrückt als nur Gewalttätigkeit: Ähnlich wie das Bespucken oder Ohrfeigen dient der Gürtelschlag dazu, den anderen herabzusetzen – die Demütigung war hier wichtiger als die physische Verletzung.“ (Küntzel 2019: 29)
Verschiedene Studien der letzten Jahre zeigen: Antisemitismus unter Muslim*innen ist in Europa besonders stark verbreitet – deutlich mehr als unter Nicht-Muslim*innen. Antisemitismus ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel, Judenhass bildet häufig die Norm (Jikeli 2018: 113). Dies gilt auch für „klassische“ Einstellungsmuster, wie die Vorstellung, Juden hätten zu viel Macht und Einfluss in der Welt. Einer Studie der Anti-Defamation League (ADL) aus dem Jahr 2015 zufolge stimmten 16 % der Gesamtbevölkerung in Deutschland mehr als sechs klassisch-antisemitischen Aussagen zu, während es unter Muslim*innen 56 % waren (zit. nach Jikeli 2018: 124). Ein wichtiger Indikator für die Verbreitung von Antisemitismus in muslimischen Milieus ist der Faktor der Religiosität. Eine Studie aus Frankreich ergab 2014: 60 % der sich selbst als „sehr religiös“ bezeichnenden Muslim*innen vertraten eine antisemitische Weltanschauung, aber nur 30 % derjenigen, die sich selbst als nicht religiös sahen (Koopmans 2020: 211).
Eine Ursache für die weite Verbreitung von Antisemitismus in muslimischen Milieus in Europa ist der Einfluss arabischer, iranischer und türkischer Medien, in denen Antisemitismus häufig ganz offen geäußert wird. Dazu kommt der Einfluss von islamistischen Organisationen, die aus dem Ausland bezahlt werden, auf Moscheevereine und Imame in Deutschland. Angesichts dieser Befunde ist es nicht verwunderlich, dass ein signifikanter Anteil der antisemitischen Gewalttaten aus muslimischen Milieus verübt wird. Bereits 2003 belegte eine Studie, dass „physische Angriffe auf Juden und die Schändung und Zerstörung von Synagogen […] hauptsächlich von jungen muslimischen Tätern, meist arabischer Abstammung“ verübt wurden (Bergmann/Wetzel 2003: 25). Muslimische Täter sind auch für zahlreiche antisemitische Morde der letzten Jahre in Europa verantwortlich: Für den Angriff auf eine jüdische Schule in Toulouse 2012, bei der ein Lehrer und drei Kinder erschossen wurden, für den Anschlag auf das jüdische Museum in Brüssel im Jahr 2014, bei dem vier Menschen getötet wurden, für das Attentat auf einen jüdischen Supermarkt bei Paris 2015 mit vier Toten, für den Angriff auf eine Synagoge in Kopenhagen im Jahr 2015 mit zwei Toten und die Ermordung der 85-jährigen Holocaust-Überlebenden Mireille Knoll in Paris, bei der die muslimischen Täter 2015 annahmen, dass sie Geld haben müsse, weil sie jüdisch sei (Koopmans 2020: 211f.).
In Frankreich gehen mehr als die Hälfte der antisemitischen Vorfälle auf das Konto von Muslimen, die jedoch nur knapp 8 % der Bevölkerung ausmachen (Jikeli 2019: 52). Ronen Steinke weist darauf hin, dass es in Deutschland an einer systematischen Erfassung des Hintergrundes von antisemitischen Gewalttaten fehlt. Die Polizei weise Straftaten aus dem muslimischen Spektrum nicht gesondert aus. Eine entsprechende Richtlinie heiße: „Antisemitische Straftaten sind dem Phänomenbereich PMK2 – rechts – zuzuordnen, wenn sich aus den Umständen der Tat und/oder der Einstellung des Täters keine gegenteiligen Anhaltspunkte zur Tätermotivation ergeben.“ Die Statistiken, nach denen über 90 % aller antisemitischen Attacken in Deutschland von Rechtsradikalen verübt werden, sind deshalb mit großer Skepsis zu lesen. In ihnen werden ungeklärte Fälle einfach mitgezählt (Steinke 2020: 95). Aus Sicht der Betroffenen stellt sich die Lage anders dar: Umfragen unter Jüdinnen und Juden stehen in einem starken Kontrast zur Polizeistatistik. Im Dezember 2018 veröffentlichte die EU-Grundrechte-Agentur eine Umfrage, der zufolge sich in Deutschland 41 % der Jüdinnen und Juden am stärksten vom islamischen Antisemitismus bedroht fühlen. Laut einer Studie der Uni Bielefeld lag der Anteil muslimischer Täter bei körperlichen Angriffen aus Sicht der Betroffenen bei 81 % (Zick et al. 2017: 21).
Islamischen Antisemitismus bekämpfen
Ein wichtiger Schritt ist es, das Problem als solches anzuerkennen: Der Antisemitismus islamischer Provenienz ist ein Problem der gesellschaftlichen Mitte und betrifft damit auch die europäischen Gesellschaften, zu denen Muslim*innen gehören. Auch wenn er spezifische Eigenschaften hat, ist er nicht das ganz „Fremde“: Schon in seinen frühislamischen Ursprüngen nahm er Bilder christlicher Judenfeindschaft in sich auf. Der moderne islamische Antisemitismus entstand, als sich muslimische Akteur*innen europäische antisemitische Verschwörungsfantasien aneigneten, und insbesondere deutsche Beamte halfen bei der Verankerung des islamischen Antisemitismus während des Zweiten Weltkrieges entscheidend mit. Heute sind wir mit dem Phänomen eines globalisierten politischen Antisemitismus konfrontiert (Rensmann 2020). Verschwörungslegenden, Holocaustleugnung und Hass auf Israel gibt es sowohl im rechtsradikalen wie im islamischen Antisemitismus: Diese Formen dringen immer weiter in den Mainstream vor (Rensmann 2020: 85; vgl. auch Salzborn 2020).
Es darf kein Verschweigen und keine Entschuldigung des islamischen Antisemitismus geben. Eine Tabuisierung trägt lediglich dazu bei, die dringend notwendige kritische Reflexion über den zerstörerischen Gehalt der antisemitischen Lesart der religiösen Quellen unter Muslim*innen weiter aufzuschieben. Der islamische Antisemitismus muss, wie andere Formen des Antisemitismus auch, benannt und bekämpft werden. Dazu gehört es, antisemitische Aufrufe zur Gewalt konsequent strafrechtlich zu verfolgen. Das geschieht bisher in vielen europäischen Gesellschaften nicht (Rensmann 2020: 92). In Deutschland gilt es zudem, die Kooperation mit islamischen Organisationen auf einen kritischen Prüfstand zu stellen. Viele von ihnen sind beeinflusst von islamistischen Organisationen, die meist von undemokratischen Regimen finanziert werden. Diese dürfen nicht länger Ansprechpartner für die Politik sein. Vor allem aber sollten sie keine staatlichen Fördergelder für Integrationskurse oder Deradikalisierungsprogramme erhalten. Sie sind Teil des Problems, nicht der Lösung. Im Gegenteil ist es wichtig, den Einfluss undemokratischer islamistischer Regime auf deutsche Muslim*innen einzudämmen und damit wichtige Quellen von antisemitischer und islamistischer Propaganda auszutrocknen. Letztlich muss ein Reflexionsprozess in den islamischen Gesellschaften beginnen: Denn erst wenn gesellschaftliche Probleme angegangen und nicht länger mit fantastischen Verschwörungslegenden überdeckt werden, können die Krisen in diesen Gesellschaften überwunden werden. Gerade Deutschland trägt eine historische Verantwortung für die Verbreitung des islamischen Antisemitismus. Es wäre deshalb an der Zeit, zur Eindämmung dieser zerstörerischen Ideologie beizutragen.
1 Dieser Text behandelt vor allem Vorstellungen von bzw. Fantasien über das Judentum und Juden. Da es dabei nicht um reale Personen und ihre Repräsentanz geht, wird an diesen Stellen im Text nicht gegendert.
2 PMK steht für Politisch motivierte Kriminalität.
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