Spaltung statt Zusammenhalt1
Ich kenne also wirklich Leute, die, die wirklich auch herablassend, die, man sagt: Ja, die Sozialhilfeempfänger, die soll man alle nach Sibirien schicken. Ist mir zu Ohren gekommen. Also was man hört, ist schon sehr traurig.
Dieser Auszug eines Interviews stammt von Elisabeth (60 Jahre alt, seit zehn Jahren arbeitssuchend). Er bezeugt die Erfahrungen mit Abwertung, dem Mangel an Respekt und sozialer Wertschätzung, von dem zahlreiche Interviewpartner*innen in unserem Projekt berichtet haben.
Sie erzählen uns von vielfach als Drangsalierung wahrgenommenen Versuchen behördlicher Kontrolle und Disziplinierung und von Erfahrungen mit Zurückweisung und Missbilligung aufgrund der Arbeitslosigkeit im Alltag. Wie kommt es aber zu diesen Formen der Abwertung und welche Folgen kann das für die Betroffenen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt haben?
Zunächst handelt es sich bei Langzeitarbeitslosen um eine Gruppe, die, sehr beharrlich, kaum Möglichkeiten zu einer den Bedarf deckenden und nachhaltigen Erwerbsarbeit hat. Die Betroffenen können vom gegenwärtigen wirtschaftlichen Aufschwung und der verbesserten Situation am Arbeitsmarkt nicht profitieren. So bleiben sie über den Ausschluss aus dem Erwerbssystem dauerhaft von wesentlichen Teilhabemöglichkeiten ausgeschlossen (u. a. Böhnke 2006).
Der Zugang zur Erwerbsarbeit, dem zentralen Bindemittel der modernen Gesellschaft (grundlegend Durkheim 1977), bleibt ihnen verwehrt. In einer Gesellschaft, in der soziale Wertschätzung vor allem nach dem Prinzip der Leistungsgerechtigkeit vergeben wird, führt Erwerbslosigkeit zu negativen Rückschlüssen auf arbeitslose Personen. Vor dem Hintergrund abwertender und pauschaler Verlautbarungen in verschiedenen Diskursen und der ungebrochenen Geltung der Erwerbsarbeitsnorm gilt die Langzeitarbeitslosigkeit vielfach als ein (selbstverschuldeter) Makel, der um (fast) jeden Preis zu vermeiden ist. Empirische Detailarbeit lässt für die von Arbeitslosigkeit Betroffenen aus diesen Gründen auch ein besonderes Bild sichtbar werden. Sie offenbart, dass Mitglieder dieser Gruppe vielfach Opfer von Missbilligungen und negativen Zuschreibungen sind. Sie verdeutlicht ferner, dass für einen Teil von ihnen ein hohes Maß an Solidarität und Hilfsbereitschaft, Vertrauen in Institutionen und eine ausgeprägte Gemeinwohlorientierung wirklichkeitsfern bleiben und nur sehr wenig mit ihren Alltagserfahrungen zu tun hat. Vor allem im direkten Umfeld in Form manifester negativer Abwertungen und in den behördlichen Vermittlungsversuchen wird den Arbeitslosen wiederkehrend ihre Fehlbarkeit vor Augen und der Mangel an Selbstdisziplin und Anpassungsleistung aufgezeigt.
Ausgehend von den Ideen des französischen Soziologen Paugams (2008) zur Sozialen Disqualifizierung lassen sich hier zwei Dimensionen untersuchen: Die konkreten Erfahrungen der Betroffenen mit Missachtung und Diskriminierung in den Unterstützungsverhältnissen und die Erfahrungen in ihrem direkten, persönlichen Umfeld. Aus diesem Blickwinkel, der die Deutung der Arbeitslosen und damit die Wahrnehmung von Stigmatisierung in den Mittelpunkt stellt, sollen nun vor allem zwei miteinander verbundene Gesichtspunkte skizziert werden. Einerseits wird auf der Grundlage von Interviewergebnissen gezeigt, wie die Akteur*innen diese Abwertung ihres Status wahrnehmen. Zum anderen werde ich beispielhaft skizzieren, welche Folgen dies für sie haben kann. Dabei beschränke ich mich auf die Frage nach der Entstehung von Vorurteilen bei den Arbeitslosen selbst, die als Reaktion auf die zahlreichen Kränkungen und Unterstellungen verstehbar wird.
Die betreffenden Passagen sind ein Teil von insgesamt 26 Interviews, die zwischen 2013 und 2016 im Rahmen eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekts durchgeführt wurden.2 Die Interviewpartner*innen wurden über Träger beschäftigungsfördernder Maßnahmen und Beratungsstellen für Arbeitslose rekrutiert. Zentrales Kriterium für die Auswahl war die Langzeitarbeitslosigkeit, der Grundsicherungsbezug3, vor allem aber die Erreichbarkeit und Bereitschaft zur Teilnahme. Die Themen des Interviewleitfadens ergaben sich aus verschiedenen Bestandteilen der theoretischen Überlegungen des amerikanischen Soziologen Goffman (1975). Im Mittelpunkt der Erhebung standen allgemein die Wahrnehmung von und der Umgang mit negativen Zuschreibungen in Bezug auf den Status der eigenen Arbeitslosigkeit.
Arbeitslosigkeit als ein Schandmal?
Die Kategorisierung „arbeitslos“ als negative Abweichung und die Abwertung dieser Gruppe finden sich sinnfällig in unzähligen Äußerungen öffentlicher Geringschätzung und der Zuschreibung verschiedener schemenhafter negativer Eigenschaften (u. a. Chassé 2010, Uske 1995). Diese werden in Form verkürzter Figuren und als (Stigma-)Symbole in Medien und politischen Verlautbarungen (u. a. „Florida Rolf“, „Drückeberger“, „soziale Hängematte“) zu Klassifikationsangeboten bei der Beurteilung dieser Gruppe. Daraus ergeben sich zwei grundlegende Aspekte, die Grund für die Gruppenüberheblichkeit und für die Gruppenabwertung sind. In diesem medial und politisch vermittelten umfangreichen Bestand von abwertenden Annahmen über die Arbeitslosen werden unterschiedliche Besonderheiten dargelegt. Zum einen wird hier allgemein deutlich, dass die Arbeitslosen in unerwünschter, moralisch fragwürdiger Weise anders sind als die große Mehrheit. Zweitens wird mit diesen negativen Bildern die Gefährdung der Gemeinschaft, der respektablen Gruppe durch die Arbeitslosen belegt (Bauman 2005: 82). In diesem Zusammenspiel von zugewiesenem Status, negativen Eigenschaften und Schuldvermutung wird deutlich, dass der Status der Arbeitslosigkeit vor allem mit negativen und durch Vermittlung und Hilfe zu bearbeitenden Attributen versehen ist. Dabei ist der Verdacht der Untätigkeit oder der Passivität, der den Arbeitslosen entgegengebracht wird, schon im allgegenwärtigen sozialpolitischen Credo von Aktivierung angelegt, der sich u. a. im Slogan „Fördern und Fordern“ manifestiert.
Die Idee der Aktivierung erweist sich „als ein paradoxes Projekt. Sie muss ihren Adressaten zunächst die Passivität unterstellen, die sie dann zu überwinden verspricht.“ (Kocyba 2004: 21).
Doch auch jenseits der Erfahrungen mit behördlichen Vermittlungsversuchen4 berichtet ein Teil der von uns Interviewten von manifesten Formen der Stigmatisierung im Alltag, die auf ihren weniger respektablen Status zurückzuführen sind. Andere nehmen bestimmte Formen der Abwertung und Diskriminierung vorweg, weil sie die negativen, stereotypen Bilder in Medien und politischen
Verlautbarungen gut kennen. Bei den Erfahrungen mit Stigmatisierung ist vor allem die Tatsache von Bedeutung, dass ihr Status im Alltag im Kontakt mit Erwerbstätigen nicht unmittelbar erkennbar ist. Die ungefilterten Erfahrungen, bei denen die Arbeitslosen den Standpunkt der Erwerbstätigen ihnen gegenüber kennenlernen, sind vielfach nur möglich, weil sie in den Situationen nicht als Arbeitslose erkennbar sind. Diese Wahrnehmung von negativen Zuschreibungen ist als eigene Erfahrung und über Geschichten von Schmähungen durch Erwerbstätige aus zweiter Hand präsent (dazu auch Gurr/Jungbauer-Gans 2017). So berichtet beispielsweise Jan (50 Jahre alt, seit zehn
Jahren arbeitssuchend) von der Erfahrung bei der Fahrt im öffentlichen Personennahverkehr wie folgt:
Ja, da höre ich das, die wollen nicht arbeiten und ... Ja (.) Ja. Und der Führer müsste wieder her und sie müssten ja alle zur Arbeit gezwungen werden und (Abbruch).
Vor allem die zugeschriebene Faulheit und fehlende Anstrengungsbereitschaft werden in Sequenzen wie dieser hervorgehoben. Richard (29 Jahre alt, seit 2 Jahren arbeitssuchend) äußert über die negativen Annahmen der Erwerbstätigen und die Verbindung von Status und unterschiedlichen negativen (Charakter-)Eigenschaften folgendes:
Wenn man keine Arbeit hat dann und so dann denke die Leute eben dass man, dass man den ganzen Tag nur zuhause sitzt und sowieso kein Bock hat loszulaufen und ja, das glaube ich ist das was die Leute immer denken.
Diese Erfahrungen sind es, die den Interviewpartner*innen im Alltag wiederholt und anschaulich wie drastisch ihre Minderwertigkeit vor Augen führen. So wird ihnen verdeutlicht, dass sie als Kostgänger*innen oder Schmarotzer*innen eine Belastung oder Gefährdung für die Gemeinschaft sind. Elisabeth, nachdem sie lange Zeit in der Gastronomie gearbeitet hat, berichtet von einer Begebenheit in einem Gastronomiebetrieb:
... ich sagte zu dem Döner-Mann: Ja, weißt du doch, wenn man Hartz IV kriegt hat man halt nicht so viel Geld. Und die beiden sich hinter meinen Rücken,
ich hörte nur wie der eine sagte: Boh, diese Spacken von Hartz IV - Empfänger. Überall wollen sie noch, ne, und wir gehen arbeiten und die Faulen sitzen zuhause.
Diese schmerzhafte Einsicht, die wiederholten Erfahrungen von Missbilligung lassen aus der „intimen Gewissheit, negativ gegen eine Norm abzufallen“ (Goffman 1975: 16) für die Betroffenen eine offensichtliche werden. Dass diese Erfahrungen unterschiedliche Folgen haben, liegt auf der Hand. Der Verlust an Beziehungen und der Rückzug aus Kontexten, in denen es zu Kontakt mit Erwerbstätigen kommen kann, ist eine der Folgen dieser Stigmatisierungen. Ein wichtiger Grund für den Abbruch von Beziehungen zu erwerbstätigen Personen und sogar zu Familienmitgliedern besteht darin, dass die Arbeitslosigkeit mit wechselseitigen Schamgefühlen verbunden ist. So etwa Paul (36 Jahre alt), der im Verlauf seiner sechs Jahre andauernden Arbeitslosigkeit trotz Versuchen der vertrauten Personen, ihn zu unterstützen, den Kontakt schrittweise abgebaut hat:
Ich habe mich rausgezogen. Ähm. Na, die Faktoren waren einfach ich war selber mit mir unzufrieden, mein Selbstwertgefühl hat unheimlich gelitten. Ähm. Mein eigenes Schamgefühl, ähm, war irgendwann dann so ausgeprägt, dass ich mich von Kontakten distanziert habe.
Negative Zuschreibungen und Scham sind insbesondere in Beziehungen, deren Bezugspunkt die Familie bzw. das Verwandtschaftsverhältnis ist, von zentraler Bedeutung. Einige Familienmitglieder scheinen zu befürchten, dass der Makel und die damit verbundenen negativen Eigenschaften auf sie zurückfallen. Andere Interviewpartner*innen berichten auch von Versuchen die Beziehungen aufrecht zu erhalten oder wiederaufzunehmen. So beschreibt etwa Manuela (55 Jahre alt, seit 15 Jahren arbeitssuchend) diese Versuche:
Er will nicht. Ich hatte noch mal zwei Briefe geschickt, die sind dann zurückgekommen. ... und das letzte Telefonat hatte ich mit mein Vaters Partnerin, in T-Stadt, und da hatte sie mir wortwörtlich gesagt, ähm er schämt sich halt, weil die haben da nen Haus, und ich würde da nicht rein passen. ...
An dieser Stelle ließe sich nun deutlich mehr hinsichtlich der Bedingungen und Folgen für die
Betroffenen differenzieren. Das Spektrum der Reaktionen auf diese Formen der Abwertung ist vielfältig, reicht von Konfrontation und Widerstand bis zur Übernahme der negativen Bilder in das Selbstbild, einer Art destruktiver Selbstbezichtigung. Ein weiterer Aspekt der Folgen dieser negativen Zuschreibungen erweist sich allerdings vor dem Hintergrund der Frage nach einem solidarischen Zusammenleben und der Entstehung von Abwertungstendenzen von besonderer Bedeutung. Es zeigte sich nämlich, dass die Interviewten nicht einfach passive Opfer von Stigmatisierungen sind. Vielmehr finden sich neben den unterschiedlichen Umgangsweisen des Rückzugs oder den Versuchen der Informationskontrolle, wie des Verbergens oder Täuschens auch zahlreiche Sequenzen in den Interviews, in denen die Interviewten ihrerseits wiederum Versuche unternehmen, Gruppengrenzen zu konstruieren und andere Gruppen abwerten.
Abwertung anderer Gruppen als Reaktion auf Kränkungen
Versuche der Erklärungen für die Entstehung und Verfestigung von Vorurteilen gibt es einige (im Überblick Pettigrew 2016), hier wird aber vor allem offenkundig, dass ein Teil der Interviewten mit Blick auf andere Gruppen interessanterweise genau das Repertoire an negativen Annahmen übernehmen, welches sie bei den Erwerbstätigen ihnen gegenüber vermuten oder im Rahmen manifester Stigmatisierungen erfahren haben. Die Unterstützung dieser Gruppen, etwa Geflüchteten, oder Ausländer*innen wird als ungerechtfertigt gesehen und direkt mit eigenen Erfahrungen von Benachteiligungen verknüpft. Verstärkt wird diese Tendenz zur Abwertung durch die Konkurrenz um knappe Ressourcen und die Annahme, dass die Unterstützung einer Gruppe zu eigenen Einschränkungen und Entbehrungen der Gruppe, der sie sich zugehörig fühlen, führt (dazu Runciman 1967). Beispiele sind etwa geringere Regelsätze oder unzureichende Möglichkeiten bei der Wohnungssuche. Illustrieren lässt sich dies am Beispiel von Uta, die, von einigen kurzen Unterbrechungen mit Jobs in der Gastronomie abgesehen, seit 20 Jahren arbeitssuchend ist:
Die, äh, Ausländerjugendlichen oder die Ausländer, die hier reinkommen, die wollen gar nicht arbeiten und kriegen aber alles. Die kriegen alles in den Arsch gesteckt. Sprich kriegen Geld für neue Möbel, kriegen eine tolle Wohnung, kriegen Autogeld und, und, und. Und unsereiner, ne, also ich meine da stimmt, sage ich dann auch manches Mal also wie kann das angehen, ne. …
Die, die hier hoch kommen wollen hier ar-, oder wollen hier wohnen, unsere Staatsbürgerschaft haben, wollen aber nicht Deutsch lernen, wollen nicht arbeiten, ne, und kriegen trotzdem alles, ne. Und manchmal ist das ungerecht. Also manchmal ist unser Staat echt ungerecht.
Dabei ist die Wahl der jeweiligen Gruppe vor allem in Hinblick auf Unterscheidbarkeit und Abgrenzung von Belang. Dies trifft häufig auf ethnische Grenzziehungen zu. Allerdings gibt es bei diesen Interviewpartner*innen auch die Tendenz, die eigene Gruppe der Arbeitslosen nach anderen
Kriterien (Geschlecht, Drogenkonsum, Alter, Familienstand) noch einmal in würdige und unwürdige Transferempfänger*innen zu gliedern. Die Wahl der Gruppe und die Betonung der damit verbundenen negativen moralischen Eigenschaften hängen vor allem von einem gefährdeten Selbstbild und der befürchteten/erfahrenen Kränkung ab.
Mit anderen Worten je gekränkter die Personen sind, desto eher betonen sie das moralische Fehlverhalten anderer. Das liegt vor allem daran, dass der eigene Status durch die damit verbundenen negativen Zuschreibungen kaum geeignet ist, den oder die Merkmalsträger*in positiv erscheinen zu lassen.
Auch hier dienen die oben skizzierten Kriterien fehlender Anstrengungsbereitschaft, bezahlten Müßiggangs oder die Rangordnung und die Unterschiede rechtfertigenden Mythen über die Verteilung von Fleiß, Faulheit, Anstand zur Distanzierung. Dass die betreffenden Interviewten nun genau diese Zuschreibungen übernehmen, die die Erwerbstätigen ihnen gegenüber haben oder die antizipiert werden, scheint vordergründig absurd. Dies ist aber der Bestand an negativen Annahmen, an dem sich die Arbeitslosen bedienen, um ihrerseits die Minderwertigkeit anderer Gruppen zu begründen und die Bedrohung durch sie zu erklären. Hier handelt es sich um ein Phänomen, welches bereits Goffman (1975: 133) herausgearbeitet hat. „Das stigmatisierte Individuum zeigt eine Tendenz, seinesgleichen gemäß dem Grad, in dem ihr Stigma offenbar und aufdringlich ist, in Schichten zu gliedern. Es kann dann jenen gegenüber, die evidenter als es selbst stigmatisiert sind, die Verhaltensweisen einnehmen, die die Normalen ihm gegenüber haben.“ Diese Reaktionen sind ein Mittel, um das eigene Selbstwertgefühl zu erhöhen und sich über Abwertung der anderen Gruppen der positiven Distanz der eigenen Gruppe – wahlweise Deutsche, Frauen, Männer, Gebildete etc. – gegenüber Fremdgruppen und damit einer positiven Identität (vgl. grundlegend Tajfel 1978) zu vergewissern.
Einige Folgerungen
Vor dem Hintergrund der hier sehr kurz skizzierten Ergebnisse bleiben vor allem mit Blick auf die Gruppe der Arbeitslosen Zweifel an positiven Beschreibungen des sozialen Zusammenhalts. Wenigstens für diese Gruppe dürften vielmehr die Thesen von Spaltung und Entkoppelung (u. a. Castel 2000) plausibel sein. Die fehlende Einbindung in Erwerbsarbeit, die behördlichen Versuche zu kontrollieren, zu disziplinieren und schlimmstenfalls zu sanktionieren zusammen mit den medial und politisch orchestrierten negativen Zuschreibungen dieser Gruppe gegenüber haben Folgen für Betroffene und den sozialen Zusammenhalt. Dies führt statt zu Kooperation, Vertrauen, Gemeinsinn, festen und verlässlichen Beziehungen eher zu Absonderung, Misstrauen, Skepsis und dem Abbruch von bestehenden Beziehungen. Dabei wird deutlich, dass ein Teil der Arbeitslosen sehr sensibel gegenüber den negativen, verallgemeinernden Zuschreibungen ist. Zur Einsicht in die eigene Entbehrlichkeit gesellt sich bei ihnen das Gefühl, unverdient Wohltätigkeit in Anspruch zu nehmen und für andere eine Belastung zu sein. Hinzu kommt, dass diese Prozesse sozialer Degradierung Ausgangspunkt für weitere negative Zuschreibungen durch die Arbeitslosen selbst sein können. Diese Prozesse, bei denen durch die Betroffenen die Minderwertigkeit und die Belastung bzw. Gefährdung durch andere gesellschaftlicher Gruppen in den Vordergrund gerückt werden, sind als Reaktion auf die Kränkung zu verstehen. Es kommt zu Kränkungen durch negative, wirkmächtige moralisierende Zuschreibungen im Alltag und durch eine sozialpolitische Ungleichwertigkeitsideologie, die den Transferempfänger*innen Passivität unterstellen. Hinzu kommen die Verunsicherung hinsichtlich der Verfügbarkeit knapper Ressourcen und die vertraute Gewissheit eines weniger respektablen Status innerhalb der Gesellschaft. Dies kann, wie gezeigt, zu weiteren auch radikaleren Abwertungen von gesellschaftlichen Gruppen führen.
Doch wie könnten wirkungsorientierte Antworten aussehen: Prinzipien der Nützlichkeit dürften die Frage um Wohltätigkeit und Integration nicht dominieren. Vielmehr müssten die Illusion der Chancengleichheit und der Leistungsgerechtigkeit, die entsprechenden Prinzipien der Statuszuweisung und damit verbundene Machtungleichheiten hinterfragt werden. Im öffentlichen Diskurs gilt es, bestimmte soziale Probleme auch als Symptome spezifischer gesellschaftlicher Entwicklungen und nicht als selbstverschuldet zu kennzeichnen. Diese Erklärungen müssen auch den Betroffenen zur Verfügung gestellt und eher Gemeinsamkeiten mit den Erwerbstätigen betont werden. Für die von Arbeitslosigkeit Betroffenen sollte es zentral aber darum gehen, ihren entwerteten und in Misskredit gebrachten Status rasch aufzuwerten. Auf diesem Weg muss die Arbeitsvermittlungspraxis mit der starken Akzentuierung auf den Aspekt des Forderns, der Disziplinierung und der Kontrolle verändert werden. Eine stärker nach pädagogischen Orientierungen modifizierte Vermittlungsarbeit, die nicht mehr nur Drohkulisse ist sondern den Einzelfall und die Sorge um den/die Klient*in in den Vordergrund stellt, dürfte hier ein guter Ausgangspunkt sein. Noch bedeutender allerdings ist aus meiner Sicht die Veränderung des bisher sehr moralinhaltigen politischen und medialen Diskurses. Hier werden die diffamierenden Bilder des oder der faulen, antriebslosen, satten Arbeitslosen geschaffen, die in ihrer spaltenden und gruppenverachtenden Wirkung folgenreich sind und im Nahbereich der Betroffenen ankommen. Mehr noch: Sie sind vielmehr Blaupause für neue Abwertungen durch jene, die eigentlich Opfer von Diskriminierung und Missbilligung sind. Wie auch bei anderen gesellschaftlichen Fragen von Protest und Konflikt sind es vor allem diese abwertenden Klassifikationen bestimmter Gruppen, die einer konstruktiven Problembearbeitung im Wege stehen. Die diskursive Konstruktion von verschiedenen Gruppen als andersartig, als bedrohlich, als belastend für die Gemeinschaft, als weniger nützlich oder als minderwertig macht einen politischen, am Problemgehalt orientierten, demokratischen Diskurs unmöglich.5 Eines ist die öffentlich verleumdete, für weniger rechtmäßig und respektabel erklärte Lebensweise der Arbeitslosen jedoch ganz sicher nicht: Grundlage für einen solidarischen, von Hilfsbereitschaft, Vertrauen in Institutionen, positiver emotionaler Verbundenheit und Gemeinwohlorientierung geprägten gesellschaftlichen Zusammenhalt.
1 Ein Dank gilt Sebastian Lang sowie den Gutachter*innen und Herausgeber*innen der Zeitschrift für ihre wertvollen Hinweise zur ersten Fassung des Manuskripts.
2 Diese Arbeit wurde finanziell gefördert und entstand im Rahmen des DFG-Vorhabens DFG JU 414/15-1.
3 Gefragt wurde nach längeren Zeiten der Arbeitslosigkeit. Alle Interviewpartner*innen sind länger als 12 Monate ohne Arbeit und erhalten Grundsicherungsleistung für erwerbsfähige Leistungsberechtigte. Dabei sind so genannte schädliche Unterbrechungen etwa durch arbeitsmarktpolitische Maßnahmen oder längere Krankheit, die den Status der Langzeitarbeitslosigkeit offiziell beenden würden, für die vorliegende Untersuchung und – so zeigte sich – auch für die Selbstwahrnehmung der Betroffenen weitgehend ohne Bedeutung.
4 Wenn bei den folgenden Darstellungen auf die stigmatisierenden Erfahrungen mit den Behörden verzichtet wird, mitnichten, weil es sie nicht gibt, sondern aus Platzgründen. Nachzulesen sind diese in Gurr (2017).
5 Man denke in diesem Zusammenhang, in dem auch von Othering gesprochen werden kann, auch an andere Konflikte und andere öffentlich diskreditierte Gruppen. Dabei werden bestimmte Gruppen als anders, fremdartig und abweichend dargestellt und hierarchisierend als minderwertig, als pathologische Fälle und damit als bedrohlich konstruiert (dazu bspw. Jensen 2011).
Literatur
Bauman, Zygmunt (2005): Verworfenes Leben. Die Ausgegrenzten der Moderne. Lizenzausg. Bundeszentrale für politische Bildung (Schriftenreihe/Bundeszentrale für Politische Bildung, 524): Bonn.
Böhnke, Petra (2006): Am Rande der Gesellschaft. Risiken sozialer Ausgrenzung. Zugl.: Berlin, Freie Univ., Diss., 2004 u.d.T.: Böhnke, Petra: Risiken sozialer Ausgrenzung. Budrich: Opladen (Edition Recherche).
Castel, Robert (2000): Die Metamorphosen der sozialen Fragen. Eine Chronik der Lohnarbeit. Universitätsverlag: Konstanz.
Chassé, Karl August (2010): Unterschichten in Deutschland. Materialien zu einer kritischen Debatte. VS Verl. für Sozialwiss: Wiesbaden.
Durkheim, Émile (1977): Über die Teilung der sozialen Arbeit. Suhrkamp: Frankfurt a. M.
Goffman, Erving (1975): Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. Unter Mitarbeit von Frigga Haug. Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 140): Frankfurt a. M.
Gurr, Thomas (2017): Ohnmacht und Aktivierung – Ein Blick auf Agency im Vermittlungskontext. In: Sowa, Frank/Staples, Ronald [Hrsg.]: Beratung und Vermittlung im Wohlfahrtsstaat. Nomos Verlagsgesellschaft: Baden-Baden, S. 311 – 338.
Gurr, Thomas/Jungbauer-Gans, Monika (2017): Eine Untersuchung zu Erfahrungen Betroffener mit dem Stigma Arbeitslosigkeit. In: SozProb 28 (1), S. 25 – 50.
Jensen, Sune Qvotrup (2011): Othering, identity formation and agency. In: Qualitative studies 2 (2), S. 63–78.
Kocyba, Hermann (2004): Aktivierung. In: Bröckling, Ulrich/Krasmann, Susanne/Lemke, Thomas [Hrsg.]: Glossar der Gegenwart. Suhrkamp: Frankfurt a. M., S. 17 – 22.
Paugam, Serge (2008): Die elementaren Formen der Armut. Hamburger Ed: Hamburg.
Pettigrew, Thomas F. (2016): In Pursuit of Three Theories. Authoritarianism, Relative Deprivation, and Intergroup Contact. In: Annu. Rev. Psychol. 67, S. 1 – 21.
Runciman, Walter G. (1967): Relative deprivation and social justice: A study of attitudes to social inequality in twentieth-century England. Routledge & Kegan Paul: London.
Tajfel, Henri (1978): Differentiation between social groups: Studies in the social psychology of intergroup relations. American Press: Oxford.
Uske, Hans (1995): Die diskursive Entsorgung der Massenarbeitslosigkeit. In: Revue belge de Philologie et d'Histoire 73 (3), S. 755 – 772.