Demokratiekompetenzen auf dem Prüfstand – Schule als Erfahrungsraum für Mündigkeit und Ambiguitätstoleranz?

Demokratiebildung fungiert schon längst nicht mehr als ausschließliche Domäne des Sozialkundeunterrichtes. Das Bewusstsein, als Bürger*in Gesellschaft zu reflektieren, zu kritisieren und aktiv zu gestalten, bildet eine generelle Vermittlungsaufgabe von Schule ab. Der Beitrag stellt die Frage nach den Grundlagen demokratischer Bildung und wirft das Problem auf, inwieweit Pluralität und Vielfalt innerhalb der Bildung ihre Entsprechung finden können. Dabei bilden Widersprüche und gesellschaftliche Konflikte eine zentrale Herausforderung, auf welche Schule in ihrem Grundverständnis als Sozialisationsinstanz noch stärker reagieren muss.

Ein Theorie-Praxis-Widerspruch

Eine demokratische Zivilgesellschaft stärkt den sozialen Zusammenhalt und fördert über ihr Engagement Lösungen für Herausforderungen einer modernen Gesellschaft. Doch was ist das eigentlich – eine demokratische Zivilgesellschaft – wie zeigt sich ihr Wesen und ihr Handeln in der Praxis? In einem Beitrag der Publikationsreihe „Wissen schafft Demokratie“ zeichnet Matthias Quent (2017) ein ambivalentes Bild zivilgesellschaftlichen Engagements: Ressourcenmangel der zivilgesellschaftlichen Arbeit einerseits lassen strukturelle Defizite in der Gestaltung und Finanzierung dieses gesellschaftlichen Teilsystems erkennen. Zugleich finden Facetten zivilgesellschaftlichen Engagements ihren Ausdruck in der Unterstützung antidemokratischer, rechtsextremistischer Organisationen – wie Quent am Beispiel des Saale-Holzland-Kreises illustriert.

Dabei gilt das Engagement aus der Zivilgesellschaft heraus als ideal- und prototypische Form, um jenseits eines beruflichen Auftrags das Zusammenleben und den gemeinsamen sozialen Raum zu gestalten. Kompetent als Bürger*in mitbestimmen sowie an demokratischen Werten partizipieren – das sind Ziele, wie sie auch unabhängig der politischen Bildung als Kennzeichen einer*eines mündigen Erwachsenen beschrieben werden. Konkret finden diese Kennzeichen ihre Entsprechung im Verständnis der Demokratiekompetenz. Dabei ist die genaue Definition von Demokratiekompetenzen so heterogen wie das Verständnis des Kompetenzbegriffes und die moderne Gesellschaft selbst. Als übergeordnete Fähigkeit, um kompetent in einer demokratischen Gesellschaft zu leben, kann der Begriff der Mündigkeit gesetzt werden. Die Autorengruppe Fachdidaktik (2016) fasst in ihrem Leitfaden für den sozialwissenschaftlichen Unterricht Mündigkeit wie folgt zusammen:


Mündigkeit ist die Leitidee des Unterrichtes in den Fächern der politischen Bildung. Dazu gehören Autonomie, Verantwortung und Selbstreflexion über die eigene Mündigkeit. Die Lernenden sollen auch die Fähigkeit zu Kritik, Widerspruch und Widerstand entwickeln. Deshalb thematisiert Mündigkeit fördernder Unterricht Alternativen, statt das Bestehende
nur zu bestätigen.   (Ebd.: 21)


Ihre Realisierung findet die Mündigkeit in der demokratischen Zivilgesellschaft und deren Handeln. Die Basis zivilgesellschaftlichen Engagements liegt demnach in der Mündigkeit selbst; das kritische Reflektieren von Zusammenhängen – als mündiger Umgang mit Wissen – wird dabei zur Kernkompetenz. Der Didaktiker Wolfgang Klafki (1999) erklärt diese Fähigkeit zur Schlüsselkompetenz der Bildung. Und auch für den Soziologen Oskar Negt (2016 [1997]) wird eine kritische Reflexion der
Lebensrealität zur Grundlagenkompetenz für das Leben und Arbeiten in einer modernen Gesellschaft.

Welche Auswirkungen hat nun mangelnde Mündigkeit? Am Beispiel des Freiwilligendienstes lassen sich Folgen aufzeigen: In der praktischen Arbeit mit jungen Menschen, die einen Freiwilligendienst leisten, zeigen sich die Auswirkungen in Überforderung (vgl. Huth 2011: 74ff.) und spiegeln die Bildungskritik der letzten Jahre wider (vgl. Allmendinger 2012, Erpenbeck/Sauer 2016, Florin 2014). Dem Gedanken der Partizipation, Autonomie und Selbstreflexion folgend werden die jungen Freiwilligen angeregt, ihr Engagement zu reflektieren, eigene Gedanken und Meinungen für die Gestaltung ihres Freiwilligenjahres zu entwickeln. All dies scheint eine Überforderung darzustellen, setzt doch Mündigkeit auch Eigeninitiative voraus. Mitbestimmung ist jedoch zu diesem Zeitpunkt ein Thema, an das die Freiwilligen erst herangeführt werden müssen. So erwarten sie beispielsweise zu den Seminaren dozierende Lehrende, die ihnen das Denken und die Verantwortung für ihr Handeln weitestgehend abnehmen. Ist der erste erlebte Widerspruch überwunden, gelingt es den Jugendlichen im Laufe des Jahres Verantwortung für sich und die Gruppe zu übernehmen, eigene Ideen zu entwickeln und die Dinge kritisch zu betrachten. Sie werden mutiger und nehmen die Möglichkeiten der Mitbestimmung wahr, weil sie die dafür notwendigen Strukturen vorfinden und ermutigt werden, für ihre Interessen einzutreten. Der Freiwilligendienst ist vielfach eine Grundlage für ein späteres Engagement innerhalb der Zivilgesellschaft, er baut auf schulischer Bildung auf.

Bedenkt man nun, dass die Anlagen der*des mündigen Bürger*in bereits in der Schule gebildet werden, dass Demokratiebildung eine schulische Querschnittsaufgabe darstellt und dass das normative Bildungsziel der Schule in eben jener Mündigkeit liegt, ist die kritische Nachfrage nach den Prämissen schulischer Bildung berechtigt. Denn in der Schule als Sozialisationsinstanz werden die Grundlagen für Handlungsfähigkeit, Kritik und Selbstwirksamkeit als notwendige Bedingungen einer kritischen Bestandsaufnahme der Wirklichkeit gebildet. Die Vermittlung von Wissen bildet dabei nur eine Facette von Bildung ab; daneben stehen die kompetente Aneignung sowie ein produktiver Umgang mit diesem Wissen.

Schule als „Gesellschaft im Kleinen“

Schul- und Bildungskritik ist ‚en vogue‘. Obwohl notwendig, ist diese Kritik dabei zu Teilen ungerecht gegenüber den Lehrenden und (sozial-)pädagogischen Mitarbeitenden, agieren sie doch im Rahmen struktureller und bildungspolitischer Gegebenheiten. Analog einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive haben sie zwar die Möglichkeit, den schulischen demokratischen Raum über ihr Engagement zu gestalten. Aber auch ihr Engagement ist, wie das der demokratischen Zivilgesellschaft, an die Formierung und Realisierung der „Regierungsform“ gebunden. So bleiben beispielsweise die besten pädagogischen Konzepte zur individuellen Begabungsförderung in der praktischen Umsetzung hinter ihren Möglichkeiten, wenn ein zu eng bemessener Personalschlüssel die „inklusive Schule/Kita“ von innen aushöhlt. Die Mitarbeitenden sind letztendlich zu großen Teilen abhängig von rechtlichen Grundlagen, politischen Vorgaben und der realen Umsetzung ihrer Schulkultur: einer Demokratie im Kleinen. Denn Schule selbst fungiert als „Gesellschaft im Kleinen“.

Diese Sichtweise ist nicht neu. Sie geht auf den Philosophen und Pädagogen John Dewey (2007 [1899]) zurück, der mit seinem Verständnis von Schule als „Gesellschaft im Werden“ (embryonic society, ebd.: 31 f.) ein notwendiges Bewusstsein von Bildung jenseits standardisierter Leistungsmessungen schafft. Ebenso wie im gesellschaftlichen Raum ist die Schule ein Ort, an dem Menschen miteinander kommunizieren und durch Beziehungen miteinander verbunden sind. Ergänzend zu dieser Perspektive beschreibt der Soziologe Anthony Giddens (1997 [1993]) Schule als Machtbehälter. Giddens begründet jene Machtbeziehung der Schule u. a. über die räumliche Positionierung von Lehrenden und Lernenden im Raum des Klassenzimmers (ebd.: 188 ff.). Diese räumliche Figuration – die*der Lehrende steht dozierend vor den Lernenden – wird gestützt über einen disziplinierenden Kontext des Lernens und der Erziehung: Ein sozialer Raum für Widerspruch, Widerstand und Protest wird über die Kernprinzipien der Schule – Allokation (Zuordnung) und Selektion – stark eingegrenzt. Möglichkeiten bieten sich über eine demokratisch gestaltete Schulkultur, die bewusst Möglichkeiten der Mitgestaltung und des Widerspruchs in ihre Arbeitspraxis integriert.

Sicherlich mag ein „preußisch-autoritäres“ Bildungsverständnis der Vergangenheit angehören, aber „Schule“ bleibt zu Teilen in den aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen stecken, da sie es nur bedingt schafft, die “Gesellschaft im Werden“ auf die Erfordernisse der Moderne auszurichten. Gesellschaftliche Beschleunigungsprozesse (vgl. Rosa 2005, 2012) greifen im Teilsystem der Schule und formieren die Notwendigkeit, sich Wissen über die resonante Beziehungsarbeit anders „anzuverwandeln“ (vgl. Rosa/Endres 2016). Dabei gilt es auch, eine machtsensible Perspektive auf die abhängigen Beziehungsstrukturen der schulischen Akteur*innen zu entwickeln. Mit Blick auf zentrale Herausforderungen des gesellschaftlichen Zusammenhalts formiert die Schule zur Heterotopie – einem Raumkonzept Michel Foucaults (2006 [1967]), durch welches der Philosoph abgeschlossene Orte und Räume innerhalb der Gesellschaft kennzeichnet, die auf eine eigene, spezifische Weise Gesellschaft charakterisieren oder ein „Idealbild“ dieser konterkarieren.

Herausforderungen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt

Indem schulische Wirklichkeit hinter den gesellschaftlichen Anforderungen zurückbleibt, beschreibt sie ein Wesensmerkmal der Moderne: Regression. Aus soziologischer Perspektive etikettiert die regressive Moderne den Zustand, „dass Gegenwartsgesellschaften hinter das in der sozialen Moderne erreichte Niveau der Integration zurückfallen“ (Nachtwey 2016: 75). Die damit verbundenen Formen von Exklusion und Segregation sind vielfältig. Das Erstarken nationalistischer oder rechtsextremistischer Gruppierungen in Europa spiegelt dabei eine Facette der regressiven Moderne wider. Obwohl die Ursachen multikausal sind, steht dahinter aus Perspektive der sozialpsychologischen Forschung der Wunsch, die größer gewordene Welt verstehbarer zu machen – quasi ein hilfloser Versuch von nicht hinreichend entwickelter Mündigkeit und gleichzeitiger Problematik, Mündigkeit in allen gesellschaftlichen Bereichen erfahrbar und erlebbar zu machen.

Darüber hinaus müssen wir uns die Frage stellen, ob das aktuelle Verständnis von Mündigkeit noch ausreicht, um den Anforderungen der Moderne gerecht zu werden. Denn ganz gleich, mit welchem Theorieverständnis oder über welche Kennzeichen man unsere gegenwärtige Lebenswirklichkeit beschreiben will, der gemeinsame Nenner wird über Konzepte von Vielfalt, Pluralismus, Heterogenität, Antagonismus, Mehrdeutigkeit, Ambivalenz und letztendlich dadurch auch über Konflikthaftigkeit gekennzeichnet. Diese Wesensmerkmale treffen auch auf Demokratien in westlichen Gesellschaften zu und wirken über Kausalitätsketten auf globale Kontexte zurück. Ulrich Beck (1996) beschreibt dies als Reflexivität und Risikohaftigkeit, die ihren Ausdruck in der ungleichen und kaum steuerbaren Verteilung von goods (z. B. Einkommen) und bads (z. B. Erwerbsrisiken) findet. Zugleich wird das Wissen um die dahinter stehenden Prozesse unscharf, nicht konstruierbar oder brüchig. Um „Wissen“ also sicher zu erlangen, ist man auf eigene Erfahrungen sowie auf die Einschätzung dieses Wissens durch andere Menschen angewiesen.
In Zeiten zwischenmenschlicher Entfremdung und wachsender Verinselung der Lebensräume ist jede*r zunehmend selbst für den Umgang mit Wissen und Nichtwissen verantwortlich. Virtuelle und reale Echokammern – „Orte einer bewussten und selbstgewählten Perspektivverengung“ (Lütjen 2016: 18) – fördern dabei den Prozess der gesellschaftlichen Spaltung.

„Kognitive Dissonanz“ als bestimmendes Gefühl

Zurückkommend auf das Beispiel der Freiwilligendienste stellen wir fest, dass einige Freiwillige ihren Freiwilligendienst weit vor Beendigung abbrechen, weil ihre Vorstellungen und die Realität im Engagement nicht übereinstimmen. So zum Beispiel eine junge Frau, 16 Jahre alt; sie leistete einen Freiwilligendienst in einem Krankenhaus, weil sie Gesundheits- und Krankheitspflegerin werden wollte. Die Aufgaben, die sie von der Einsatzstelle erhielt, entsprachen aber nicht ihren Vorstellungen, obwohl im Vorstellungsgespräch darüber informiert wurde. Sie glaubte, dass sie viel Patient_innenkontakt haben wird und bereits Teile der Pflege übernehmen kann. Sie verstand nicht, dass die Schwestern und Pfleger sie und ihre Arbeit erst kennenlernen mussten, um einzuschätzen, ob sie schon in der Lage ist, mit Patient_innen umgehen zu können. So musste sie nun Dinge tun, die weder ihrer Vorstellung vom Dienst entsprachen, noch wusste sie wofür sie es tat. Die junge Frau war verwirrt und irritiert. Statt einem gemeinsamen klärenden Gespräch, zog sich die junge Frau mehr und mehr zurück und bat um die Beendigung des Dienstes. Die Verwirrung und auch der fehlende Mut, ihre konflikthafte Situation offen anzusprechen, führten dazu, dass sie den Dienst vorzeitig beendete. Ihren Berufswunsch verschob die junge Frau zugunsten einer anderen Ausbildung, ohne einer anderen Lösung – die es in diesem Falle gegeben hätte – eine Chance zu geben.

Oftmals bleiben Alternativen und Lösungen aus, das bestimmende Gefühl von Verwirrung bleibt bestehen. Die Sozialpsychologie beschreibt dieses Gefühl als kognitive Dissonanz. Menschen streben prinzipiell danach, sich und ihre Umwelt zu verstehen. Bleibt dieses Verständnis aus, sorgt ein unangenehmes Gefühl von fehlender innerer Balance für Druck. Leon Festinger (2012 [1957]) formuliert dazu folgende Hypothesen:


1. Die Existenz von Dissonanz, die psychologisch unangenehm ist, wird die Person motivieren zu versuchen, die Dissonanz zu reduzieren und Konsonanz herzustellen.
 

2. Wenn Dissonanz besteht, wird die Person, zusätzlich zu dem Versuch, sie zu reduzieren, aktiv Situationen und Informationen vermeiden, die möglicherweise die Dissonanz erhöhen könnten. (Ebd.: 16)

Die Notwendigkeit von Ambiguitätstoleranz

Akzeptiert man nun, dass gesellschaftliche Moderne unweigerlich Widersprüche, Doppel- und Mehrdeutigkeiten produziert, versteht man auch, warum das Gefühl von Dissonanz zum ständigen Begleiter wird und welche Folgen sich daraus ableiten: Echokammern reproduzieren sich aus sich selbst heraus. Entfremdung und Verinselung sind die möglichen Antworten, um der Dissonanz zu entfliehen. Seine Objektivierung findet diese Problematik im steten Wunsch, Verantwortung abzugeben – ein unmündiger Lösungsversuch. Vielleicht schafft es eine fixierte Verwaltungsvorschrift, ein väterlicher Chef, eine einflussreiche Gruppe, eine starke Wirtschaft oder eine alternative Partei, den gefühlten Konflikt für mich zu lösen. Akzeptiert man gleichfalls, dass es keine kurzen Antworten oder keine schnelle Ableitung von mehrdimensionalem Wissen geben kann, weiß man auch, dass sich Dissonanzen nur schwer dauerhaft und vollständig lösen lassen.

Einen möglichen Lösungsansatz formuliert jedoch die Psychoanalytikerin Else Frenkel-Brunswik (1949) mit ihrem generellen Verständnis von Ambiguitätstoleranz. Damit beschreibt sie die Fähigkeit, aus sich selbst heraus mit mehrdeutigen oder widersprüchlichen Sachverhalten umgehen und leben zu können. So liegt in dieser Fähigkeit auch die Anerkennung unterschiedlicher – möglicherweise konflikthafter – Positionen. Ambiguitätstoleranz bildet somit eine zentrale Demokratiekompetenz ab. Damit wird Mündigkeit über das Wesen der Moderne automatisch an diese Fähigkeit gebunden. Wenn also Mündigkeit ein zentrales Bildungsziel der Schule ist, dann ist Schule auch der Ort, an dem junge Menschen und künftige Bürger*innen Ambiguitätstoleranz entwickeln sollen. Tatsächlich übernimmt Ambiguitätstoleranz im fächerübergreifenden Kompetenz-Diskurs eine zentrale Rolle, allerdings meist ohne, dass die Kompetenz-Ansätze aufeinander bezogen werden. Im Diversity- und Intersektionalitäts-Diskurs formuliert Hubertus Schröer (2012) die Vielfaltskompetenz als

Fähigkeit der organisatorischen und individuellen Bewältigung von sich ständig wandelnden Anforderungen und Aufgaben. Elemente dieser Kompetenz sind etwa der Umgang mit Ambivalenz, also mit Uneindeutigkeiten, die Ambiguitätstoleranz, also das Aushalten von Ungewissheit und Fremdheit, die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel und zur Flexibilität, die Einsicht in die Notwendigkeit reflexiven Handelns, das Denken in Zusammenhängen und eine ausgeprägte Analysefähigkeit. Die zu bewältigende Herausforderung ist es dabei, in und trotz dieser Vielfalt seinen Kohärenzsinn zu bewahren, in seinem Leben und Arbeiten weiterhin Sinn zu sehen. (Ebd.: 5)

Damit greift Schroer das Konzept der Ambiguitätstoleranz auf. Semantisch steht dieses Kompetenzverständnis in Korrespondenz zu Kompetenz-Modellen der Berufspädagogik (vgl. Ratschinski 2014), der Gesundheitsförderung (vgl. WHO 1997 [1994]) oder auch zu demokratiebildenden Ansätzen wie der „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ (vgl. Programm Transfer-21 2007). Obwohl der Umgang mit Widersprüchen und Vielfalt eine übergreifende Querschnittskompetenz darstellt, wird die Ambiguitätstoleranz nicht als zentrale Demokratiekompetenz herausgestellt – möglicherweise, weil Schul- und Bildungsforschung zu stark innerhalb ihrer Didaktiken und Disziplinen verankert sind. Analog eines fächerübergreifenden Demokratieverständnisses kann Bildungsforschung im interdisziplinären Austausch mit weiteren Sozialwissenschaften nur an Wissen und Kompetenz gewinnen.

„Konfliktualer Konsens“ als methodisch-didaktischer Ansatz der Schule

Die Frage liegt nun darin, wie Schule als Machtbehälter Konflikthaftigkeit abbildet bzw. gestaltet, um darüber Ambiguität erfahrbar zu machen – quasi als Grundvoraussetzung für Ambiguitätstoleranz. Die Autorengruppe Fachdidaktik (2016) zeichnet die Kontroverse als Grundvoraussetzungen des sozialwissenschaftlichen Unterrichtes. Doch ist Ambiguität und der Umgang mit ihr weit mehr als ein Konzept der Demokratiedidaktik. Sie ist ein Wesensmerkmal jeder Beziehung und greift darüber in allen übrigen Didaktiken sowie ganzheitlich in der Schulkultur und in der Interaktion zwischen Schule und Gemeinwesen.

Dieses Verständnis findet sich auch in der Demokratietheorie von Chantal Mouffe wieder. Ohne dass die Politikwissenschaftlerin dabei konkret auf die Mesoebene der Schule eingeht, beschreibt sie Moderne über einen gesellschaftlichen Pluralismus. Mouffes Demokratieverständnis wird über einen unauslöslichen Wertepluralismus gekennzeichnet, welcher an die Akzeptanz abweichender, fremder Standpunkte gebunden ist. Dieses agonistische Spannungsverhältnis zwischen Gegner_innen formiert den Wesenskern der Demokratie. Die Forderung eines unipolaren Konsenses trägt die Gefahr einer gesellschaftlichen Spaltung in sich. Trotz dieser Grundposition erkennt auch Chantal Mouffe die Notwendigkeit eines Konsenses an. Dieser orientiert sich am gemeinsamen Verständnis der Menschenrechte. Mouffe bezeichnet diesen Konsens als konfliktualen Konsens: „einen Konsens über die ethisch-politischen Werte der Freiheit und der Gleichheit aller, einen Dissens aber über die Interpretation dieser Werte“ (Mouffe 2016: 158).

An diese Gedanken schließt die Sozialwissenschaftlerin Susanne-Verena Schwarz im Kontext der politischen Bildung an und leitet daraus eine „agonistischeDemokratiepädagogik (Schwarz 2017: 219) für die Schule ab. Dies bedeutet für schulische Realitäten die bewusste Öffnung für Konflikthaftigkeit als Lerngegenstand. Zur Steuerung dieser Konflikthaftigkeit kann der konfliktuale Konsens in Bildungsprozessen als methodisch-didaktischer Operator zum Einsatz kommen, damit verwirrende Situationen – wie sie im Freiwilligendienst beispielweise auftreten können – ausgehalten und möglicherweise auch gelöst werden können. Wenn es Schule schafft, gesellschaftliche Vielfalt wirklich erfahrbar zu machen, bereitet sie die Basis für Mündigkeit und Ambiguitätstoleranz. Um die dafür notwendigen Weichen zu stellen, gilt es, strukturelle Hürden zu benennen: Raum und Zeit für Schule als gesellschaftliches Teilsystem, um wiederholt engagiert Kritik zu formulieren. Gelingt dies und wird diese Kritik in eine (bildungs-)politische Kontroverse überführt, stärkt jene „Gegnerschaft“ zwischen Theorie und Praxis den gesellschaftlichen Zusammenhalt über bildungspolitische Kontexte hinaus.

Lösungsansätze für die schulische Praxis

Da Konflikthaftigkeit ein Merkmal des sozialen Raums abbildet – über Figurationen und Interdependenzbeziehungen – liegt es nahe, Lernen in der Schule an den Sozialraum anzubinden. Möglichkeiten dafür liegen im außerschulischen Unterricht, in Kooperationen mit dem Gemeinwesen oder aber in der Kopplung verschiedener Raum-Ebenen. Was für die Sozialarbeitswissenschaft eine Form ihres Selbstverständnisses abbildet, ist für die schulische Unterrichtspraxis noch eine Seltenheit: Aneignung von sozialem Raum (vgl. Deinet 2014, Kessl/Reutlinger 2010). Der Sozialraum in seiner relationalen Raumstruktur schafft es, über den begleitenden Reflexionsprozess die Erfahrung in einen informellen Lernprozess zu überführen. In demokratiebildenden Lernformen wie Projektunterricht liegen dabei Chancen, Lerninhalte an den informellen Prozess zu koppeln. Als Lehr-Methode bietet sich die Debatte an: Ein breiter und differenziert geführter Diskurs bildet die Grundlage einer agonistischen Demokratiepädagogik. In ihren Betrachtungen zur Kunst als agonistische Interventionen beschreibt Chantal Mouffe (2016 [2014]: 133-160) bereits die methodisch-didaktischen Ansätze einer agonistischen Bildung, ohne dabei direkt auf Schule und Unterricht zu referieren.

Ein breites Bewusstsein für Sozialraum als Lernsetting und -community bietet Möglichkeiten, Fachdidaktiken wie „Deutsch“, „Informatik“ oder „Kunst“ als Formen der politischen Bildung zu denken, existiert doch der soziale Raum auch auf einer digitalen, fiktionalen und imaginären Ebene (Kiehl o.J.). Diese Ebenen werden über Interaktionsprozesse miteinander verschränkt und spiegeln Lebenswelt und Gesellschaft auf der jeweiligen Ebene spezifisch wider. Speziell im fiktionalen Raum der Literatur sowie im imaginären Raum der Kunst liegen Zugänge, um Mündigkeit und den Umgang mit Widersprüchen zu üben. Im reflektierenden Prozess der Kunst- und Literaturvermittlung können – anders als im analogen Sozialraum – gesellschaftliche Phänomene jenseits eines etablierten Diskurses diskutiert werden. Es greifen Prinzipien der Dekonstruktion (vgl. Derrida 1975, Wimmer 2016 [2006]), worüber Konflikte in ihrer Figuration offenbart werden können, Vorurteile ihre Zuschreibung verlieren und verschiedenste Positionen eine Daseinsberechtigung erfahren. Dekonstruktions-Prinzipien nutzen die „Erfahrung des Paradoxen und Unentscheidbaren als“ eine „‚ethischen Erfahrung‘, denn in der Spannung des Paradoxen, in der Situation der Unentscheidbarkeit, ist es möglich, die Antwort des Anderen zu hören.“ (Wimmer 2016 [2006]: 332) Damit schaffen Prozesse der Kunst- und Literaturvermittlung, die nicht nur in ihren jeweiligen Didaktiken greifen müssen, einen Raum der politischen Bildung, indem sie Möglichkeiten bieten, mit Widersprüchen und Konflikten umzugehen.

 

Literatur

Allmendinger, Jutta (2012): Schulaufgaben. Wie wir das Bildungssystem verändern müssen, um unseren Kindern gerecht zu werden. Pantheon Verlag: München.

Autorengruppe Fachdidaktik (2016): Was ist gute politische Bildung? Leitfaden für den sozialwissenschaftlichen Unterricht. Wochenschau Verlag: Schwalbach/Ts.

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