Chancen und Grenzen historisch-politischer Bildungsarbeit in der Auseinandersetzung mit Antisemitismus

Wie kann historisch-politische Bildung zur Geschichte des Nationalsozialismus und Holocaust antisemitischen Einstellungen wirksam begegnen? Solides historisches Wissen reicht allein für die Auseinandersetzung mit Antisemitismus in seinen aktuellen Erscheinungsformen nicht aus. Moralisierender und bloß belehrender Unterricht ebenso wenig. Der Beitrag plädiert für multiperspektivische Herangehensweisen, die einer eindimensionalen Sicht entgegenwirken. Die jüdische Geschichte ist mehr als eine Verfolgungsgeschichte. Es gibt zahlreiche Beispiele einer friedlichen Koexistenz von Jüdinnen*Juden und Nichtjüdinnen*juden, die es auch im Unterricht darzustellen gilt. Zudem darf sich außerschulische und schulische Bildungsarbeit nicht darauf beschränken, nur die jüdische Opferrolle zu thematisieren. Eine multiperspektivische Herangehensweise an die Geschichte des Holocaust verlangt auch die Beschäftigung mit Täter*innen, Helfer*innen und Zuschauer*innen.

Ziele historisch-politischer Bildungsarbeit1

Im Anne Frank Zentrum erleben wir immer wieder, dass Lehrkräfte ihren Besuch in unserer ständigen Ausstellung2 damit begründen, auf antisemitische Vorfälle an ihrer Schule reagieren zu wollen. Der Besuch wird mit der Erwartung verknüpft, dass die Auseinandersetzung mit dem Holocaust Jugendliche gegen Antisemitismus und Rassismus „immunisiert“ und Empathie für ehemals verfolgte Gruppen und heutige gesellschaftliche Minderheiten weckt.

Fragt man Lehrkräfte nach den Lernzielen, die ihnen bei der Vermittlung der Geschichte des Nationalsozialismus und Holocaust besonders wichtig sind, erhält man u. a. folgende Antworten:

- Wissen über historische Ereignisse vermitteln; 

- zeigen, welche gesellschaftlichen und politischen Bedingungen den Holocaust möglich machten;

- die Rollen von Einzelnen als Opfer, Täter*innen, Zuschauer*innen oder Helfer*innen aufzeigen;

- Demokratie wertschätzen und stärken;

- Kontinuitäten in antisemitischen, rassistischen oder anderen menschenverachtenden Ideologien aufzeigen;

- Entsetzen und Betroffenheit erzeugen;

- das Nachdenken über die Gegenwart fördern;

- auf antisemitische Einstellungen bei den Zielgruppen einwirken.

Bereits diese Auswahl zeigt: Pädagog*innen wollen, wenn sie zu den Themen Nationalsozialismus und Holocaust arbeiten, in der Regel mehr, als „nur“ Wissen vermitteln. Oft sind die Ziele der Geschichtsvermittlung mit dem Wunsch nach Einstellungsveränderungen oder mit moralischen und ethischen Fragestellungen verbunden.

Zugleich, und unabhängig von diesen anspruchsvollen pädagogischen Zielsetzungen, gibt es in der Fachöffentlichkeit schon länger einen Diskurs darüber, ob und wie die Auseinandersetzung mit dem Holocaust wirksam gegen aktuelle Erscheinungsformen des Antisemitismus sein kann – oder dem sogar entgegenwirken kann. Darauf möchte ich in Folge kurz eingehen.

Fallstricke der historisch-politischen Bildungsarbeit

Sowohl in der Wissenschaft als auch in der Bildungspraxis gibt es berechtigte Zweifel am unmittelbaren Erfolg historisch-politischer Bildung in der Auseinandersetzung mit aktuellen antisemitischen Einstellungen oder gar Taten. Schon der erste vom Bundesministerium des Inneren einberufene unabhängige Expertenkreis Antisemitismus fasst dies folgendermaßen zusammen: In Hinblick auf die schulische Praxis gilt zu bedenken, dass „[die] Schulausbildung bei der Tradierung antisemitischer Stereotype in mehrfacher Hinsicht eine Rolle spielen [kann]“. Untersuchungen der Schulbuchforschung haben aufgezeigt, wie durch die einseitige Hervorhebung der jüdischen Opferrolle in Unterrichtswerken antisemitische Stereotype tradiert werden. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus und Holocaust vermittelt oftmals recht homogene Vorstellungen von „den Deutschen“ und „den Juden“ und verstärkt die Wahrnehmung von Jüdinnen*Juden als „anders“, nicht zugehörig. Ein weiterer Kritikpunkt des Expertenkreises ist die Beobachtung, dass im Zuge der Behandlung des Holocaust häufig überzogene moralische Erwartungen an die Schüler*innen gestellt werden. Diese können bei den Betroffenen Frustrationen bewirken und in einen typischen „Schuldabwehr“-Antisemitismus münden.

Die unreflektierte Nutzung von NS-Propagandamaterial im Geschichtsunterricht kann dazu führen, dass sich bestimmte rassistisch-antisemitische Bilder erst in den Köpfen der Schüler*innen festsetzen. Hieran zeigen sich die Herausforderungen der historisch-politischen Bildung in der Vermittlung eines multiperspektivischen Bilds der Geschichte des NS und Holocaust.

Die Verbindung von Geschichte und Gegenwart aus fachdidaktischer Perspektive

Historisches Lernen ist aus Sicht der Geschichtsdidaktik mehr als reine Wissensvermittlung. Die in vielen Rahmenlehrplänen mittlerweile als zentrale Kompetenz verankerte Narrativität soll Schüler*innen zum selbstständigen historischen Denken und Urteilen, zur Deutung von Zusammenhängen, aber auch zu Folgerungen für die Gegenwart und Zukunft befähigen. Die „Urteils- und Orientierungskompetenz“, wie sie z. B. im Rahmenlehrplan der gymnasialen Oberstufe (Sekundarstufe II) Berlin/Brandenburg gefordert wird, besagt, dass Schüler*innen dazu befähigt werden sollen, Geschichte zur reflektierten und vernunftgeleiteten Werte- und Urteilsbildung, zur Identitätsbildung und zum sinnvollen Tun nutzen zu können. Historisches Lernen hat im Idealfall also Einfluss auf aktuelle Einstellungen und Haltungen – so auch auf antisemitische Einstellungen und deren Beurteilung aus der Geschichte für die Gegenwart und Zukunft (Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport 2006). Politikdidaktische Vorgaben bestätigen diese Zielsetzung. Im Rahmenlehrplan des Landes Nordrhein-Westfalen für das Unterrichtsfach Politik ist unter der Zielsetzung „Politische Urteilskompetenz“ Folgendes konkretisiert: Schüler*innen sollen sich ihre „eigenen Voreinstellungen zu Politik auf verschiedenen Ebenen – von aktuellen Themen bis zum eigenen Menschenbild – bewusst machen können und bereit sein, sie in der Auseinandersetzung mit anderen Sichtweisen und neuem Wissen kritisch zu prüfen und zu verändern“. In Hinblick auf die politische Handlungskompetenz ist u. a. als Ziel beschrieben, die eigenen politischen Meinungen und Urteile sachlich vertreten zu können. Wesentlich gehört zu dieser Kompetenz, „sich mit antidemokratischen Denkmustern und mit autoritaristischen Argumentationen kritisch auseinander[zu]setzen und auf sie angemessen reagieren [zu] können“ (Ministerium für Schule, Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen 2001: 17f.).

Empfehlungen für die antisemitismuskritische historisch-politische Bildungsarbeit

Eigene Erwartungen reflektieren und zurückschrauben

Historisch-politische Bildungsanstrengungen müssen nicht immer die passende Antwort auf eine antisemitische Äußerung oder Tat sein. Wenn „Du Jude“ als Schimpfwort auf dem Schulhof fällt, ist der Besuch der nächstgelegenen KZ-Gedenkstätte nicht zwangsläufig die pädagogisch sinnvollste Reaktion. Aus der Perspektive der Vermittler*innen geht es darum, sich die Ziele der Geschichtsvermittlung bewusst zu machen und diese sowie die eigenen Haltungen und Erwartungen kritisch zu reflektieren. Dazu zählt auch, eine Balance zu finden zwischen Konzepten reiner Wissensorientierung und einer eher gleichgültigen Haltung, alle Meinungen – auch die auf Unwissen oder moralisch unakzeptablen Einstellungen basierenden – unkommentiert im Raum stehen zu lassen. Geschichts- und Politikdidaktik betonen, dass die Lernenden zum eigenen Urteil befähigt werden sollen.

Jüdische Geschichte – mehr als eine Verfolgungsgeschichte

Ein immer wieder geäußerter Kritikpunkt, der sich an die historisch-politische Bildung wendet, lautet: Sie trage dazu bei, die jüdische Geschichte in Deutschland und Europa auf ihre Verfolgungs- und Vernichtungsgeschichte zu reduzieren. Auch die bereits zitierte unabhängige Expertenkommission sieht hier einen wesentlichen Grund dafür, dass Jüdinnen*Juden vorwiegend als Objekte, Verfolgte und Opfer präsentiert werden.

Das Leo Baeck Institut, das die Geschichte und Kultur der deutschsprachigen Juden erforscht und dokumentiert, hat bereits 2011 eine immer noch aktuelle Orientierungshilfe herausgegeben, die Pädagog*innen dabei unterstützen soll, diese einseitige Wahrnehmung zu reflektieren und zu verändern. Die Autor*innen empfehlen, Jüdinnen*Juden als „aktive Bürger und kreative Gestalter“ zu präsentieren und – jenseits der Auseinandersetzung mit dem Holocaust – und die Geschichte des friedlichen und kooperativen Zusammenlebens von Juden und Nicht-Juden in Deutschland und Europa zu vermitteln. Das betrifft auch die Zeit nach 1945. Die deutsch-jüdische Geschichte endet nicht mit dem Holocaust. Gerade nach der Zuwanderung von Jüdinnen*Juden aus der ehemaligen Sowjetunion nach 1990 gibt es Beispiele jüdischen Lebens in Deutschland, die in der schulischen Auseinandersetzung mit dem Judentum viel zu wenig Beachtung finden (Leo Baeck Institut 2011: V–VII).

Was bedeuten die Empfehlungen des Leo Baeck Instituts in Hinblick auf die Beschäftigung mit Nationalsozialismus und Holocaust? Auch hier plädieren die Autor*innen für einen Perspektivwechsel. Antisemitismus und die Verfolgung von Jüdinnen*Juden sind Kern der nationalsozialistischen Verfolgungspolitik. Doch die Geschichte des Nationalsozialismus und Holocaust sollte so vermittelt werden, dass Jüdinnen*Juden nicht ausschließlich als Opfer präsentiert werden. Es gibt viele Beispiele für Formen der jüdischen Selbsthilfe und Selbstbehauptung, z. B. die 1933 gegründete Reichsvertretung der deutschen Juden, der während der NS-Zeit aktive Kulturbund Deutscher Juden oder das Zionistische Jugendwerk. Außerdem gab es Formen des Widerstands von jüdischer Seite – sei es persönlich, sei es organisiert. Dazu zählen einerseits Flucht und Emigration, das Untertauchen in die Illegalität oder das Annehmen von falschen Identitäten, andererseits auch der bewaffnete Kampf bei den Partisanen, in der britischen oder amerikanischen Armee sowie die in mehreren Gettos erfolgten Aufstände verzweifelter jüdischer Einwohner*innen.

Das Anne Frank Zentrum versucht, diese Forderung in seinen Ausstellungen und Bildungsangeboten für die Zielgruppe Jugendliche umzusetzen. Neben der Emigration und dem späteren Untertauchen gibt es kleine alltägliche Beispiele der Selbstbehauptung. Als es für Anne Frank verboten war, Kinos zu besuchen, organisierte sie mithilfe ihres Vaters zu Hause Kinoabende für ihre jüdischen und nichtjüdischen Freundinnen und Freunde. Und als ihre Schwester Margot aus allen Sportvereinen ausgeschlossen wurde, gründete sie ihren eigenen Tischtennisklub.

Handlungsspielräume und Multiperspektivität

Multiperspektivität ist eine zentrale Kategorie der Geschichtsdidaktik. Um die gesellschaftliche Dimension des Holocaust annähernd verstehen zu können, ist die Beschäftigung mit den Opfern, Täter*innen, Zuschauer*innen und Helfer*innen zentral. Dabei ist es wichtig, zu zeigen, dass diese Rollen innerhalb einer Lebensgeschichte wechseln können – abhängig von Entscheidungen, die jede*r Einzelne für sich trifft. Die Thematisierung von Handlungsspielräumen im Kontext dieser Rollen ist ein wichtiger Bestandteil vieler Angebote der historisch-politischen Bildungsarbeit und eine Möglichkeit des Transfers in die Gegenwart. Handlungsspielräume sind abhängig von gesellschaftlichen und politischen Machtverhältnissen, damals wie heute. In der Dauerausstellung „Alles über Anne“ beschreibt das Anne Frank Zentrum anhand von Selbstzeugnissen die systematische Entrechtung und Verfolgung von Anne Frank und ihrer Familie. Damit geben wir den Opfern eine Stimme und versuchen zumindest annähernd zu vermitteln, welche Folgen Ausgrenzung, Entrechtung und schließlich die zum Völkermord radikalisierte Verfolgung für die Opfer hatte. Gleichzeitig thematisiert die Ausstellung auch die Rolle der Zuschauer*innen, Helfer*innen und Täter*innen. So widmet sich ein großer Teil der Ausstellung der unterschiedlichen Rollen und Zuständigkeiten, die die Helfer*innen der Familie Frank während der Versteck-Zeit in Amsterdam hatten – von Miep Gies, die die Versteckten mit Lebensmitteln versorgte, bis hin zu Viktor Kugler, der dafür sorgte, dass die Geschäfte der Firma weiterliefen und somit die Zeit im Versteck auch finanziell zu bewältigen war. Aber auch die Täter*innen, die etwa für die Verhaftung und Deportation der Familie verantwortlich waren, werden in der Ausstellung gezeigt.

Über die Thematisierung von Handlungsspielräumen gelingt der Transfer in die Gegenwart. Die systematische Entrechtung und Ausgrenzung der verfolgten Jüdinnen*Juden brachte mit sich, dass die Handlungsspielräume während der NS-Zeit immer geringer wurden. Die Auseinandersetzung mit Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen damals und heute zeigt, wie viel einfacher es ist, sich heute gegen Antisemitismus und Rassismus zu wehren und zu engagieren. Aktuelle Beispiele von Antisemitismus, die das Anne Frank Zentrum in Kooperation mit der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (RIAS)4 in seiner Ausstellung präsentiert, zeigen: Es gibt einerseits Kontinuitäten antisemitischer Feindbilder und daraus resultierender Taten, andererseits aber einen fundamentalen Unterschied in den gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen, die sich unmittelbar auf Handlungsspielräume auswirken. Eine multiperspektivische Auseinandersetzung mit der Geschichte bedeutet aber auch, die Vielfalt jüdischer Identitäten und Selbstverständnisse in den Blick zu nehmen und zum Thema zu machen. Dazu zählt auch die Infragestellung stereotyper Vorstellungen, konventioneller Deutungen und gängiger Geschichtsnarrative. In den pädagogischen Angeboten vieler NS-Gedenkstätten und -Erinnerungsorte gehört es mittlerweile zum festen Programm, sich auch mit der Konzeption und dem Aufbau einer Ausstellung wie auch erinnerungspolitischen Fragen und Auseinandersetzungen zu beschäftigen, die diese Erinnerungsorte geprägt haben. Schüler*innen sollen sich mit Auswahl-Prozessen beschäftigen und kritisch reflektieren, wie Geschichtsnarrative entstehen.

Perspektiverweiterung und inklusives Geschichtslernen

In der außerschulischen Bildungsarbeit wird Multiperspektivität zunehmend nicht nur mit Blick auf den historischen Gegenstand, sondern auch in Hinblick auf die Zielgruppen verstanden. Im Sinne eines inklusiven Ansatzes geht es darum, die Heterogenität von Jugendlichen wahrzunehmen und daran anschließend Angebote zu schaffen, die alle Jugendliche in ihrer Vielfältigkeit und ihren Bedürfnissen einbeziehen. Die Erfahrungen aus dem Bereich Schule machen deutlich, dass jüdische Schüler*innen oft unsichtbar sind bzw. die Annahme besteht, dass diese nicht im Klassenraum präsent sind. Auf der anderen Seite nehmen Jugendliche, die von Diskriminierung betroffen sind oder sich gegen diese engagieren wollen, Antisemitismus nur als eine von vielen Diskriminierungsformen wahr. Sie erleben in ihrem Alltag auch Rassismus, Islamfeindschaft oder Homophobie. Auch diese Ideologien der Ungleichwertigkeit haben eine Geschichte. Oft kommt diese im regulären Unterricht aber nicht vor. Daraus entstehen, ob berechtigt oder nicht, Opferkonkurrenzen und die Wahrnehmung, es würde „immer nur um die Juden“ gehen.

Eine möglichst inklusive Geschichtsvermittlung sollte den Raum eröffnen, eigene Erfahrungen von Diskriminierung, Antisemitismus oder Rassismus in der Gegenwart zu thematisieren und zu bearbeiten. Dazu gehört auch, sich mit den Verfolgungsgeschichten der diskriminierten und marginalisierten Gruppen zu beschäftigen. In den vergangenen Jahren sind sowohl in der schulischen als auch in der außerschulischen Bildungsarbeit Anstrengungen unternommen worden, die Geschichte „vergessener Opfer“ des Nationalsozialismus zu erzählen. Dazu zählen lokale Projekte zur Erinnerung an die ermordeten Sinti und Roma, Ausstellungen zu Opfern der Euthanasie-Aktionen oder pädagogische Materialien, die anhand von Lebensgeschichten einen multiperspektivischen Zugang zur NS-Geschichte fördern.

Mit Blick auf die nationalsozialistische Judenverfolgung ist aber auch eine räumliche Perspektiverweiterung wichtig und sinnvoll. Der Blick auf Deutschland (und vielleicht noch auf Auschwitz) reicht nicht aus, um den Holocaust in seiner europäischen Dimension zu verstehen. Jüdinnen*Juden wurden in ganz Europa entrechtet und verfolgt. Dies geschah oft in Zusammenarbeit mit kollaborierenden Verwaltungen und Polizeibeamt*innen in den besetzten Gebieten. Ohne die deutsche Verantwortung zu relativieren, ist es wichtig, das Geschehene in einem größeren europäischen Zusammenhang zu sehen und zu verstehen. Dies setzt genaue Kenntnisse voraus.

Lebensweltorientierung über Biografien und Lokalgeschichte

Lebensweltorientierung, in der Geschichtsdidaktik auch „Daseinsorientierung“ genannt, hat in der außerschulischen Bildungsarbeit oft einen motivationalen Aspekt. Jugendliche sollen für Geschichte interessiert werden, indem ihnen deutlich wird, welche Bezüge Geschichte zu ihrem eigenen Leben hat. Die Geschichtsdidaktik nennt dies „Orientierungskompetenz“. Das biografische Lernen bietet hier besondere Chancen. „Das Tagebuch der Anne Frank“ ist beispielsweise nicht nur eine wichtige Quelle zur Auseinandersetzung mit der Geschichte des Holocaust, sondern auch das Selbstzeugnis eines pubertierenden Mädchens, das über Identität, Religion, Familie, erste Liebe oder Zukunftsträume schreibt. Hier ergeben sich zahlreiche Anknüpfungspunkte für Jugendliche, die ein empathisches Verstehen der Geschichte des Holocaust fördern.

Lebensweltorientierung kann auch über lokalgeschichtliche Ansätze erfolgen. Das Leo Baeck Institut empfiehlt bei der Auseinandersetzung mit der deutsch-jüdischen Geschichte örtliche Spurensuchen, die Beschäftigung mit lokalen Denkmälern oder Geschichtsprojekte zu verfolgten Schüler*innen der eigenen Schule. Damit kann nicht nur das Interesse von Jugendlichen geweckt werden. Vielmehr nimmt die als abstrakt und fern wahrgenommene Geschichte konkrete Bedeutung an. Ähnlich verhält es sich bei der Arbeit mit biografischen Quellen. Das Anne Frank Zentrum hat Unterrichtsmaterialien für verschiedene Zielgruppen entwickelt, welche diesen Anforderungen gerecht werden. Für 4. bis 6. Klassen entstand beispielsweise das Material „Nicht in die Schultüte gelegt. Schicksale jüdischer Kinder 1933 bis 1942 in Berlin“ (Anne Frank Zentrum 2010). Das Material basiert auf Kindheitsgeschichten und historischen Fotos aus den 1930er Jahren von (ehemaligen) Berliner Jüdinnen*Juden. Es thematisiert die schleichende Ausgrenzung bis hin zur völligen Entrechtung, erzwungenen Ausreise oder gar Ermordung. Die historischen Beispiele von Diskriminierung und Verlust werden zu den entsprechenden Artikeln der UN-Kinderrechtskonvention in Beziehung gesetzt, um einen Gegenwartsbezug herzustellen.

Einen Schritt weiter geht die Handreichung „Umgang mit Antisemitismus in der Grundschule“ (Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie des Landes Berlin 2020). Sie verbindet konkret Ansätze der historisch-politischen und antisemitismuskritischen Bildungsarbeit und thematisiert dabei die Vielfalt jüdischer Lebensweisen in der Gegenwart. In drei Kapiteln gibt die Handreichung konkrete Vorschläge und Hinweise zur Beschäftigung mit dem Alltag von Jüdinnen*Juden in Berlin, zur Auseinandersetzung mit antisemitischen Vorurteilen und zur Thematisierung des Holocaust für Kinder im Alter zwischen 9 und 12. Für ältere Zielgruppen entstand das Material „7 Wege. Jüdische Biografien in Hamburg“ (Anne Frank Zentrum et al. 20195). Die Biografien von sieben jüdischen Menschen in Hamburg erzählen von Selbstbehauptung, von Engagement, von Auseinandersetzung mit sich, der eigenen Religion und Identität. Sie erzählen von vielen verschiedenen Bezügen zum Judentum und zeigen die Vielfalt jüdischen Alltags in Deutschland. Die Verfolgung und Vernichtung im Holocaust sowie aktueller Antisemitismus bilden wichtige Bezugspunkte, ohne die Protagonist*innen als anonyme Opfer darzustellen. Vielmehr stehen die individuellen Umgangsweisen und Strategien, aber auch Verletzungen und Verluste im Vordergrund.

Fazit

Historisch-politische Bildungsarbeit zum Nationalsozialismus und Holocaust kann einen wichtigen Beitrag zur Auseinandersetzung mit und zur Prävention von Antisemitismus leisten. Allerdings gilt es, die eigenen Lernziele immer wieder (selbst-)kritisch zu prüfen und die pädagogische Praxis gewisser Qualitätskriterien zu unterziehen. Wenn historisch-politische Bildungsarbeit zum Nationalsozialismus und Holocaust im Sinne einer antisemitismuskritischen Bildungsarbeit erfolgreich sein will, ist es wichtig, Jüdinnen*Juden nicht nur als Opfer darzustellen, multiperspektivische Zugänge zur Geschichte zu ermöglichen, Handlungsspielräume in Geschichte und Gegenwart zu thematisieren, Bildungsprojekte lokalgeschichtlich anzubinden, sie biografisch mit der Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen zu verbinden und die Bildungsarbeit so inklusiv zu gestalten, dass sie für alle zugänglich ist. Wenn sich Lehrkräfte und Pädagog*innen diesen Herausforderungen kritisch stellen, bietet die historisch-politische Bildungsarbeit mehr Chancen als Grenzen in der Auseinandersetzung mit aktuellem Antisemitismus.

 

1 Dieser Artikel erschien 2013 in einer ausführlicheren Fassung in: Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg [Hrsg.]: Der Bürger im Staat, 4–2013: Antisemitismus heute, S. 296–302. Der Beitrag wurde für diese Publikation aktualisiert und gekürzt.

2 Das Anne Frank Zentrum zeigt in seinen Räumen in Berlin die ständige Ausstellung „Alles über Anne“. Zur Ausstellung wird eine Vielzahl pädagogischer Programme angeboten.

3 Der sogenannte „Schuldabwehr-Antisemitismus“ ist eine Form des sekundären Antisemitismus. Der zweite unabhängige Expertenkreis Antisemitismus beschreibt das Phänomen in seinem Bericht folgendermaßen: „Zentrale Grundlage des sekundären Antisemitismus ist die Unterstellung, dass die öffentliche Auseinandersetzung mit der massenhaften Ermordung der Juden im Nationalsozialismus nur der Diffamierung der nationalen Identität der Deutschen, der Gewährung von Wiedergutmachungszahlungen an Israel und der Legitimation der israelischen Politik im Nahen Osten diene. Es geht also um eine Form der Judenfeindschaft ‚nach Auschwitz‘, die auch als ‚Schuldabwehr-Antisemitismus‘ bezeichnet wird und häufig mit einer Täter-Opfer-Umkehr einhergeht.“ (Bundesministerium des Innern 2018: 27).

4

Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin ist eine zivilgesellschaftliche Monitoringeinrichtung für antisemitische Vorfälle in Berlin: report-antisemitism.de.

5

Das Material erschien im Eigenverlag und kann im Onlineshop des Anne Frank Zentrums bestellt werden: www.annefrank.de/nc/onlineshop/.

 

 

 

Literatur

Anne Frank Zentrum (2010) [Hrsg.]: Nicht in die Schultüte gelegt – Schicksale jüdischer Kinder 1933–1942 in Berlin. Ein Lernmaterial zu historischem Lernen und Kinderrechten. Metropol Verlag: Berlin.
Anne Frank Zentrum/Türkische Gemeinde Hamburg und Umgebung (2019) [Hrsg.]: 7 Wege. Jüdische Biografien in Hamburg. Hamburg/Berlin.
Bundesministerium des Innern (2018) [Hrsg.]: Antisemitismus in Deutschland – aktuelle Entwicklungen, 2. überarbeitete Auflage, Berlin.
Leo Baeck Institut (2011): Deutsch-jüdische Geschichte im Unterricht. Berlin: S. V–VII.

Ministerium für Schule, Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen (2001): Rahmenvorgabe Politische Bildung. Online: www.berufsbildung.nrw.de/cms/upload/_lehrplaene/a/uebergreifende_richtlinien/politische_bildung_500.pdf [05.07.2020].


Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie des Landes Berlin (2020) [Hrsg.]: Umgang mit Antisemitismus in der Grundschule. Berlin.
Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport (2006): Rahmenlehrplan für die gymnasiale Oberstufe Geschichte. Online: mdb-sen-bildung-unterricht-lehrplaene-sek2_geschichte-1.pdf [05.07.2020].