Niedergang des Eigenen, Invasion der Fremden. Zum Verhältnis von Rassismus und Rechtspopulismus

In der sozialwissenschaftlichen Debatte um den Rechtspopulismus spielt Rassismus bisher eine untergeordnete Rolle. Dagegen möchte der folgende Beitrag zeigen, dass Rassismus im Zentrum des rechtspopulistischen Weltbildes steht. Zwei Ausprägungen des Rassismus lassen sich unterscheiden, die am Beispiel der Alternative für Deutschland untersucht werden. Der liberale Rassismus schreibt Fremdgruppen zu, den Normen einer modernen Gesellschaft nicht entsprechen zu können. Das Eigene wird als fortschrittlich und aufgeklärt beschrieben, die Fremden gelten, etwa aufgrund ihrer Religion, als rückständige Gemeinschaft. Im völkischen Rassismus hingegen wird ein Niedergang des Eigenen diagnostiziert, für den insbesondere „globalistische Eliten“ verantwortlich gemacht werden. Abschließend wird argumentiert, dass sich das widersprüchliche Verhältnis von liberalem und völkischem Rassismus verstehen lässt, wenn beide als Momente einer konformistischen Krisenverarbeitung interpretiert werden.

In der sozialwissenschaftlichen Debatte um den Aufstieg des Rechtspopulismus dominieren drei Erklärungsmuster: Ökonomische Ansätze gehen davon aus, dass der Rechtspopulismus eine Reaktion auf die Globalisierung und damit einhergehende Abstiegs- und Prekarisierungstendenzen darstellt (Dörre 2018; Manow 2018; Nachtwey 2016). Politische Ansätze sehen in ihm das Symptom einer zunehmenden Entfremdung zwischen Bürger*innen und politischer Klasse (Crouch 2016; Jörke/Selk 2018; Mouffe 2018). Für kulturelle Ansätze stellt der Rechtspopulismus hingegen eine Gegenbewegung zur kulturellen Dominanz kosmopolitischer Milieus dar (Goodhart 2017; Inglehart/Norris 2016; Merkel 2017; Reckwitz 2017).

Erstaunlich ist, dass Rassismus in allen drei Erklärungsmustern keine große Rolle spielt. Dabei dürfte unstrittig sein, dass Ressentiments gegen Migrant*innen, Muslim*innen und Minderheiten in der Programmatik rechtspopulistischer Parteien viel Raum einnehmen. Auch bei den Wähler*innen rechtspopulistischer Parteien sind ablehnende Einstellungen gegenüber Migrant*innen und Muslim*innen überdurchschnittlich verbreitet (für die AfD vgl. Hilmer et al. 2017; Schröder 2018). Diese Befunde werden in den meisten Analysen jedoch nicht mit Rassismus in Verbindung gebracht. Stattdessen wird die Ablehnung von Migration etwa auf die Angst vor kulturellem Identitätsverlust zurückgeführt (vgl. Goodhart 2017: 117–146). Ökonomische Ansätze behaupten, Migrant*innen würden als Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt oder als illegitime Nutznießer wohlfahrtsstaatlicher Leistungen wahrgenommen (vgl. Manow 2018). Bei den wenigen Autor*innen, die den Rassismus ansprechen, erscheint er häufig als Ausdruck andersartiger Motive und Ursachen. Die Politologin Chantal Mouffe vertritt etwa die Ansicht, dass „Forderungen nach mehr Demokratie […] auch in einem fremdenfeindlichen Vokabular artikuliert werden“ können (Mouffe 2018: 76). Für Klaus Dörre beruht der Rassismus auf der Umdeutung von Verteilungskonflikten. Er besitze daher einen „rationalen klassenpolitischen Kern“ (Dörre 2018: 16).

Rassismus kommt in der deutschsprachigen Populismusdebatte also entweder gar nicht vor oder erscheint als ein Oberflächenphänomen, während die wesentlichen Ursachen und Motive des Rechtspopulismus politischer, ökonomischer oder kultureller Natur sein sollen (kritisch Dowling et al. 2017). Dagegen möchte ich in diesem Beitrag zeigen, dass Rassismus ein eigenständiges Element des Rechtspopulismus darstellt. Mehr noch: Rassismus muss als übergreifendes Strukturprinzip verstanden werden, das alle Elemente des rechtspopulistischen Weltbildes verbindet.
Ich werde in drei Schritten vorgehen: Zunächst möchte ich einige verbreitete Annahmen über Rassismus problematisieren, um daraus Leitlinien für ein adäquates Rassismusverständnis zu entwickeln (1.). Anschließend untersuche ich den rassistischen Kern rechtspopulistischer Fremd- und Selbstbilder am Beispiel der Alternative für Deutschland (2) und schlage eine soziologische Interpretation vor (3).

Zum Begriff des Rassismus

Dass das Thema Rassismus in der Debatte um den Rechtspopulismus so wenig präsent ist, dürfte u. a. anderem damit zusammenhängen, dass die Rassismusforschung innerhalb der deutschsprachigen Sozialwissenschaften ein randständiges Dasein fristet. Es kursieren eine Reihe von Definitionen und Annahmen, die einem adäquaten Verständnis von Rassismus entgegenstehen. Ich beschränke mich im Folgenden darauf, drei begriffliche Verengungen zu problematisieren, die weit verbreitet sind.
Die erste Verengung besteht darin, Rassismus als Vorurteil zu begreifen, also als eine Anzahl stereotyper, abwertender Einstellungen, die ein Individuum gegenüber bestimmten Gruppen hegt (vgl. exemplarisch Benz 2020; Zick et al. 2011). Rassismus erscheint hier als eine individuelle Pathologie, die durch Bildung oder Strafverfolgung bekämpft werden könne. Ausgeblendet wird dabei die gesellschaftliche Dimension des Phänomens: die Tatsache, dass Rassismus gesellschaftliche Ursachen hat, in kollektiven Weltbildern und Wissensbeständen organisiert und in Institutionen verankert ist (Kerner 2009: 37–43).

Eine zweite Verengung besteht in der Tendenz, Rassismus auf abwertende Fremdbilder zu reduzieren. Dabei gerät aus dem Blick, dass kollektive Fremdbilder immer auf kollektive Selbstbilder bezogen sind. Betrachtet man deren Verhältnis, lassen sich zwei historische Ausprägungen des Rassismus unterschieden (vgl. Monday 2013): Im kolonialistischen und liberalen Rassismus wird das Eigene als fortschrittliche Zivilisation gezeichnet, während den „primitiven Rassen“ ein Mangel an Geist und eine Unfähigkeit zur Kulturentwicklung zugeschrieben wird.1 Etwa ab Mitte des 19. Jahrhunderts verliert die Vorstellung einer Überlegenheit des Eigenen ihre Selbstverständlichkeit. Geschichte wird zunehmend als „Rassenkampf“ gedeutet, bei dem nur die starken Rassen überleben (Geulen 2017: 54–56). Mit dem völkischen Rassismus und der Rassenbiologie tritt die Sorge um die Rassenqualitäten des Eigenen in den Vordergrund. Die objektivierenden Kategorien und biopolitische Maßnahmen, die im Kolonialrassismus nur auf die „primitiven Rassen“ angewendet worden waren, werden nun auf das Eigene angewendet, um „Degeneration“ durch Rassenmischung und andere schädliche Einflüsse zu verhindern und auf die Erhaltung und Steigerung der Rassenqualitäten hinzuwirken (z. B. durch eugenische Programme).

Eine dritte Verengung besteht darin, Rassismus mit Biologismus gleichzusetzen (vgl. exemplarisch Zick et al. 2011: 45). Damit ist häufig die Annahme verbunden, dass Rassismus vor allem darauf ziele, gesellschaftliche Verhältnisse durch ein biologisches Vokabular zu naturalisieren und damit zu legitimieren. Abwertende Zuschreibungen, die sich nicht auf Biologie oder Natur beziehen, werden hingegen vom Rassismus unterschieden und mit Begriffen wie Fremdenfeindlichkeit, Islamfeindlichkeit oder Islamophobie belegt (kritisch Marz 2020: 54–63, Müller-Uri 2014: 57–61). Einige Vertreter der kritischen Rassismusforschung haben dagegen die These aufgestellt, dass gegenwärtig ein „Rassismus ohne Rassen“ zu beobachten sei, in dem „Kultur“ die Funktion übernimmt, die vormals der „Natur“ zukam (Hall 1989; Balibar 1992). Tatsächlich ist in heutigen Diskursen meistens von „Kulturen“ und „Identitäten“ und kaum noch von „Blut“ oder „Erbgut“ die Rede. Die Rede vom kulturellen Neo-Rassismus ist allerdings irreführend, insofern sie suggeriert, dass der „alte“ Rassismus ausschließlich biologistisch argumentiert habe. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass sowohl der koloniale Rassismus als auch das völkische und rassenbiologische Denken immer sowohl Kultur als auch Natur thematisierten (Hund 2014; Mosse 2006: 118–134). Der Rassismus beschränkt sich nicht darauf, Herrschaftsverhältnisse durch Naturalisierung zu legitimieren, sondern ist immer auch ein Entwicklungsmodell, das gesellschaftliche Veränderungen nicht nur erklären, sondern auch praktisch hervorbringen soll.

Es lässt sich festhalten: Rassismus besteht nicht nur aus biologistischen Vorurteilen über Fremdgruppen, sondern ist ein umfassendes Weltbild, das um das Verhältnis von Kultur und Natur, von Eigenem und Fremdem kreist. Sobald er in gesellschaftliche Praxis übersetzt und in Institutionen verankert wird, stellt er eine eigenständige Herrschaftsordnung dar (Hund 2014: 119–139).

Der rassistische Kern des Rechtspopulismus

Im Folgenden möchte ich am Beispiel der Alternative für Deutschland zeigen, dass Rassismus den Kern rechtspopulistischer Weltbilder darstellt. Einer weitverbreiteten Definition zufolge lässt sich der Rechtspopulismus durch zwei Elemente bestimmen: zum einen durch die Unterscheidung zwischen einem homogenen Volk und einer korrupten, feindseligen Elite; zum zweiten durch die Unterscheidung zwischen dem Eigenen und den Fremden (Mudde/Kaltwasser 2017: 34; Jörke/Selk 2017: 69). Ich werde beide Relationen untersuchen und argumentieren, dass in ihnen eine jeweils spezifische Form von Rassismus zum Ausdruck kommt.

Die Fremden als „barbarische Gemeinschaft“

Betrachten wir zunächst die rechtspopulistischen Diskurse, die sich auf die Fremden2 beziehen: auf Migrant*innen, Muslim*innen und auf Minderheiten. Welche Zuschreibungen werden vorgenommen und welcher Logik folgen sie? Eine in der Rassismusforschung weitverbreitete Annahme lautet, dass rassistische Fremdbilder die Kehrseite des Eigenen zum Ausdruck bringen (Müller-Uri 2014: 10, 56–87). Die Überlegung ist zutreffend, muss aber soziologisch konkretisiert werden. In den Fremdzuschreibungen des Rechtspopulismus wird ein Selbstbild sichtbar, das auf einer starken Identifikation mit den Werten und Normen einer modernen liberal-kapitalistischen Gesellschaft beruht. Die Fremden werden hingegen als „barbarische Gemeinschaft“ beschrieben, die diesen Normen und Werten nicht entsprechen kann.

Ich bezeichne dieses Muster (Gesellschaft vs. Gemeinschaft), das den gesamten Diskurs der AfD durchzieht, als liberalen Rassismus. Allgemein wird das Eigene mit Individualismus und Freiheit, Aufklärung und Säkularismus, technologischer und ökonomischer Rationalität und Fortschrittlichkeit assoziiert; die Fremden hingegen werden als kollektivistisch, unterentwickelt, fundamentalistisch und patriarchal beschrieben. Deutschland wird in der „Neuzeit“ verortet, der „Islam bedeutet Steinzeit“ (Storch 2017: o. S.). Aus der absoluten Gegensätzlichkeit folgt Unvereinbarkeit: Weil der Islam „Träger von nicht integrierbaren kulturellen Traditionen“ (AfD 2017: 63) sei, könne er nicht zu Deutschland gehören (AfD 2016: 49).

Der Gegensatz von Eigenem als Gesellschaft und den Fremden als Gemeinschaft wird in unterschiedlichen Themenfeldern konkretisiert. Die AfD stehe für Rechtsstaatlichkeit (AfD 2021: 15–25); die Fremden hingegen stünden außerhalb des bürgerlichen Rechts. In Bezug auf Geflüchtete wird die Illegalität des Grenzübertritts betont (AfD 2021: 88–93). Migrant*innen und Muslim*innen werden regelmäßig mit Gewalt und Kriminalität assoziiert, wenn etwa im aktuellen AfD-Wahlprogramm „migrantische Jugendbanden“ und „Ausländerkriminalität“ als zentrale Probleme der inneren Sicherheit ausgemacht werden (AfD 2021: 74f.). Zudem seien die Fremden aufgrund ihrer Kultur an ein eigenes Recht gebunden, das auf archaischen Prinzipien wie Gewalt und Rache beruhe. Die Geflüchteten, so etwa der AfD-Abgeordnete Gottfried Curio, kämen aus Kulturen, in denen „Konflikte mit dem Messer ausgetragen werden“ (Curio 2018a: Minute 05:22). Inzwischen herrsche auch auf deutschen Straßen „das Recht des Stärkeren, das Recht der Messer“ (Curio 2018b: 5150). Um zu belegen, dass Muslim*innen zwangsläufig in einen Konflikt mit dem Rechtsstaat geraten, wird immer wieder auf die Scharia verwiesen, die vor allem mit Zwangsehen, „Ehrenmorden“ und Beschneidungen identifiziert wird (Zúquete 2016: 113f.).

Bei Thema Wirtschaft betont die AfD die Leistungsfähigkeit Deutschlands, seinen „Arbeitsethos, seine Wissenskultur, sein[en] enorme[n] Erfindungsreichtum, seine Schaffenskraft“ (AfD 2020: 9). Die Fremden werden hingegen als Menschen charakterisiert, die ihrem Wesen nach keine produktiven Subjekte sein können oder wollen. Das kommt etwa in Bezeichnungen wie „Sozial“- oder „Armutsmigranten“ zum Ausdruck, die Geflüchteten einen echten Fluchtgrund absprechen und sie als dauerhafte Belastung für die Sozialsysteme darstellen (Butterwegge et al. 2018: 64–84). Für Alexander Gauland handelt es sich bei ihnen „fast ausnahmslos um ungebildete, zu großen Teilen stammesgesellschaftlich erzogene und bis zur Arbeitsunlust fromme Personen“ (Gauland 2018: Minute 15:15). Dass Migrant*innen unfähig seien, sich zu bilden und für den Arbeitsmarkt zu qualifizieren, liege an ihrer Kultur, die von Generation zu Generation weitergegeben werde (AfD 2020: 9).

Mit Blick auf Familien- und Geschlechterverhältnisse wird die eigene Gesellschaft als fortschrittlich und emanzipiert charakterisiert; die Kultur der Fremden sei dagegen rückständig, patriarchal und sexuell repressiv. Zentral ist hier vor allem die Figur des fremden Mannes, der als triebhaft und unkontrolliert charakterisiert wird und eine Bedrohung für „unsere Frauen“ darstelle (Dietze 2019; Mayer et al. 2018). Ein weiteres Problem sei die Neigung der Fremden, viele Kinder zu bekommen. Es drohe eine Verdrängung des Eigenen durch einen „ethnisch-kulturellen Wandel der Bevölkerungsstruktur“ (AfD 2016: 42). Diese demografische Argumentation beruht auf zwei rassistischen Prämissen (vgl. auch Schultz 2016): Zum einen wird die Geburtenrate der Fremden als eine fixe Größe behandelt, die von äußeren sozialen und kulturellen Bedingungen unabhängig ist; zum anderen wird angenommen, dass die Fremden niemals Teil des Eigenen werden können, sodass eine Zunahme der Fremden zu einer Verdrängung des Eigenen führen müsse.

Der Niedergang des Eigenen

Doch nicht nur die Fremdbilder, sondern auch das rechtspopulistische Selbstbild ist von einer rassistischen Logik bestimmt. Sie besteht aus zwei Elementen: Erstens wird das Eigene als Gemeinschaft beschrieben („Volk“), also als Einheit, die sich über kollektiv geteilte und zeitlich stabile Eigenschaften (Werte, Traditionen, Sprache usw.) definiert. Zweitens wird behauptet, dass sich das Eigene im Niedergang befindet – ein Motiv, das aus der Geschichte des Rassismus und des konservativen Kulturpessimismus unter den Namen Dekadenz und Degeneration bekannt ist (Hund 2014: 114–118; Lenk 1989: 255–265; Lenk 2005). Das politische Ziel, das sich aus dieser Diagnose ableitet, ist die Wiederherstellung der Einheit und eine „Wiedergeburt“ des Eigenen (Griffin 1991).

Dieses Schema von Verfall und Erneuerung des Eigenen lässt sich als völkischer Rassismus charakterisieren und im Diskurs der AfD vielfach nachweisen. Der Niedergang des Eigenen wird an verschiedenen Entwicklungen festgemacht: Die Globalisierung und europäische Integration hätten die Souveränität Deutschlands ausgehöhlt (AfD 2021: 26–29); ökonomisch habe man sich immer mehr vom Ideal der „sozialen Markwirtschaft“ entfernt. Insbesondere die Einführung des Euro und die „Rettungspolitik“ nach der Wirtschaftskrise 2008 habe die deutsche Wirtschaft geschwächt (AfD 2016: 67; AfD 2021: 43f.). Feminismus und übersteigerter Individualismus bedrohten die natürliche Geschlechterordnung und die Familie und seien eine wesentliche Ursache dafür, dass die Deutschen immer weniger Kinder bekämen (AfD 2016: 41). Migration und die Ideologie des Multikulturalismus schließlich hätten dazu geführt, dass Parallelgesellschaften entstanden seien, welche die nationale Identität zersplittert und geschwächt hätten (AfD 2016: 47, 63; AfD 2021: 156).

Eine Zuspitzung erfahren die Untergangsszenarien im völkischen Flügel der AfD. Björn Höcke charakterisiert die gegenwärtige Situation folgendermaßen: „Der Multikulturalismus, der Materialismus, der Konsumismus, der Hedonismus, der Narzissmus, die Vereinzelung, kurz: die Dekadenz hält Westeuropa fest im Griff“ und habe „die Selbstbehauptungskräfte […] der westeuropäischen Völker fast vollständig erlahmen lassen“ (Höcke 2018: Minute 11:40). Dabei handele es sich jedoch nicht nur um Entwicklungen der jüngeren Vergangenheit. Vielmehr ist für Höcke „die Moderne selbst […] eine Verfallsform“ (Henning/Höcke 2018: 258). Der souveräne Nationalstaat sei seit Beginn der Neuzeit im Niedergang begriffen (ebd.). Die Deutschen hätten ihre Männlichkeit verloren und seien daher unfähig, sich gegen die Aggression der Fremden zur Wehr zu setzen (Höcke 2015: Minute 01:08). Die „jetzige Form des Finanzkapitalismus“ bezeichnet Höcke als eine „Degenerationsform der Marktwirtschaft“ (Höcke 2014: Minute 01:07:44). All diese Entwicklungen laufen auf ein apokalyptisches Endstadium zu: „Wir erleben die finale Auflösung aller Dinge“ (Henning/Höcke 2018: 261).

Der Niedergang des Eigenen wird jedoch nicht nur als schicksalhafter objektiver Prozess beschrieben, sondern auch auf das Wirken dunkler Mächte zurückgeführt. Im aktuellen Rechtspopulismus sind das vor allem die als „globalistisch“ und „kosmopolitisch“ charakterisierten Eliten. Die Elite wird als eine Gruppe aus Politik, Wirtschaft und Medien beschrieben, die sich gegen das Volk verschworen habe. Ziel sei die Errichtung einer totalitären Herrschaft oder gar die Vernichtung des Volkes. Die Vorstellung einer übermächtigen, global agierenden Elite, die an der Zerstörung der Völker arbeitet, lässt sich als Verschwörungsmythos charakterisieren und weist Übereinstimmungen mit antisemitischen Deutungsmustern auf (Rensmann 2020; Butter 2018). Aus der Personifikation gesellschaftlicher Prozesse in der Figur der Elite ergibt sich eine klare Handlungsoption: Um das Eigene zu retten, müsse der zerstörerische Einfluss der Eliten zurückgedrängt werden.

Rassismus als Krisenverarbeitung

Wie hängen der liberale und der völkische Rassismus, die sich im Weltbild der AfD zeigen, zusammen? Wie lassen sie sich soziologisch verstehen? Einerseits sind beide Formen komplementär: Der liberale Rassismus stellt die Fremden, der völkische das Eigene in den Mittelpunkt. Andererseits zeigt sich aber auch ein Widerspruch – im liberalen Rassismus wird das Eigene mit den Normen der Gesellschaft assoziiert und als überlegen dargestellt, während die Fremden als Gemeinschaft unterlegen sind, weil sie diesen Normen nicht entsprechen können. Im völkischen Rassismus findet sich ein völlig anderes Selbstbild. Das Eigene wird hier als Gemeinschaft beschrieben, die vom Verfall und den Machenschaften der „globalistischen Elite“ bedroht ist. Letztere werden mit den Merkmalen von Gesellschaft assoziiert (vgl. zu diesem Denkmuster Holz 2010). Das Selbst- und Fremdbild im liberalen und im völkischen Rassismus sind also gegensätzlich. Der Zusammenhang von liberalem und völkischem Rassismus lässt sich verstehen, wenn man beide als Formen der Krisenverarbeitung interpretiert. Die aktuelle Konjunktur des Rechtspopulismus fällt in die Zeit nach der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise von 2007. Allgemein lässt sich zeigen, dass rechte Kräfte nach Finanzkrisen erstarken (Funke et al. 2016). Der liberale Rassismus lässt sich sozialpsychologisch als eine konformistische Überidentifikation mit den rechtlichen, ökonomischen und geschlechtsbezogenen Normen einer liberal-kapitalistischen Gesellschaft interpretieren (etwa Disziplin, Selbstkontrolle, Leistungsbereitschaft). Selbstanteile und Wünsche, die nicht zu diesen Normen passen, werden verdrängt und auf die Fremden projiziert (Adorno 1995). Damit kann einerseits der Ausschluss der Fremden legitimiert werden. Andererseits lässt sich auf diese Weise die eigene Identität stabilisieren, die von Krisenprozessen infrage gestellt wird: Dass die Fremden unproduktiv, unemanzipiert und gewalttätig seien, sagt zugleich, dass „Wir“ dem Wesen nach produktiv, emanzipiert und zivilisiert sind.

Im völkischen Rassismus wird die ökonomische Krise in einer verzerrten Form wahrgenommen: nicht als Krise von Gesellschaft, sondern als Niedergang von Gemeinschaft. Die Modernität, die im liberalen Rassismus für die Überlegenheit des Eigenen steht (z. B. Individualismus, Säkularismus, Gleichberechtigung), erscheint im völkischen Rassismus als „Verfallsform“ (vgl. Höcke-Zitat oben). Umgekehrt erscheinen die Eigenschaften der Fremden, die in der liberalen Perspektive als minderwertig gelten, nun als Stärken. Die Fremden haben all das, was dem Eigenen zu fehlen scheint: eine gefestigte religiöse und kulturelle Identität, eine stabile Geschlechter- und Familienordnung, eine hohe Geburtenrate. Daher die Angst, von den Fremden überwältigt zu werden, die in der Katastrophen- und Kriegsmetaphorik von „Asylantenflut“ und „Flüchtlingsinvasion“ zum Ausdruck kommt. Allerdings sind im völkischen Denken nicht die Fremden der Hauptfeind, sondern der Universalismus, verkörpert in der „globalistischen Elite“ (Weiß 2017: 211–227). Nur weil diese das Eigene zugrunde richtet, stellen die Fremden eine Bedrohung dar.

Liberaler und völkischer Rassismus bilden also trotz ihrer Widersprüchlichkeit eine Einheit, indem sie unterschiedliche Funktionen der Krisenverarbeitung erfüllen (Monday 2013). Der liberale Rassismus dient dazu, das Eigene zu entproblematisieren und Krisensymptome zu leugnen. Die völkische Untergangsvorstellung ist hingegen eine verzerrte Form der Krisenwahrnehmung. Durch die Schuldzuweisung an die Elite werden die Krisenursachen personifiziert und nach außen verlagert. Die Ursache der Krise liegt nicht im Eigenen, etwa im ökonomischen System, sondern im bösen Willen der Mächtigen. Daraus ergibt die Vorstellung, dass die Elite entmachtet werden muss, um das Eigene zu retten.


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1    Zum Zusammenhang von liberalem Aufklärungsdenken und Rassismus vgl. Mills (2017).
2    Die Begriffe Eigenes und Fremde/s beziehen sich ausschließlich auf die semantischen Konstrukte des Rechtspopulismus.
 

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