Comeback des Autoritarismus-Konzepts: autoritäres Syndrom und autoritäre Dynamik zur Erklärung rechtsextremer Einstellung

In diesem Beitrag stellen wir zentrale Ergebnisse der Leipziger Autoritarismus Studien (LAS) zur Verbreitung rechtsextremer Einstellung in Deutschland und den Ursachen ihrer Entstehung vor. Mit unseren Studien schließen wir an das Konzept der Autoritären Persönlichkeit (Adorno et al. 1950) an und prüfen dessen Aktualität heute. Unsere seit 2002 durchgeführten Befragungen zeigen, dass die rechtsextreme Einstellung sich zu einem wesentlichen Teil als Ausdruck eines autoritären Syndroms verstehen lässt. In diesem Beitrag werden zunächst die Konzepte des autoritären Syndroms und der gesellschaftlichen autoritären Dynamik vorgestellt. Anschließend betrachten wir wichtige Einflussfaktoren auf die rechtsextreme Einstellung und interpretieren unsere empirischen Ergebnisse.

Autoritäre Dynamik – autoritäres Syndrom

Im Anschluss an die klassischen Studien zur Autoritären Persönlichkeit (Horkheimer et al. 1936; Adorno et al. 1950) belegt auch die jüngere sozialpsychologische und soziologische Forschung den Einfluss des Autoritarismus auf die Ausbildung rechtsextremer Einstellung und fremdenfeindlicher Vorurteile (u. a. Fuchs 2003, Asbrock et al. 2012). Obwohl Autoritarismus als relevanter Einflussfaktor als unstrittig gilt, gibt es doch deutliche Unterschiede hinsichtlich der Frage, was als „Autoritarismus“ zu fassen ist und wie sich das Konzept empirisch abbilden lässt. Als die Forschenden des Frankfurter Instituts für Sozialforschung (Horkheimer et al. 1936; Adorno et al. 1950) am Vorabend des Zweiten Weltkrieges mit ihren Untersuchungen zu faschistischen und antidemokratischen Einstellungen begannen, war ihnen klar, dass Autoritarismus nicht nur in seiner individuellen Genese bei Einzelnen betrachtet werden kann. Vielmehr sind auch die gesellschaftlichen Bedingungen zu untersuchen, die eben jene autoritären und antidemokratischen Überzeugungen in den Einzelnen hervorbringen. An diese Forschungstradition, Autoritarismus als ein Zusammenwirken aus gesellschaftlicher Dynamik und individuellen Verarbeitungsmustern zu verstehen, knüpfen wir an. In unserem Verständnis setzt sich Autoritarismus als ein Phänomen mit zwei Seiten zusammen: einer gesellschaftlich hervorgebrachten autoritären Dynamik auf der einen und dem autoritären Syndrom als individueller Binnenstruktur dieser gesellschaftlichen Dynamik auf der anderen Seite (Decker et al. 2018a). Als zentral für die autoritäre Dynamik der Gesellschaft haben wir in der Vergangenheit neben frühen Sozialisationserfahrungen in der Familie (Decker et al. 2012) auch untersucht, inwiefern Erfahrungen demokratischer wie auch undemokratischer Vergesellschaftung im Erwachsenenalter Einfluss auf die Ausbildung und Aufrechterhaltung antidemokratischer Einstellungen haben. So zeigten sich etwa Zusammenhänge von fehlender Anerkennung in relevanten Lebensbereichen und rechtsextremer Einstellung (Decker et al. 2018b) sowie Erfahrungen in der Arbeitswelt und demokratischen Einstellungen (Kiess/Schmidt 2020). Zudem nehmen wir in den Blick, inwiefern auch ein abstraktes Ideal – die Identifikation mit einer starken wirtschaftlichen Nation – in der jüngeren Geschichte Deutschlands die Funktion einer „sekundären Autorität“ (Freud 1921) angenommen hat (Decker et al. 2014, Decker 2015). So kann Autoritarismus nie nur als bloß individuelles Phänomen betrachtet werden, sondern ist immer auch Ausgangspunkt, um gesellschaftliche Dynamiken kritisch zu untersuchen.

Das autoritäre Syndrom als individuelle Ausprägung umfasst als zentrale Elemente Konventionalismus, autoritäre Unterwürfigkeit und autoritäre Aggression (z. B. Altemeyer 1981). Konventionalismus meint hier die rigide und unhinterfragte Übernahme gesellschaftlicher Normen, autoritäre Unterwürfigkeit die unkritische Unterwerfung unter Autoritäten (Adorno 1973). Die autoritäre Aggression beschreibt die Aggression gegenüber denjenigen, die konventionelle Normen missachten, sich der Autorität nicht unterordnen oder als Schwächere abgewertet werden können (ebd.: 51). Von einem autoritären Syndrom statt von Persönlichkeit oder Charakter sprechen wir, weil sich Autoritarismus bei dem oder der Einzelnen aus den verschiedenen Elementen zusammensetzen kann. Die Ausprägung der einzelnen Elemente und ihr Verhältnis zueinander ist dabei nicht bei allen Personen gleich.

Seit Beginn der Autoritarismus-Forschung stand die Frage im Zentrum, wie es zu der Bereitschaft zur Unterordnung unter gesellschaftliche Autoritäten kommt – sei es unter personelle Autoritäten, wie Hitler im Nationalsozialismus, oder abstrakte Autoritäten, wie etwa das gesellschaftliche Ideal des Kapitalismus. Schon die Forschenden des Frankfurter Instituts für Sozialforschung stellten im Anschluss an Georg Simmel (1908) fest, dass Autoritäts- und Herrschaftsverhältnisse immer auch ein Moment der Freiwilligkeit der Unterwerfung enthalten (Fromm 1936: 144). Gespeist wird diese Freiwilligkeit im Wesentlichen aus der Möglichkeit der Teilhabe an etwas Mächtigem und Großem, das Sicherheit in einer komplexen Welt verspricht. Weiter formulierte Fromm (ebd.: 174): „Die relative Undurchschaubarkeit des gesellschaftlichen und damit des individuellen Lebens schafft eine schier hoffnungslose Abhängigkeit, an die sich das Individuum anpasst.“ Die Bereitschaft, sich zu unterwerfen und rigide an gesellschaftlichen Normen festzuhalten, ist dabei eng verwoben mit der autoritären Aggression: Denn die eigene Unterwerfung geht notwendigerweise mit Verzicht und dem Erleben eigener Schwäche einher. Aggressionen, die aus diesem Missverhältnis entstehen, können aber nicht gegenüber der Autorität selbst zum Ausdruck gebracht werden. Stattdessen richten sich die Aggressionen gegen jene, die sich den Normen entziehen, denen man sich selbst unterworfen hat, und gegen jene, die als schwach, fremd und anders gelten. Kurzum: Die autoritäre Haltung entspricht der eines Radfahrenden, der nach oben buckelt und nach unten tritt. Dieses Zusammenspiel aus Konventionalismus, Unterwerfung und Aggression begünstigt über historische Epochen hinweg einen Hang zu Ideologien, „die es gestatten, sich gleichzeitig einer Autorität zu unterwerfen, an ihrer Macht teilzuhaben und die Abwertung anderer im Namen der Ordnung zu fordern“ (Decker 2018: 51). Der Rechtsextremismus als Ideologie bietet einen Fluchtpunkt für diese Autoritätssehnsucht.

Rechtsextremismus in Deutschland: Entwicklungen 2002 bis 2020

Die Leipziger Autoritarismus Studien1 sind als bundesrepräsentative Befragung konzipiert und haben das Ziel, rechtsextreme und antidemokratische Einstellungen in allen Teilen der Gesellschaft zu untersuchen. Seit 2002 wird zu diesem Zweck alle zwei Jahre eine Erhebung durchgeführt. Je nach Erhebungsjahr wurden zwischen 2.500 und 5.000 Personen befragt.2 Rechtsextremismus wird als Einstellungsmuster verstanden, dessen zentrales Element Vorstellungen sozialer Ungleichwertigkeit sind (siehe auch Jaschke 2001).

Diese [Ungleichwertigkeitsvorstellungen, Anm. d. Verf.] äußern sich im politischen Bereich in der Affinität zu diktatorischen Regierungsformen, chauvinistischen Einstellungen und einer Verharmlosung bzw. Rechtfertigung des Nationalsozialismus. Im sozialen Bereich sind sie gekennzeichnet durch antisemitische, fremdenfeindliche und sozialdarwinistische Einstellungen. (Decker/ Brähler 2006: 20)

Mit diesen Ungleichwertigkeitsvorstellungen geht die Betonung einer exklusiven Eigengruppe einher – etwa „die Deutschen“. Für die Konstruktion Anderer als „Ausländer“ oder „Fremde“ ist die tatsächliche Staatsangehörigkeit nachrangig – stattdessen werden Ungleichwertigkeiten rassistisch oder ethnisch begründet. Diese Zuschreibung von „Fremdheit“ ist grundlegend antidemokratisch, „da sie eine unüberwindbare und gleichzeitig jederzeit verschiebbare Grenze zu „den Anderen“ aufbaut“ (Schuler et al. 2020: S. 249). Das Gegenstück einer rechtsextremen Einstellung ist eine demokratische Einstellung (Kiess 2011), die auf den u. a. im Grundgesetz kodifizierten Menschenrechten beruht.



Abbildung 1: Anteil an Befragten mit geschlossen rechtsextremem Weltbild in Deutschland 2002–2020 (in %, ungewichtet)

Entsprechend der oben angeführten Definition erfasst der Leipziger Fragebogen zur rechtsextremen Einstellung (FR-LF, Decker et al. 2013) sechs Dimensionen: Befürwortung einer rechts-autoritären Diktatur, Chauvinismus, Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus, Sozialdarwinismus und Verharmlosung des Nationalsozialismus.3 Jede der Dimensionen wird mit drei Aussagen erfasst. Die Befragten können ihre Zustimmung zu den jeweiligen Aussagen auf einer 5-stufigen Skala angeben (1 = „lehne völlig ab“ bis 5 = „stimme voll und ganz zu“). Die Gesamtskala Rechtsextreme Einstellung (Cronbach’s α = 0,94) bewegt sich somit zwischen dem Minimalwert = 18 und dem Maximalwert = 90. In Abbildung 1 ist der Anteil der Befragten mit geschlossen rechtsextremem Weltbild seit 2002 im Langzeitverlauf dargestellt. Dabei gelten diejenigen Befragten als manifest rechtsextrem eingestellt, welche durchschnittlich allen 18 Aussagen des Fragebogens zustimmen und somit einen Gesamtskalen-Wert von mindestens 63 erreichen (siehe auch Decker et al. 2020a, dort findet sich auch eine Darstellung der Zustimmungswerte je Einzelaussage und je Dimension).

Deutlich wird, dass es – neben der deutlich höheren Zustimmung zu Einzelfragen und Einzeldimensionen – über den gesamten Erhebungszeitraum hinweg einen relevanten Teil der bundesdeutschen Bevölkerung gibt, der ein geschlossen rechtsextremes Weltbild aufweist. Dass die Untersuchungen in den ersten Erhebungsjahren zunächst unter dem Titel Leipziger „Mitte“-Studien veröffentlicht wurden, war so auch Ausdruck eines zentralen Befundes: Die Wunschvorstellung, die Gefährdung der Demokratie ginge von den gesellschaftlichen Extremen aus, die gesellschaftliche Mitte hingegen sei frei von rechtsextremen Tendenzen, lässt sich empirisch nicht halten (Decker 2018: 18ff.).

Betrachtet man die Entwicklungstendenz seit 2002 für Gesamtdeutschland, so zeigt sich insgesamt eine Abnahme der Anzahl manifest rechtsextrem Eingestellter. Dies galt uns jedoch nie als Entwarnung. Zum einen zeigen sich deutlich unterschiedliche Entwicklungen in Ost- und Westdeutschland. So wurde im Jahr 2020 mit 4,3 % zwar der bislang geringste Anteil für Gesamtdeutschland verzeichnet, gleichwohl war der Anteil mit 9,5 % in Ostdeutschland erneut höher als in den Vorjahren. Zudem dokumentiert etwa die Statistik des Bundesministeriums des Inneren, für Bau und Heimat (2020: 2) in den vergangen Jahren Höchstwerte bei der extrem rechts motivierten Gewalt, insbesondere 2015, 2016, 2018 und 2020. So mutet unser Ergebnis auf den ersten Blick paradox an: Der Anteil der rechtsextrem Eingestellten ist nicht gestiegen, zeitgleich steigt jedoch die Zahl rechtsextrem motivierter Gewalttaten. Mit einem Vergleich politischer Milieus innerhalb der Stichproben von 2006 und 2016 konnten wir hierfür eine erste Erklärung geben: Während die Verbreitung rechtsextremer Einstellung in Deutschland innerhalb von zehn Jahren insgesamt nicht zugenommen hatte, kam es doch zu einer Radikalisierung in einzelnen politischen Milieus (Decker/Brähler 2016). Bei den Befragten dieser Milieus war die rechtsextreme Einstellung auch vor 2016 schon stark ausgeprägt, deutlich gestiegen war jedoch ihre Gewaltbereitschaft und Gewaltakzeptanz. Im Zuge eines sich veränderten politischen und gesellschaftlichen Klimas vollzog sich zunehmend auch die Bereitschaft zum eigenen Handeln.

Rechtsextreme Einstellung – Einflussfaktoren

Blickt man auf mögliche Erklärungsfaktoren für die Ausbildung der rechtsextremen Einstellung, wird in der Forschung immer wieder auf Erfahrungen (gefühlter) Benachteiligung (Deprivation) abgehoben. Rechtsextremismus wird dann als ein Phänomen beschrieben, dass mit Modernisierungsprozessen und ungleicher Verteilung von Gewinnen verknüpft ist (Rippl/Baier 2005, Spier 2010). Wir haben eingangs außerdem die Bedeutung autoritärer Orientierungen hervorgehoben (vgl. Fuchs 2003, Asbrock et al. 2012). Im Folgenden wollen wir das Zusammenspiel von (gefühlter) Deprivation und autoritärem Syndrom näher beleuchten. Während wir annehmen, dass individuelle Deprivation eher geringen Einfluss auf die Ausbildung einer rechtsextremen Einstellung hat, vermuten wir, dass die kollektive Deprivation – also die negative Einschätzung der Stärke der deutschen Wirtschaft – zu höheren Zustimmungswerten führt. Unsere Vermutung: In der starken deutschen Wirtschaft finden die sich selbst als schwach erfahrenen Autoritären Befriedigung. Deshalb prüfen wir in einem zweiten Schritt, ob es zwischen autoritären Orientierungen und kollektiver Deprivation eine Interaktion gibt: Wir vermuten, dass der Effekt der autoritären Disposition auf die rechtsextreme Einstellung bei jenen Befragten, die die wirtschaftliche Lage Deutschlands negativ einschätzen, stärker ausgeprägt ist.

In Abbildung 2 sind die Ergebnisse einer Regressionsanalyse dargestellt. Hierfür haben wir neben dem autoritären Syndrom und wahrgenommener individueller sowie kollektiver ökonomischer Deprivation weitere Variablen in die Berechnungen aufgenommen. Zur Abbildung des Einflusses des autoritären Syndroms haben wir die Elemente Konventionalismus, autoritäre Aggression sowie autoritäre Unterwürfigkeit zu einer Gesamtskala Autoritarismus zusammengefasst (Cronbach’s α = 0,86, eine Darstellung der Zustimmungswerte zu den einzelnen Aussagen der drei Elemente findet sich in Decker et al. 2020b: 199). Im Vergleich aller berücksichtigten Variablen zeigt sich, dass Autoritarismus den stärksten Zusammenhang zur rechtsextremen Einstellung aufweist. In deutlich geringerem Maße sind Geschlecht, Wohnort sowie Bildung mit rechtsextremer Einstellung assoziiert. Mit höherer Wahrscheinlichkeit rechtsextrem eingestellt sind Männer sowie Personen, welche kein Abitur oder höheren Abschluss haben und Personen, die in Ostdeutschland wohnen. Ebenfalls schwache Einflüsse zeigen sich für die selbst erfahrene Arbeitslosigkeit und politische Deprivation.4 Blickt man auf die ökonomische Deprivation zeigen sich Unterschiede in Hinblick auf wahrgenommene Deprivation und tatsächliche Deprivation, erfasst als Einkommen: Während das Einkommen keinen signifikanten Effekt auf die rechtsextreme Einstellung aufweist, zeigt sich ein Effekt für die wahrgenommene eigene wirtschaftliche Lage heute. Entsprechend unserer Annahme ist es jedoch die subjektive Einschätzung der aktuellen wirtschaftlichen Lage Deutschlands – also die Wahrnehmung der kollektiven Lage – welche den stärksten Einfluss auf die rechtsextreme Einstellung aufweist (auch Rippl/Baier 2005).



Abbildung 2: Einflussfaktoren auf die rechtsextreme Einstellung, lineare Regression

Um den vergleichsweise wichtigen Einfluss der wahrgenommenen kollektiven wirtschaftlichen Lage (heute) näher zu betrachten, haben wir schließlich einen Interaktionsterm zwischen dieser und dem Autoritarismus in die Analyse aufgenommen (siehe auch Yoxon et al. 2019). In Abbildung 3 ist dargestellt, wie stark sich der Effekt des Autoritarismus auf die rechtsextreme Einstellung in Abhängigkeit der Einschätzung der wirtschaftlichen Lage Deutschlands heute verändert: Der Einfluss des Autoritarismus ist unabhängig von dieser Einschätzung immer bedeutend, aber der Autoritarismus erhöht die rechtsextreme Einstellung nur um etwa 0,44 Standardeinheiten, wenn Befragte die wirtschaftliche Lage Deutschlands als sehr gut einschätzen. Schätzen sie die Lage als sehr schlecht ein, liegt der Effekt des Autoritarismus bei etwa 0,6 Standardeinheiten. Je stärker die deutsche Wirtschaft als gefährdet gesehen wird, umso stärker ist der Effekt des Autoritarismus auf die rechtsextreme Einstellung. Umgekehrt ist eine autoritäre Disposition weniger folgenschwer (aber weiterhin der wichtigste Faktor im Regressionsmodell), wenn die wirtschaftliche Lage als gut eingeschätzt wird.



Abbildung 3: Interaktionseffekt von Autoritarismus und kollektiver wirtschaftlicher Deprivation (heute) auf die rechtsextreme Einstellung

Zusammenfassung

Zusammengefasst wird deutlich, dass das Vorliegen eines autoritären Syndroms bei Einzelnen der stärkste Einflussfaktor auf die Ausprägung der rechtsextremen Einstellung ist. Zudem ist die wahrgenommene kollektive wirtschaftliche Deprivation relevanter als die individuelle. Die soziale Lage (Bildung, Einkommen, Arbeitslosigkeit) muss zusätzlich als Faktor berücksichtigt werden, steht aber im Vergleich zum Autoritarismus deutlich zurück. In den Leipziger Autoritarismus Studien hatten wir bereits vor einigen Jahren die These aufgestellt, dass im Nachgang des nationalsozialistischen Deutschlands die Identifizierung mit der „starken deutschen Wirtschaft“, mit dem deutschen „Wirtschaftswunder“ als sekundäres, abstraktes Ideal eine zentrale Rolle eingenommen hat (vgl. Decker et al. 2014; Decker 2015). An diesem Ideal sind Sozialisationserfahrungen bis heute ausgerichtet. Autoritäre Erziehungsmethoden wie Gehorsam, Disziplin und gewaltvolle Durchsetzung von Regeln spielen in der Kindererziehung glücklicherweise eine immer geringere Rolle. Stattdessen sind Erziehungsideale zunehmend an den Anforderungen einer liberalisierten ökonomischen Struktur ausgerichtet (Marcuse, 1963; Weyand, 2000): Leistung, Kompetenzentwicklung, Wettbewerbsfähigkeit und Selbstkontrolle stehen im Vordergrund, wenngleich sie auch zu Teilen hinter Begriffen wie Selbstverwirklichung nicht immer offen zutage treten. Das zentrale Gewaltverhältnis einer solchen Gesellschaft zeigt sich darin, dass Einzelnen die Verantwortung für die eigene Selbsterhaltung zugetragen wird und gleichzeitig in einer zunehmend globalisierten Welt die Mechanismen des Marktes – und damit der Selbsterhaltung – für die Einzelnen kaum durchschaubar und beeinflussbar sind. Je größer die individuelle Ohnmacht erlebt wird, desto eher bedarf es Autoritäten und kollektiver Identifikationen, welche das Partizipieren an Größe und Macht erlauben und so eine „narzisstische Ersatzbefriedigung“ schaffen (Fromm 1936: 179). Ist nun aber diese sekundäre Autorität der „starken deutschen Wirtschaft“ angesichts der permanenten Möglichkeit wirtschaftlicher Krisen selbst gefährdet, vermag sie diesen Ersatz und Schutz kaum zu bieten. An dieser Stelle ist die Flucht in eine kollektive völkische Identität, wie sie extrem rechte Erzählungen seit je her bieten, besonders attraktiv.


***********
1    Bis 2016 sind die Studien unter dem Titel Leipziger „Mitte“-Studien erschienen. Von 2006 bis 2012 wurde die Erhebung in Kooperation mit der Friedrich-Ebert-Stiftung durchgeführt, 2016 in Kooperation mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Otto-Brenner-Stiftung und Heinrich-Böll-Stiftung, 2018 in Kooperation mit der Otto-Brenner Stiftung und Heinrich-Böll-Stiftung.
2    Das Design entspricht einer Trendstudie. Befragt werden Personen ab 14, die Zufallsauswahl der Personen erfolgt nach dem ADM-Stichprobensystem. Soziodemografische Angaben sowie zum Wahlverhalten werden face-to-face erhoben, alle weiteren Angaben zu politischen Einstellungen von den Befragten im Selbstausfüllerverfahren gemacht.
3   Die theoriegeleitete Konzeption der sechs Dimensionen der rechtsextremen Einstellung wurde zuletzt auf Grundlage des Datensatzes von 2018 umfassend statistisch überprüft (Heller et al. 2020).
4   Erfasst wurde die Wahrnehmung, politisch wirkungs- und einflusslos zu sein mit den Aussagen „Leute wie ich haben sowieso keinen Einfluss darauf, was die Regierung tut“ sowie „Ich halte es für sinnlos, mich politisch zu engagieren“.
 

Literatur

Adorno, Theodor W. (1973): Studien zum Autoritären Charakter. Suhrkamp: Frankfurt a. M.
Adorno, Theodor W./Frenkel-Brunswik, Else/Levinson, Daniel J./Sanford, R. Nevitt (Hrsg.) (1950): The Authoritarian Personality. Harper: New York.
Altemeyer, Bob (1981): Right-Wing Authoritarianism. University of Manitoba Press: Winnipeg.
Asbrock, Frank/Christ, O./Duckitt, J./Sibley, C.G. (2012): Differential effects of intergroup contact for authoritarians and social dominators: A dual process model perspective. In: Personality and Social Psychology Bulletin, 38, Heft 4, S. 477–490.
Bundesministeriums des Inneren, für Bau und Heimat

(2021): Übersicht „Hasskriminalität“: Entwicklung der Fallzahlen 2001–2020. Online: www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/veroeffentlichungen/2021/05/pmk-2020-uebersicht-hasskriminalitaet-entwicklung-fallzahlen.html [12.05.2021].


Decker, Oliver (2015): Narzisstische Plombe und sekundärer Autoritarismus. In: Decker, Oliver/Kiess, Johannes/Brähler, Elmar [Hrsg.]: Rechtsextremismus der Mitte und sekundärer Autoritarismus. Psychosozial-Verlag: Gießen, S. 21–34.
Decker, Oliver (2018): Flucht ins Autoritäre. In: Decker, Oliver/Brähler, Elmar [Hrsg.]: Flucht ins Autoritäre. Rechtsextreme Dynamiken in der Mitte der Gesellschaft. Psychosozial-Verlag: Gießen, S. 15–64.
Decker, Oliver/Brähler, Elmar (2006): Vom Rand zur Mitte. Rechtsextreme Einstellung und ihre Einflussfaktoren in Deutschland. FES: Berlin.
Decker, Oliver/Brähler, Elmar (2016): Ein Jahrzehnt der Politisierung. Gesellschaftliche Polarisierung und gewaltvolle Radikalisierung in Deutschland zwischen 2006 und 2016. In: Decker, Oliver/Kiess, Johannes/Brähler, Elmar [Hrsg.]: Die enthemmte Mitte. Autoritäre und rechtsextreme Einstellung in Deutschland. Psychosozial-Verlag: Gießen, S. 95–135.
Decker, Oliver/Grave, Tobias/Rothe, Katharina/Weißmann, Marliese/Kiess, Johannes/Brähler, Elmar (2012): Erziehungserfahrung, politische Einstellung und Autoritarismus-Ergebnisse der „Mitte“-Studien. Jahrbuch für Pädagogik, 2012, Heft 1, S. 267–301.
Decker, Oliver/Hinz, Andreas/Geißler, Norman/Brähler, Elmar (2013): Fragebogen zur rechtsextremen Einstellung – Leipziger Form (FR-LF). In: Decker, Oliver/Kiess, Johannes/Brähler, Elmar [Hrsg.]: Rechtsextremismus der Mitte. Eine sozialpsychologische Gegenwartsdiagnose. Psychosozial-Verlag: Gießen, S. 197–212.
Decker, Oliver/Kiess, Johannes/Rothe, Katharina/Weißmann, Marliese/Brähler, Elmar (2014): Wohlstand, autoritäre Dynamik und narzisstische Plombe: Psychoanalytisch-sozialpsychologische Beiträge zur Kritik der postdemokratischen Gesellschaft. In: Forschungsjournal Soziale Bewegungen, 27, Heft 1, S. 63–75.
Decker, Oliver/Schuler, Julia/Brähler, Elmar (2018a): Das autoritäre Syndrom heute. In: Decker, Oliver/Brähler, Elmar [Hrsg.]: Flucht ins Autoritäre. Rechtsextreme Dynamiken in der Mitte der Gesellschaft. Gießen: Psychosozial-Verlag, S. 117–156.
Decker, Oliver/Yendell, Alexander/Brähler, Elmar (2018b): Anerkennung und autoritäre Staatlichkeit. In: Decker, Oliver/Brähler, Elmar [Hrsg.]: Flucht ins Autoritäre. Rechtsextreme Dynamiken in der Mitte der Gesellschaft. Psychosozial-Verlag: Gießen, S. 157–178.
Decker, Oliver/Kiess, Johannes/Schuler, Julia/Handke, Barbara/Pickel, Gerd/Brähler, Elmar (2020a): Die Leipziger Autoritarismus Studie 2020: Methode, Ergebnisse und Langzeitverlauf. In: Decker, Oliver/Brähler, Elmar [Hrsg.]: Autoritäre Dynamiken. Psychosozial-Verlag: Gießen, S. 27–88.
Decker, Oliver/Schuler, Julia/Yendell, Alexander/Schließler, Clara/Brähler, Elmar (2020b): Das autoritäre Syndrom: Dimensionen und Verbreitung der Demokratie-Feindlichkeit. In: Decker, Oliver/Brähler, Elmar [Hrsg.]: Autoritäre Dynamiken. Psychosozial-Verlag: Gießen, S. 177–210.
Freud, Sigmund (1921): Massenpsychologie und Ich-Analyse. GW XIII, S. 71–161.
Fromm, Erich (1936): Studien über Autorität und Familie. Sozialpsychologischer Teil. In: Funke, R. [Hrsg.]: Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden. Bd. 1. Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt, S. 139–187.
Fuchs, Marek (2003): Rechtsextremismus von Jugendlichen. In: KZfSS, 55, Heft 4, S. 654–678.
Heller, Ayline/Brähler, Elmar/Decker, Oliver (2020): Rechtsextremismus – ein einheitliches Konstrukt? In: Heller, Ayline/Brähler, Elmar/Decker, Oliver [Hrsg.]: Prekärer Zusammenhalt. Gießen: Psychosozial-Verlag, S. 149–172.
Horkheimer, Max/Fromm, Erich/Marcuse, H. (1936): Studien über Autorität und Familie: Forschungsberichte aus dem Institut für Sozialforschung. zu Klampen.
Jaschke, Hans-Gerd (2001): Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit. Begriffe, Positionen, Praxisfelder. Westdeutscher Verlag: Wiesbaden.
Kiess, Johannes (2011): Rechtsextrem – extremistisch – demokratisch? Der prekäre Begriff ‚Rechtsextremismus‘ in der Einstellungsforschung. In: Buck, Elena/Dölemeyer, Anne/Ersleben, Paul/Kausch, Stefan /Mehrer, Anne/Rodatz, Mathias/Schubert, Frank/Wiedemann, Gregor [Hrsg.]: Ordnung. Macht. Extremismus. Effekte und Alternativen des Extremismus-Modells. Springer: Wiesbaden, S. 240–260.
Kiess, Johannes/Schmidt, Andre (2020): Beteiligung, Solidarität und Anerkennung in der Arbeitswelt: industrial citizenship zur Stärkung der Demokratie. In: Decker, Oliver/Brähler, Elmar [Hrsg.]: Autoritäre Dynamiken. Alte Ressentiments – neue Radikalität. Psychosozial Verlag: Gießen, S. 119–147.
Marcuse, Herbert (1963): Das Veralten der Psychoanalyse. In: Marcuse, Herbert: Kultur und Gesellschaft. Bd. 2. Suhrkamp: Frankfurt a. M., S. 85–106.
Rippl, Susanne/Baier, Dirk (2005): Das Deprivationskonzept in der Rechtsextremismusforschung: Eine vergleichende Analyse. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 57, 644-666.
Schuler, Julia/Kiess, Johannes/Decker, Oliver/Brähler, Elmar (2020): Verbreitung antidemokratischer Einstellungen und Parteipräferenz. In: Heller, Ayline/ Decker, Oliver/Brähler, Elmar [Hrsg.]: Prekärer Zusammenhalt. Psychosozial Verlag: Gießen, S. 245–272.
Simmel, Georg (1908): Soziologie. Über die Formen der Vergesellschaftung. Suhrkamp: Frankfurt a. M.
Spier, Tim (2010): Modernisierungsverlierer. Die Wählerschaft rechtspopulistischer Parteien in Westeuropa. VS Verlag Wiesbaden.
Weyand, Jan (2020): Der Aufstieg des Nationalismus und die Theorie des autoritären Charakters. In: Stahl, Andreas/Henkelmann, Katrin/Jäckel, Christian/Zopes, Benedikt/Wünsch, Niklas [Hrsg.]: Konformistische Rebellen: Zur Aktualität des autoritären Charakters. Verbrecherverlag: Berlin, S. 249–264.
Yoxon, Barbara/van Hauwaert, Steven/Kiess, Johannes (2019): Picking on immigrants: a cross-national analysis of individual-level relative deprivation and authoritarianism as predictors of anti-foreign prejudice. In: Acta Politica, 54, Heft 3, S. 479–520.