Wer kann mitmachen? Ein Forschungsprojekt zu Hürden von politischer Beteiligung für Menschen mit Migrationsgeschichten

Das Forschungsprojekt „Wer kann mitmachen?“ untersucht in einer mehrsprachigen, repräsentativen Umfrage mit Menschen mit und ohne Migrationsgeschichten die Hürden zur politischen Beteiligung von Menschen mit Migrationsgeschichten in Deutschland. Durch eine kritische Auseinandersetzung mit der Kategorie „Migrationshintergrund“ wird analysiert, inwiefern die Faktoren Selbstidentifikation und Rassismuserfahrung eine Rolle bei der politischen Beteiligung spielen. Die Ergebnisse zeigen, dass Menschen mit Migrationsgeschichten häufiger strukturelle Barrieren bei der politischen Beteiligung erfahren. Sie engagieren sich gesellschaftlich ähnlich stark wie der Durchschnitt, beteiligen sich aber weniger an Wahlen. Menschen mit statistischem Migrationshintergrund wollen sich jedoch überdurchschnittlich mehr einbringen, vor allem, wenn sie selbst Rassismus erfahren haben. Um das bestehende Partizipationspotenzial stärker auszuschöpfen, ist der Abbau struktureller Barrieren zur Beteiligung von Menschen mit Migrationsgeschichten wichtig. Außerdem wird gezeigt, dass der statistische „Migrationshintergrund“ als Kategorie allein unzureichend ist.

Die Debatte um den „Migrationshintergrund“

In Deutschland gibt es viele Diskussionen über Menschen mit sogenanntem „Migrationshintergrund“. Meistens sind diese jedoch in zweierlei Hinsicht unzureichend. Zum einen gehen sie oft davon aus, dass eine Migrationsgeschichte etwas Einheitliches ist und als allgemeine Kategorie zur Charakterisierung einer Bevölkerungsgruppe verwendet werden kann. Dabei gibt es diese eine Gruppe nicht, sondern Menschen mit Migrationsgeschichten sind sehr vielfältig: Sie sind vielleicht gar nicht selbst eingewandert, sondern Nachkommen von Eingewanderten, und haben unterschiedliche Herkunftsgeschichten und Erfahrungen hier in Deutschland (Ahyoud et al. 2018; Neue Deutsche Medienmacher*innen 2021). Zum anderen wird oft angenommen, dass für diese Menschen die „Migrationsgeschichten“ der entscheidende Grund dafür sind, sich politisch zu beteiligen. Dabei können andere, sich überschneidende Faktoren wie Geschlecht, sozioökonomischer Status oder Diskriminierungserfahrung genauso wichtig sein (Müssig 2020; Spies et al. 2020; Forschungsbereich beim Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration 2020).

Zahlreiche Studien untersuchten bereits die Teilhabe von Menschen mit statistischem Migrationshintergrund in Deutschland in Politik und Gesellschaft (Bausch et al. 2011; Müssig und Worbs 2012; Wilmes 2018; Sauer 2020). Diese zeigen oft, dass sich Menschen mit „Migrationshintergrund“ sowohl weniger an Wahlen als auch an anderen Formen des gesellschaftlichen Engagements beteiligen (Müssig 2020; Forschungsbereich beim Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration 2020). Als Ursachen werden persönliche Beweggründe, aber auch strukturelle Barrieren wie etwa sozioökonomische Nachteile oder eingeschränkte politische Rechte angeführt. Daraus folgt, dass (Nicht-)Beteiligung nicht nur individuell in den Menschen begründet liegt (Müssig 2020).

„Zur Bevölkerung mit Migrationshintergrund zählen alle Personen, die die deutsche Staatsangehörigkeit nicht durch Geburt besitzen oder die mindestens ein Elternteil haben, auf das dies zutrifft“ (Statistisches Bundesamt 2021). Dieser „statistische Migrationshintergrund“, die Kategorie des Statistischen Bundesamts, wird in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Debatte genauso wie der Begriff selbst zunehmend kritisch hinterfragt. Stimmen aus der Zivilgesellschaft, den Medien und der Wissenschaft werfen die Frage auf, inwieweit die Kategorie noch zeitgemäß und sinnvoll ist und fordern teils sogar das Ende ihrer Nutzung (Will 2016, 2018, 2019; Supik 2017; Ataman 2018; Fachkommission der Bundesregierung zu den Rahmenbedingungen der Integrationsfähigkeit 2020). Denn es gibt viele Menschen in Deutschland, die die statistische Definition des Migrationshintergrunds nicht erfüllen, weil ihre Familien seit mehreren Generationen in Deutschland leben, die aber trotzdem rassistische Diskriminierungen erfahren. Gleichzeitig grenzt der Begriff stets eine große Gruppe von Menschen, die sehr unterschiedlich sind, von der Mehrheitsgesellschaft ab. Außerdem gibt es Menschen, die laut Statistischem Bundesamt einen Migrationshintergrund haben, die sich selbst aber gar nicht mit dieser Kategorie identifizieren (Hübner et al. 2021). Der Begriff „Migrationshintergrund“ deckt also nicht alle Gruppen ab, die Migrationsgeschichten1 haben, und vereinheitlicht ganz unterschiedliche Erfahrungen in einer Kategorie. Diese Unterscheidungen können jedoch enorm wichtig sein, wenn die politische Beteiligung von Menschen mit verschiedenen Migrationsgeschichten untersucht wird, wie wir es in unserem Projekt beabsichtigten. Deswegen setzen wir uns mit der Kategorie „Migrationshintergrund“ kritisch auseinander, versuchen sie aufzubrechen und haben ein besonderes Interesse daran, herauszufinden, inwieweit die Faktoren „Selbstidentifikation“ und „Rassismuserfahrung“ eine Rolle spielen bei den Hürden zur politischen Beteiligung und bei den Wünschen von Menschen mit Migrationsgeschichten an die Politik.

Methodik

Unsere Ergebnisse basieren auf einer Befragung, an der 3.012 Menschen in Deutschland teilnahmen, von denen 1.003 Personen keinen Migrationshintergrund und 2.009 Personen einen statistischen Migrationshintergrund haben. Die Erhebung wurde online vom 7. bis 22. Mai 2021 durchgeführt und ist repräsentativ für die 16- bis 74-Jährigen in Deutschland. Dies wurde durch ein detailliertes Stichprobendesign erreicht, das die Teilnehmenden in ihrer Zusammensetzung der Bevölkerung nach Geschlecht, Alter, Bildung, Bundesland, Berufsgruppe sowie Migrationshintergrund angleicht. Der Fragebogen war auf Deutsch, Arabisch, Türkisch und Russisch verfügbar2.

„Migrationshintergrund“, Rassismuserfahrungen und Selbstidentifikation

Zu Beginn stellten wir die Frage: „Mit welchen dieser Gruppen identifizieren Sie sich?“ Man konnte hier mehrere Antworten geben:

  • Jungen Menschen
  • Arbeiterinnen und Arbeiter
  • Menschen mit Migrationshintergrund
  • People of colour
  • Lesbische, schwule, bisexuelle, transsexuelle, transgender, intersexuelle und/oder queere Menschen
  • Eltern
  • Kindern
  • Ausländer
  • Menschen mit Behinderung
  • Frauen
  • Rentnerinnen und Rentner
  • Andere, nämlich (bitte angeben)
  • Mit keiner dieser Gruppen

Die Antworten „Menschen mit Migrationshintergrund“ sowie „Ausländer“ haben wir genauer untersucht3. Wir nahmen die Bezeichnung „Ausländer“, obwohl sie stigmatisierend sein kann, bewusst mit auf, da der Begriff innerhalb von migrantischen Gruppen als Selbst-Bezeichnung genutzt wird (O’Brien-Coker 2020). Das Ergebnis war, dass nur ein Drittel der Menschen mit Migrationshintergrund sich selbst als solche oder als Ausländer identifizieren; 15 % würden beide Begriffe für sich selbst verwenden; 11 % nur Migrationshintergrund und 8 % nur Ausländer (Abb. 1). Dass sich zwei Drittel der Menschen mit „Migrationshintergrund“ selbst nicht als solche wahrnehmen, bedeutet: Die statistische Einordnung überschneidet sich nur begrenzt mit der Selbstwahrnehmung der Menschen.

Abb. 1: Selbstidentifikation von Menschen mit statistischem Migrationshintergrund (%)

Neben den Kategorien „statistischer Migrationshintergrund“ und „Selbstidentifikation“ ist der Faktor „rassistische Diskriminierungserfahrung“ wichtig. In der Forschung wurde bereits gezeigt, dass auch Menschen ohne statistischen Migrationshintergrund rassistische Diskriminierung erfahren können (Abdul-Rahman et al. 2020). Daher haben auch wir die Frage untersucht und in den Zusammenhang mit der Selbstidentifikation gestellt. Bei den Befragten ohne statistischen Migrationshintergrund haben immerhin 12 % in irgendeiner Form rassistische Diskriminierung erfahren (Abb. 2). Bei Menschen mit statistischem Migrationshintergrund war der Anteil derer, die schon rassistische Diskriminierung erlebt haben, dreimal höher: 36 %. Dazu haben in dieser Gruppe mehr Menschen Rassismus erfahren, die sich selbst mit dem Migrationshintergrund identifizieren, als die Personen, die dies nicht tun.

Abb. 2: Rassistische Diskriminierungserfahrungen und Selbstidentifikation von Menschen mit statistischem Migrationshintergrund (%, N=2.009) und ohne statistischen Migrationshintergrund (%, N=1.003)

Weil Diskriminierung aber auf mehreren Ebenen gleichzeitig stattfinden kann, untersuchten wir, wie oft die Befragten Diskriminierungen in Bezug auf Geschlecht, sozioökonomische Faktoren (Einkommen, Bildung) oder Rassismus (Hautfarbe, Sprache, Nationalität, Herkunft) erlebten (Abb. 3).

Abb. 3: Diskriminierungserfahrungen in verschiedenen Bereichen nach statistischem Migrationshintergrund und Selbstidentifikation (%)

Die Unterschiede zwischen den Menschen mit und ohne statistischen Migrationshintergrund und denen, die sich als solche wahrnehmen, fallen bei Geschlechter- und sozioökonomischen Diskriminierungen gering aus. Der Unterschied bei rassistischer Diskriminierung ist hingegen enorm stark. Menschen mit statistischem Migrationshintergrund haben eine deutliche höhere Wahrscheinlichkeit, rassistische Diskriminierung zu erleben. Denn bei denjenigen mit Migrationshintergrund, die sich aber nicht als solche identifizieren, haben mehr als doppelt so viele Rassismus erfahren als bei denen ohne Migrationshintergrund (23 % zu 11 %). Bei jenen mit Migrationshintergrund und Selbstidentifikation fällt der Anteil sogar sechsmal so hoch aus (63 % zu 11 %).

Abb. 4: Rassismuserfahrungen in verschiedenen Bereichen nach statistischem Migrationshintergrund und Selbstidentifikation (%)

Rassistische Diskriminierung ist also nicht nur auf klassische Faktoren wie die sozioökonomische Situation zurückzuführen, weil Menschen mit Migrationsgeschichten oft in weniger privilegierten Umständen leben. Stattdessen spielt rassistische Diskriminierung eine signifikante und zusätzliche Rolle. Die Bereiche, in denen rassistische Diskriminierungen erlebt werden, sind dabei verschieden: im öffentlichen Raum, in sozialen Netzwerken, in Behörden oder im Gesundheitssystem, in der Bildung, im Job oder bei der Wohnungssuche (Abb. 4).

Es gibt einen substanziellen Unterschied in der Rassismuserfahrung zwischen den Gruppen mit Migrationshintergrund und denjenigen ohne. Bei jenen, die einen Migrationshintergrund haben, sich aber nicht so identifizieren, erleben ungefähr doppelt so viele Rassismus in allen Bereichen; bei jenen mit Migrationshintergrund und Selbstidentifikation gar dreieinhalb bis viermal so viele (Abb. 4). Identifikation und Migrationsstatus sind also nicht nur im Allgemeinen, sondern auch in vielen Alltagsbereichen mit Rassismuserfahrungen verbunden. Somit ist es wichtig, beide Kategorien mit zu untersuchen. In den folgenden Analysen zur politischen Beteiligung und Wünschen an die Politik unterscheiden wir daher durchgängig, ob Menschen Rassismus erfahren haben, ob sie einen statistischen Migrationshintergrund haben und falls ja, ob sie sich selbst damit identifizieren.

Vergleichsgruppen für die Analysen

Politische Beteiligung

Bei der Frage nach der politischen Beteiligung haben wir eine breite Auswahl an Formen der Partizipation abgefragt: formelle Formen, z. B. Mitarbeit in einem Verein oder einer Partei, und informelle Wege, z. B. Nachbarschaftshilfe, Teilnahme an Demonstrationen, Boykotts oder Petitionen. Unsere Befragung zeigt, dass Menschen mit Migrationsgeschichten sich ähnlich stark gesellschaftlich engagieren wie Menschen ohne Migrationsgeschichten. Abbildung 5 zeigt die Ergebnisse für das Engagement in einer Organisation auf. Ähnliche Verteilungen stellen sich aber auch bei der Unterstützung in der Nachbarschaft, Unterzeichnung von Petitionen und der Teilnahme an Demonstrationen heraus. Zusätzlich nutzen Menschen mit Migrationshintergrund teilweise sogar stärker als Menschen ohne Migrationshintergrund Online-Formate zur politischen Information oder zum Austausch (Dege et al. 2021). Zwischen den beiden Gruppen stellt sich jedoch ein Unterschied, wie bereits aus anderen Studien bekannt, in der Wahlbeteiligung heraus: Befragte mit statistischem Migrationshintergrund bekunden weniger oft die Absicht, wählen zu gehen (Abb. 6).

Abb. 5: Anteil (%) derer, die sich jemals ehrenamtlich in einer Organisation engagiert haben

Abb. 6: Anteil (%) derer, die definitiv die Absicht haben, an Bundestagswahlen teilzunehmen (nur Wahlberechtigte)

Eine Schlussfolgerung wäre, anzunehmen, dass die geringere Wahlbeteiligung am politischen Desinteresse liege. Die Umfrage ergab jedoch das Gegenteil: Menschen mit Migrationshintergrund bekunden überdurchschnittlich oft, sich mehr politisch einbringen zu wollen. Dies gilt insbesondere für diejenigen, die selbst rassistische Diskriminierung erfahren haben (Abb. 7). Hier unterscheiden sie sich in ihren politischen Einstellungen und Beteiligungen von den Befragten, die zwar einen Migrationshintergrund, aber keinen Rassismus erfahren haben, sowie von denen, die sich nicht mit der Kategorie identifizieren.

Abb. 7: Anteil (%) derer, die Interesse an mehr politischem Engagement haben

Menschen mit Migrationshintergrund (mit und ohne Selbstidentifikation) und Rassismuserfahrungen geben zudem viel häufiger als die Gesamtbevölkerung an, dass sie schon einmal versucht haben, sich politisch zu engagieren, jedoch Diskriminierung erfuhren und deswegen damit aufgehört haben (fünf- bis sechsmal so oft wie Menschen ohne Migrationshintergrund und Rassismus­erfahrungen) (Abb. 8).

Abb. 8: Anteil (%) derer, die Diskriminierungserfahrungen in der Beteiligung erlebt haben

Unsere Ergebnisse zeigen: Menschen mit statistischem Migrationshintergrund erfahren häufiger rassistische Diskriminierung – sowohl in ihrem Engagement, im Alltag als auch durch staatliche Institutionen. Aufgrund der häufigeren Diskriminierungen sind diese Menschen also mit zusätzlichen Barrieren zur Partizipation konfrontiert. Diese strukturellen Hürden müssen unbedingt berücksichtigt werden, wenn wir über die politische Beteiligung von Menschen mit Migrationsgeschichten sprechen.

Wünsche an die Politik

Der bestehende Wunsch nach mehr Beteiligung spiegelt sich auch in der Befürwortung eines inklusiveren Wahlrechts wider. Insbesondere diejenigen mit statistischem Migrationshintergrund, die sich als solche identifizieren, sprechen sich am deutlichsten dafür aus, dass alle in Deutschland lebenden Erwachsenen das Wahlrecht erhalten sollten (Abb. 9).

Die Unterstützung für mehr Zugänge zur Politik setzt sich zudem in dem Wunsch nach mehr politischer Repräsentation fort. Wieder gibt es eine klare Mehrheit bei den Befragten mit statistischem Migrationshintergrund, die sich selbst als solche wahrnehmen. Sie finden, dass Menschen mit Migrationshintergrund zu wenig in den Parlamenten vertreten sind. Am stärksten stimmen dieser Aussage diejenigen zu, die selbst rassistische Diskriminierung erlebt haben (56 %) (Abb. 10).

Abb. 9: Zustimmung zur Forderung nach inklusiverem Wahlrecht (%)

Abb. 10: Anteil (%) derer, die angeben, dass Menschen mit Migrationshintergrund zu wenig in Parlamenten repräsentiert sind

Dieser Wunsch ist jedoch nicht nur auf diese Gruppe beschränkt. Es waren mehrere Antworten möglich und die Befragten in allen Gruppen sprachen sich für mehr Repräsentation von anderen, oft marginalisierten Gruppen aus, z. B. Frauen, Arbeiter:innen und People of Colour (Dege et al. 2021). Eine ähnliche Verteilung sehen wir bei der Frage, welche Gruppen mehr Aufmerksamkeit von der Politik erhalten sollten. Auch hier möchten Menschen mit statistischem Migrationshintergrund, die sich selbst so identifizieren (und noch verstärkt, wenn sie Rassismus erfahren haben), dass die Politik mehr auf Menschen mit Migrationsgeschichten eingeht (Abb. 11).

Abb. 11: Anteil (%) derer, die sich mehr Aufmerksamkeit von der Politik für Menschen mit Migrationshintergrund wünschen

Erneut wünschen sich die Befragten dieser Gruppe aber auch, dass andere Gruppen, wie Frauen, junge Menschen und People of Colour, politisch mehr Aufmerksamkeit erhalten (Dege et al. 2021). Das Bemerkenswerte hieran ist, dass der Wunsch nach mehr Aufmerksamkeit und Repräsentation für Menschen mit Migrationsgeschichten, vor allem unter jenen, die selbst Rassismuserfahrungen haben, also nicht auf Kosten anderer Gruppen geht. Der Wunsch nach mehr Diversität in und Aufmerksamkeit von der Politik ist insgesamt solidarisch ausgerichtet.

Schlussfolgerungen

Die kritische Auseinandersetzung mit der Kategorie „Migrationshintergrund“ in unserem Forschungsprojekt „Wer kann mitmachen?“ verdeutlicht, welche Rolle diese bei der Selbstidentifikation, Diskriminierungserfahrung, politischer Beteiligung und Wünschen an die Politik spielt. Die Ergebnisse bekräftigen, dass der statistische Migrationshintergrund als Kategorie allein keine differenzierte Betrachtung ermöglicht, die jedoch für derartige Untersuchungen notwendig ist. Deswegen muss die Kategorie gemeinsam mit der Selbstidentifikation und den Rassismuserfahrungen analysiert werden.

Die differenzierte Analyse offenbart, dass Menschen mit Migrationsgeschichten häufiger strukturelle Barrieren bei der politischen Beteiligung erfahren. Sie engagieren sich gesellschaftlich ähnlich stark wie der Durchschnitt, beteiligen sich aber weniger an Wahlen. Menschen mit statistischem Migrationshintergrund wollen sich jedoch überdurchschnittlich mehr einbringen, vor allem, wenn sie selbst Rassismus erfahren haben. Einige haben aufgrund von negativen Erfahrungen bei der Beteiligung jedoch ihr Engagement eingestellt.

Der Wunsch nach mehr Beteiligung spiegelt sich auch in der Befürwortung eines inklusiveren Wahlrechts wider. Menschen mit Migrationsgeschichten möchten mehrheitlich nicht nur, dass alle in Deutschland lebenden Erwachsenen wählen können, sondern vermissen auch ihre Repräsentation in der Politik durch Menschen, die selbst Migrationsgeschichten haben. Darüber hinaus wollen sie, dass Menschen mit Migrationsgeschichten genauso wie andere marginalisierte Gruppen mehr Aufmerksamkeit von der Politik erhalten. Das verdeutlicht, wie solidarisch diese Wünsche nach mehr Mitbestimmung sind. Der Abbau struktureller Barrieren zur Beteiligung von Menschen mit Migrationsgeschichten ist also wichtig, um das bestehende Partizipationspotenzial stärker auszuschöpfen. Dabei ist es entscheidend, die äußerst verschiedenen Erfahrungen innerhalb der Gruppen von Menschen mit statistischem Migrationshintergrund zu berücksichtigen. Ob sich jemand selbst so identifiziert, ist genauso wichtig wie die Tatsache, ob Menschen rassistische Diskriminierung erfahren haben. Da Menschen mit Migrationsgeschichten sich mehr beteiligen möchten, liegt es an den Parteien, Institutionen sowie zivilgesellschaftlichen Organisationen, diese motivierten Menschen zu mobilisieren und proaktiv ihr Engagement zu fördern.

 

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1    Wir verwenden den Begriff „Migrationshintergrund“ für diese Studie analytisch, wenn wir mit der Kategorie des Statischen Bundesamts und dessen Statistiken arbeiten. Gespräche mit Expert:innen aus Wissenschaft, Zivilgesellschaft, Politik und den Medien ergaben, dass alternative Begriffe bevorzugt werden. Wenn es inhaltlich über die statistische Kategorie hinausgeht, sprechen wir von „Menschen mit Migrationsgeschichten“, um die Vielfältigkeit an verschiedenen Erfahrungen zu berücksichtigen.

2    Details zur Methodik finden sich auf der Projektwebsite https://dpart.org/de/wkm-methodische-anmerkungen/.

3    Wir haben hier bewusst nur die Antwortoptionen „Mensch mit Migrationshintergrund“ und „Ausländer“ (und z. B. nicht „People of Colour“) ausgewertet, weil wir herausfinden wollten, inwiefern sich Menschen mit statistischem Migrationshintergrund auch selbst so bezeichnen. Die Antwort „Ausländer“ wurde berücksichtigt, weil der Begriff oft als Selbstbezeichnung von Menschen mit Migrationshintergrund verwendet wird.

Literatur

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