Podiumsdiskussion „Was tun – Erkenntnisse und Handlungsperspektiven“

Empfohlene Zitierung:

Ballon, Josephine/Hentrich, Sonja/Bohm, Ann-Sophie/Kamuf, Viktoria (2023). Podiumsdiskussion „Was tun – Erkenntnisse und Handlungsperspektiven“. In: Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (Hg.). Wissen schafft Demokratie. Schwerpunkt Antifeminismus & Hasskriminalität, Band 13, Online-Ausgabe. Jena, 330–341.

Schlagwörter:

Hasskriminalität, Antifeminismus, geschlechtsspezifische Gewalt, Handlungsperspektiven

 


Beim Abschlusspodium der Tagung wurden Erkenntnisse aus den verschiedenen Panels und Vorträgen zusammengeführt und Handlungsperspektiven im Kampf gegen Antifeminismus und Hasskriminalität besprochen. Viktoria Kamuf, wissenschaftliche Mitarbeiterin am IDZ, diskutiert mit Sonja Hentrich vom Brennessel e. V. aus Erfurt, Josephine Ballon, Rechtsanwältin und Head of Legal bei der Organisation HateAid, und Ann-Sophie Bohm, Landessprecherin der Grünen in Thüringen und Mitglied im Stadtrat in Weimar.


Viktoria Kamuf1

Gestern fiel im Rahmen der Tagung sinngemäß folgender Satz: „Es geht nicht nur darum zu erkennen, was sexistische und antifeministische Gewalt ist und diese Gewalt zu erfassen, sondern es geht auch um den Schutz.“ Deswegen möchte ich als erstes auf diesen Aspekt eingehen und fragen: Was wünschen Sie sich, damit Frauen und queere Personen besser vor Gewalt geschützt werden? Was sind zentrale Bedarfe und Forderungen?

Ann-Sophie Bohm

Zuallererst, und das ist unerlässlich: Das Erfassen in den Statistiken ist ein wichtiger politischer Schritt: Denn wenn ich keine Zahlen habe, wenn ich ein riesiges Dunkelfeld habe, kann ich politisch schwer argumentieren. In Thüringen wird Hasskriminalität seit Kurzem erfasst. Wenn wir uns die Statistik für Thüringen anschauen, sind die Zahlen der Hasskriminalität wegen des Geschlechts aber nur marginal. Diese Zahlen bilden bei Weitem nicht das ab, was tatsächlich passiert. Deshalb muss ich die Menschen in der Polizei und Justiz schulen, geschlechtsspezifische Hasskriminalität zu erkennen. Wenn ein Mann auf seine Lebensgefährtin einsticht und die Begründung der Polizei lautet „familiäre Hintergründe“, dann ist das ein Kleinreden des Problems. Erfassungen dürfen nie nur um ihrer selbst willen passieren, sondern sie müssen immer ein Ausdruck dessen sein, dass man das Thema enttabuisiert und aufzeigt, dass es ein Problem ist. Ich erlebe häufig, dass von politischen Entscheidern, naja, Entscheider*innen, ich gendere es doch, aber es sind häufig Männer, negiert wird, dass es ein grundlegendes strukturelles Problem ist oder es dann so dargestellt wird, als sei es „nur“ ein Problem in bestimmten Kulturkreisen. Wir müssen ran an das Problem, dass sexualisierte Gewalt gegen Frau bagatellisiert wird, wir müssen ran an das subtile Verharmlosen, an den subtilen Sexismus, den viele von uns kennen. Es ist eine große Baustelle, eine so große, dass wir uns kleine Maßnahmen rauspicken müssen, die dann dazu führen, dass man den Fuß in die Tür bekommt und den Finger in die Wunde legen kann.

Sonja Hentrich

Wir sind als Brennessel-Verein 32 Jahre mit dem Thema Gewalt gegen Frauen beschäftigt. Was wir in der letzten Zeit erleben: Die Frauenhauslandschaft hat sich dezimiert. Es gibt zwar Frauenhäuser in Thüringen – diese stellen aber nur 147 Betten bereit. Laut Istanbuler Konvention sollten es mindestens 287 Frauenhausbetten sein. Hier zeigt sich also eine Unterversorgung – sowohl hinsichtlich des Vorhaltens der Betten als auch in Hinblick auf das Fachpersonal. Zudem haben wir ein großes Problem in Thüringen damit, dass kein Frauenhaus barrierefrei ist. Frauen, die zum Beispiel Behinderungen haben, werden dann in andere Bundesländer verwiesen. Doch auch bundesweit besteht das Problem, denn wir haben laut Richtlinien der Istanbuler Konvention über 3.300 Betten zu wenig. Das müssen wir verändern.

Viktoria Kamuf

Die gleiche Frage geht auch an Josephine Ballon – mit Fokus auf digitale Gewalt. Was muss getan werden und inwiefern knüpft das vielleicht an die Erfahrung an, die konkret vor Ort gemacht wird? Wie kann hier ein größerer Schutz gewährleistet werden? Und wie kann der Schutz im digitalen Raum auf den Schutz im analogen Raum einwirken?

Josephine Ballon

Ich würde an das Thema statistische Erfassung anknüpfen und noch Schulung und Sensibilisierung ergänzen. Das braucht es einmal auf staatlicher Ebene, bei den Behörden, in der Justiz. Mir sagte mal ein Polizeibeamter, dass das Thema „politisch motivierte Kriminalität“ für den gehobenen und mittleren Dienst in seinem Bundesland ganze drei Zeitstunden einnehme, und dass die Beamt*innen auf der Dienststelle nicht wüssten, was ein Incel ist. Ich nehme ein ganz großes Bedürfnis nach besseren Zahlen und nach besserer Datengrundlage wahr – und in der Justiz eine immer größere Offenheit, sich auch mit dem Thema zu befassen. Dafür braucht es vor allem eine flächendeckende Schulung und Ausbildung – bis hin zur letzten Polizeidienststelle. Es nützt nichts, wenn wir spezialisierte Stellen schaffen, die sehr hoch bei Staatsanwaltschaften und Gerichten angesiedelt sind, wenn aber am Ende des Tages niemand dort hinkommt oder die Fälle dort im Papierkorb landen. Das ist ein Anliegen, das mir sehr wichtig ist, und vor allem für die digitale Gewalt kann ich sagen, dass es immer noch an einer Erkenntnis der gesamtgesellschaftlichen Komponente des Problems mangelt. Was bedeutet es, wenn Leute sich aus dem öffentlichen Diskurs im Internet zurückziehen? Was bedeutet es, wenn Frauen sich zurückziehen, wenn ihre Meinungen und Stimmen nicht mehr stattfinden? Welche gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen hat das auf alle Lebensbereiche? Hier braucht es mehr Aufklärungsarbeit, um aufzuzeigen, dass es sich um ein strukturelles Problem und nicht um traurige Einzelfälle handelt. Denn das ist leider die Art, wie Justiz und Strafverfolgung oft denken.

Viktoria Kamuf

Diese Verbindung zwischen einer allgemeinen gesellschaftlichen Abwertung von Frauen oder auch dem Ausschluss von Frauen und queeren Personen aus bestimmten Räumen und ganz konkreter Gewalt ist in vielen Sessions dieser Tagung deutlich geworden. In ihrem Grußwort hat Laura Wahl eine sehr aktuelle Entscheidung im Thüringer Landtag angesprochen, die sich genau auf diese allgemeine gesellschaftliche Dimension, die der Gewalt vorgeschaltet ist, bezieht. Ann-Sophie Bohm, könntest du kurz beschreiben und reflektieren, um was für eine Entscheidung es da ging?

Ann-Sophie Bohm

Wir alle kennen die Scheindebatten, die aus konservativen und rechten Richtungen aufgemacht werden, und die sich gegen das Gendern richten. Nun gab auch es im Thüringer Landtag den Antrag von der CDU, dass Landtag und Landesregierung nicht öffentlich gendern sollen. Vorausgegangen war intern eine Auseinandersetzung darüber, wie man im Protokoll des Plenums gendert. Eine, wenn auch knappe, Parlamentsmehrheit hat das nun mit Stimmen der AfD beschlossen. Der Antrag erhielt 38 von 74 abgegebenen Stimmen, 36 Abgeordnete stimmten dagegen. Thüringen hat damit mal wieder eine Negativschlagzeile produziert à la: „Landtag verbietet das Gendern“. Es ist zwar nur eine Empfehlung und hat in dem Sinne keine Rechtskraft, aber es zeigt, auf welchem Niveau wir uns befinden, wenn wir über Minderheitenschutz, Frauenrechte, Gewaltschutz und Gewaltprävention sprechen. Parteien und Fraktionen, die Themen wie Anti-Gender-Kampagnen vorantreiben, geht es nicht darum, gleichstellungspolitische Themen nach vorn zu stellen. Sonst wären wir ja im Gewaltschutz und in der Gewaltprävention schon weiter.

Viktoria Kamuf

Um die Sensibilisierung und Aufklärung zu erreichen, die ihr angesprochen habt, geht es letztlich immer auch darum, Personen zu erreichen, die zwar nicht antifeministisch eingestellt sind, sich aber auch nicht konkret für feministische Anliegen engagieren. Josephine Ballon: Ihr macht Aufklärungsarbeit und Kampagnen. Wie reflektiert ihr in eurer Arbeit die Bystander, also die Leute, die sich noch nicht aktiv engagieren, aber prinzipiell offen für die Themen sind?

Josephine Ballon

Es ist wichtig, auch die Bystander zu erreichen – nicht nur die konkreten Entscheidungsträger*innen, sondern auch die Gesellschaft als Ganzes und alle, die wir am öffentlichen Diskurs tatsächlich teilnehmen, entweder passiv oder aktiv. Es geht bei vielen sexistischen oder antifeministischen Angriffen ja selten tatsächlich darum, eine bestimmte Person anzugreifen und herabzuwürdigen, sondern darum, einen Ausstrahlungseffekt zu erzielen, ein Exempel zu statuieren und zu zeigen: sich öffentlich zu diesen und jenen Themen zu äußern, sich stark zu machen, kann diese Konsequenzen haben. Das ist mittlerweile als Silencing-Effekt bekannt. Wir gehen das Thema auf verschiedenen Ebenen an. Es geht einmal um die politische Arbeit, dann geht es natürlich aber auch um öffentlichkeitswirksame Kampagnen, in denen wir häufiger auch Betroffene zu Wort kommen lassen, sofern wir denn Betroffene finden, die sich das zutrauen. Das trauen sich meist nur Personen des öffentlichen Lebens zu, denen wir öffentliche Aufmerksamkeit für ihre Fälle verdanken. Zudem kann man sich gerade von erfolgreicher Rechtsdurchsetzung oder von erfolgreichen Kampagnen, die Betroffene wehrhaft gemacht haben, einen Abschreckungseffekt erhoffen. Und dann hat es natürlich einen enormen Empowerment-Effekt, anderen Betroffenen zu zeigen: ‚Es ist nicht normal. Du musst es nicht aushalten, nur weil wir alle daran gewöhnt sind.‘

Viktoria Kamuf

Dankeschön, ich gebe das direkt weiter an Ann-Sophie Bohm und Sonja Hentrich: Menschen ansprechen, die aktuell noch unbeteiligt sind. Wie macht ihr das?

Ann-Sophie Bohm

Daran anknüpfend freue ich mich, dass zum Beispiel auch hier im Publikum viele männlich gelesene Personen sind, denn das ist ein Thema, das wir nicht aus der Welt schaffen können, wenn es immer nur als Frauenthema abgestempelt wird. Es sind keine individuellen Probleme von Frauen, sondern es ist ein gesellschaftliches. Ich kenne auch viele starke Frauen, die sich nicht als Feministinnen verstehen. Ich finde, bei einer Ansprache muss man da noch mal ein bisschen weiterdenken: Irgendwie meinen viele beim Wort „Feministinnen“, dass Feministinnen viel kämpfen und sich einsetzen, aber das muss es ja gar nicht sein. Das kann ja schon einfach ein Sprechen über bestimmte Themen sein, ein Aufzeigen, dass ein bestimmtes Verhalten zwar weit verbreitet, aber nicht normal ist. Menschen dazu zu bewegen, sich mehr einzubringen, funktioniert nur über ganz, ganz viel kleinteilige Arbeit über Kampagnen. Es gibt bereits gute bundesweite Kampagnen, die gezielt auf Frauen und Opfer von Gewalt zielen. Und ich hoffe, dass mit der Ampel-Bundesregierung auch noch mal ein paar Sachen passieren.

Sonja Hentrich

Ich hatte gerade die Idee, dass es vielleicht ein Generationenproblem ist, dass letztendlich unsere Gesellschaft noch stark patriarchal geprägt ist – und Frauen werden meistens von der älteren männlichen Generation angegriffen und man kann ja die Hoffnung haben, wenn diese Generation ausgestorben ist, dass es sich dann schlagartig verändert. In der Generation um die 30, vielleicht noch ein bisschen jünger, gibt es viele junge Männer, die sich solidarisch mit Frauen verbünden und sensibel für die Themen sind. Eines steht fest: Das Patriarchat schadet den Männern genauso wie uns Frauen.

Josephine Ballon

Ich würde gern ergänzen: Wenn wir Aufklärungsveranstaltungen machen, dann ist es oft so, dass wir sehr viel Aufgeschlossenheit spüren, aber auch viel Unwissenheit begegnen und dass mich häufiger auch schon Politiker angesprochen haben und gesagt haben: ‚Ja, also ich konnte mir das immer gar nicht vorstellen, ich hatte ja keine Ahnung, und dann hat mir meine Kollegin gezeigt, was in ihren Social-Media-Feeds passierte, nachdem sie eine Rede im Plenum gehalten hat.‘ Und dann denke er an seine zwei Töchter oder an seine Frau und frage sich: ‚Was heißt das für mich?‘ Ich denke, es gibt also auch eine ganz große Chance, weil die Leute bei geschlechtsspezifischer Gewalt einen Bezug dazu herstellen können: Jede*r hat eine Mutter, eine Frau oder vielleicht Töchter und hier lässt sich an den gesunden Menschenverstand appellierend klar machen, dass man öffentlich darüber sprechen muss und eben nicht so tut, als wäre es normal und als müssten wir verschämt darüber schweigen. Und hinzu kommt ein weiterer Punkt, der dem Ganzen in die Karten spielt: Frauen werden häufig so sexualisiert angegriffen, dass das Ganze eine Schamgrenze produziert, die verhindert, dass öffentlich darüber gesprochen wird, Anzeigen erstattet werden usw. Solche Erfahrungen sind meist zutiefst verstörend. Doch diese Schamgrenze müssen wir überwinden und ganz offen aussprechen, wo der Körper als Körper berührt ist.

Ann-Sophie Bohm

Da möchte ich anknüpfen und in den Iran schauen. Das ist natürlich überhaupt nicht vergleichbar mit den Sachen, die wir hier erleben oder was hier passiert. Aber worauf ich hinaus will, ist, dass die Proteste, die Revolution, die in Gang gekommen ist, von Frauen initiiert und getragen wird, mit feministischen Slogans wie „Frauen Leben Freiheit“. Und ich habe eine iranische Kollegin gefragt: Wie kommt es, dass sich im Iran so viele Männer anschließen und hinter einem feministischen Slogan vereinen können? Und sie hat es auch darauf zurückgeführt, dass Frauen im Iran extrem unterdrückt sind, aber die Männer mitbekommen, wie ihre weiblichen Familienmitglieder darunter leiden. Wenn wir das als Positivbeispiel nehmen und es auf uns übertragen, dann ist genau der Ansatz der richtige, dass man eben viel drüber spricht und dass wir aufzeigen, was wirklich passiert, weil ich glaube, dass viele sich das nicht vorstellen können. Kritik zum Beispiel, die an Frauen gerichtet ist, ist fast immer sexualisiert – in Schimpfwörtern, in Gewaltandrohungen.

Viktoria Kamuf

Ein Punkt, der während der Tagung immer wieder angesprochen wurde, war Vernetzung und Zusammenarbeit. Wir haben auf der Tagung und auch auf dem Podium Personen aus unterschiedlichen Regionen, aus verschiedenen Arbeitsbereichen und aktivistischen Perspektiven. Was denkt ihr: Wo genau könntet ihr euch gegenseitig unterstützen?

Ann-Sophie Bohm

Was wir konkret machen können, ist das Thema in die Parlamente tragen – und in die Öffentlichkeit. Bald ist zum Beispiel eine FLINTA*-Konferenz, die nicht nur für Mitglieder, sondern für alle ist, die sich mit dem Thema Hass und Anfeindung gegen FLINTA*-Personen beschäftigen. Wir als Politik nehmen immer auch eine Netzwerkfunktion ein, weil wir in das Gespräch gehen müssen und wollen, um rauszuhören, wo der Schuh drückt und wo angesetzt werden muss. Für die kommunalen Gleichstellungsbeauftragten gibt es zum Beispiel eine gesetzliche Pflicht, dass die existieren müssen, aber es gibt keine Vorschriften, wie sie auszustatten sind. Man kann natürlich auch prüfen: Braucht es größere Bündnisstrukturen, in die wir vielleicht gehen müssen. Wir haben in Thüringen vor Kurzem zum Beispiel ein Bündnis für legale und sichere Schwangerschaftsabbrüche gegründet, das überparteilich ist, mit verschiedene Institutionen. Vielleicht müssen wir so etwas auch noch mal mitdenken, wenn es um den Themenbereich Hasskriminalität, Anfeindungen von Frauen bzw. FLINTA*-Personen geht.

Sonja Hentrich

Also ich würde den Blick gern konkret auf die Frauen richten, die Unterstützung brauchen. Wenn ich an geflüchtete Frauen denke, die nicht in der Lage sind, sich durch diesen Verwaltungswust zu kämpfen, die vielleicht noch die Auflagen haben, vor Ort zu bleiben, und dann keinen Schutz finden, das ist aus meiner Sicht sehr problematisch für die Betroffenen. Bei den Frauen, die Deutsch sprechen, ist es oft so, dass wenn sie sich aus der Gewaltsituation herausbegeben, sie mitunter die Situation haben, dass sie zu wenig Geld haben für eine eigene Wohnung – gerade wenn noch Kinder dabei sind, reicht das Geld hinten und vorne nicht. Ich sage das deswegen so konkret, weil ich heute Morgen einen Bericht über das bedingungslose Grundeinkommen gelesen habe. Das wäre eine gute Zukunftsperspektive, denn es könnte dafür sorgen, dass Frauen ausreichend Finanzen zur Verfügung hätten, um selbstbestimmt auf dem angestrengten Wohnungsmarkt zurechtzukommen.

Josephine Ballon

Abgesehen davon, dass wir natürlich unsere Arbeit weiterführen werden, die sich mit den Betroffenen direkt in der Beratung, in der Rechtsdurchsetzung, aber auch auf politischer Ebene und in der Fortbildung von Polizei und Justiz abspielt, kann ich hervorheben, dass wir bemerken, dass der digitale Raum beispielsweise auf Veranstaltungen noch stark unterrepräsentiert ist. Das hat mich am Anfang schockiert. Es wurden viele Debatten geführt, wichtige Debatten über feministische Errungenschaften, aber es ging selten um den digitalen Raum. Wir werden uns weiterhin dafür einsetzen, auch klarzumachen: Man muss in den digitalen Raum gucken, denn Antifeminismus offenbart dort ein ganz besonders hässliches Gesicht – und das in aller Offenheit und mit einer Selbstverständlichkeit, die schockierend ist. Das heißt, wir werden weiter darauf hinweisen. Und natürlich möchte ich den Rahmen nutzen, um zu sagen, dass wir als NGO auch sehr gern eine strukturiertere Zusammenarbeit mit Wissenschaft und Forschung hätten. Ich glaube, dass beide von voneinander profitieren können – die Forschung von der Erfahrung „auf der Straße“, also eben da, wo die Betroffenen sich wirklich hinwenden. Und die NGOs brauchen für ihre Überzeugungsarbeit Daten und eine Forschung, die an den realen Bedürfnissen der Betroffenen orientiert ist. Ich möchte als Angebot und Anregung mitgeben, die NGOs mitzubedenken und unbedingt mit einzubeziehen. Ich erlebe leider auf vielen Veranstaltungen, dass das Paralleluniversen sind, die sich ab und zu überschneiden, aber wirklich strukturiert ist es meistens nicht.

Viktoria Kamuf

Das ist ein sehr wichtiger Punkt. Ich würde jetzt gern dem Publikum die Möglichkeit geben, Anmerkungen zu machen oder Fragen zu stellen.

Anmerkung aus dem Publikum

Wir haben verschiedene Perspektiven hören können und ich möchte eine vielleicht vergessene Perspektive einbringen – Barrierefreiheit, und zwar nicht nur in Bezug auf Behinderung oder behinderte Menschen. Den Begriff „behinderte Menschen“ benutze ich zweimal: Menschen werden behindert, nicht nur, weil sie eine Behinderung haben, sondern sie werden behindert. Es gibt sprachliche Barrieren, es gibt kulturelle Barrieren, die viele Frauen, die zum Beispiel Gewalt erleben und in sehr traditionellen Familien leben oder traditionell sozialisiert sind, nicht laut werden lassen. Für sie ist es schwer, Beratungsstellen aufzusuchen oder zu Frauenschutzhäusern zu gehen. Da fehlen Brücken und Anlaufstellen. Wir als muslimische Frauenorganisationen wollen diese professionell anbieten und erfahren wiederum politische und verwalterische Barrieren. Es geht darum, mit diesen Frauen zu arbeiten und diesen Frauen für Gegenwart und Zukunft eine Perspektive anzubieten. Es ist keine Integrationsarbeit, die wir leisten wollen, sondern es gehört zum ganz normalen Regelwerk in Deutschland und da müssen wir wirklich a) eine Solidarisierung innerhalb der Frauengruppen und Frauenorganisationen hinbekommen und b) auch die Politik dafür öffnen, dass sie mal von ihrem ganz „Herrschendenblick“ abkommt und reflektiert: Gibt es in der Tat solche Grauzonen, gibt es in der Tat solche Gruppen? Wie können wir diese Gruppen erreichen, wie können wir diese Frauen erreichen? Das ist nicht unbedingt eine Parallelstruktur, sondern wenn diese Dienstleistungen für alle offen sind, müssen wir bestimmte Gruppen erreichen. Unsere Bestrebung sollte auch Gehör finden, sodass es eine Signalwirkung innerhalb einer bestimmten Community geben kann – und eben nicht nur eine Signalwirkung in der Gesamtgesellschaft, dass Frauen gehört werden und ihre Themen und ihre Räume besetzen können, sondern auch Signalwirkungen innerhalb unserer eigenen Communitys: dass Gewalt nicht zu dulden ist und wir als Frauen gegen Gewalt Schritte unternehmen und die Frauen nicht alleine lassen. Das finde ich einen wichtigen Punkt und das dürfen wir wirklich innerhalb unserer gemeinsamen Arbeit nicht vergessen.

Frage aus dem Publikum

Meine Frage bezieht sich auf die strukturellen Änderungen in Institutionen. Da haben wir als Lösung gehört: Schulungen anbieten. Während das natürlich wichtig ist, stoßen Schulungen auch irgendwann an ihre Grenzen. Brauchen wir da nicht viel eher unabhängige Kontrollen, Instanzen oder andere Lösungen, um die eingeschränkte Wirksamkeit von Schulungen anzugehen?

Josephine Ballon

Zur Wirksamkeit von Schulungen: Es beginnt ja schon damit, dass man erstmal in diese Schulungspools reinkommen muss. Wenn wir zum Beispiel über Gerichte sprechen, dann ist die richterliche Unabhängigkeit zu berücksichtigen und die erlaubt es Richter*innen, zu gar keiner Schulung zu gehen, wenn sie es nicht wollen. Das heißt, die erreicht man ganz schwer. Deswegen ist unsere Strategie, die Fälle vor die Gerichte zu bekommen und öffentlich darüber zu sprechen, wenn sie besonders gut oder nicht so gut gelaufen sind. Der zweite Punkt: die Strukturen. Man muss zum Beispiel an die Führung ran, an die Strukturen in den Behörden, um da tatsächlich zu einer besseren Fehlerkultur zu kommen – und zu einer offeneren und durchlässigeren Austauschkultur. In Sachsen-Anhalt gibt es etwa Multiplikator*innen, die zu bestimmten Themen geschult werden, zum Beispiel zum Thema Rassismus, und die dann das Wissen, was sie haben, mit auf die Dienststelle nehmen, um dort als Ansprechpartner*innen zur Verfügung zu stehen. Das könnte man auch auf andere Bereiche ausweiten.

Ann-Sophie Bohm

Wichtig ist es, unabhängige Beschwerdestellen zu schaffen. Da haben wir zum Beispiel in Thüringen die Polizeivertrauensstelle geschaffen. Die wollen wir gern weiter stärken, weil so eine Stelle genau die richtige Anlaufstelle ist für Fälle von häuslicher Gewalt, wenn Betroffene bereits schlechte Erfahrungen mit der Polizei gemacht haben, weil sie nicht ernst genommen wurden. Und dann sollten sie sich an eine Stelle wenden können, die so ausgestattet ist, dass sie nachverfolgen darf und tatsächlich was passiert. Wir diskutieren auch immer wieder im Zusammenhang mit rechtsextremen Einstellungen, wie im öffentlichen Dienst mit Personen umgegangen wird, die demokratiegefährdende Einstellungen haben. Das ist rechtlich heikel, weil wir nicht in Zeiten zurückwollen, dass ausgewählt wird, wer in den Staatsdienst darf und wer nicht – und dennoch muss man schauen, dass Menschen, die an einer zentralen oder sensiblen Stelle sitzen, keinen Schaden für Demokratie und Zusammenleben anrichten.

Viktoria Kamuf
Vielen Dank für diese sehr wichtigen Beiträge und Fragen aus dem Publikum und vielen Dank an Josephine Ballon, Ann-Sophie Bohm und Sonja Hentrich für dieses Gespräch!

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1     Die Podiumsdiskussion wurde transkribiert, das Transkript im Anschluss redaktionell bearbeitet (insbesondere gekürzt und sprachlich/stilistisch geglättet).

 


Josephine Ballon ist Rechtsanwältin und Head of Legal der gemeinnützigen Organisation HateAid gGmbH, die Betroffene digitaler Gewalt berät und bei der Rechtsdurchsetzung unterstützt. Sie studierte Rechtswissenschaften an der Universität Potsdam.

Sonja Hentrich ist Rentnerin, ehrenamtliche Vorstandsfrau im Zentrum gegen Gewalt an Frauen – Brennessel e. V. Erfurt, erweiterte Vorstands-und Gründungsfrau der Omas gegen Rechts Erfurt, Mitwirkende im Auf die Plätze Bündnis Erfurt und im Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung.

Ann-Sophie Bohm, B. A. Soziologie und Politikwissenschaft, ist Landesvorsitzende von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Thüringen und ehrenamtliche Stadträtin in Weimar. Inhaltliche Arbeitsschwerpunkte sind unter anderem Gleichstellung und Feminismus, Demokratie und Kommunalpolitik.

Viktoria Kamuf, M. Sc. Politische Soziologie, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am IDZ Jena und arbeitet dort u. a. im Projekt „Wissensnetzwerk Rechtsextremismusforschung (Wi-REX)“. Sie studierte Politische Soziologie und Politische Theorie in Maastricht und London. Forschungsschwerpunkte: Rechtsextremismus und rechte Gewalt, demokratische Partizipationsstrukturen und Bewegungen, Sozialraumforschung.