Einleitung
Die sich rasant entwickelnden technischen Möglichkeiten und die stärkere Nutzung digitaler Angebote für den Informationsaustausch in Freizeit, Bildung und Berufstätigkeit durch immer breitere Schichten der Bevölkerung bergen umfangreiche Potenziale. Groß war die Hoffnung u. a. in Bezug auf Möglichkeiten der Demokratisierung von Informationsflüssen. Möglich schien auch eine freiere Beteiligung an gesellschaftlichen Debatten, besonders für zuvor aus verschiedenen Gründen nicht gehörte Stimmen. Diese Debatten sind ein Grundstein demokratischer Aushandlungsprozesse, in denen ursprünglich der Anspruch formuliert worden ist, dass alle gehört werden sollten.
In den letzten Jahren ist hier inzwischen eine gewisse Ernüchterung eingetreten (van Dijk 2020). Einerseits stellen inzwischen wenige Tech-Monopole (z. B. Google, Twitter, Facebook) einen großen Teil der digitalen Infrastruktur für die Kommunikation im Netz zwar oft kostenlos, aber eben auch entsprechend ihrer privatkapitalistischen, profitorientierten Logik zur Verfügung. Maximaler Profit, nicht demokratischer Austausch haben hier demzufolge die höchste Priorität (McChesney 2013). Andererseits zeigt sich, dass nicht alle Menschen gleichermaßen an den vorhandenen digitalen Möglichkeiten partizipieren (können). Sozioökonomische Offline-Faktoren spiegeln sich online wider und erschweren stark die erfolgreiche Beteiligung am digitalen Austausch (Helsper 2021). Im vorliegenden Beitrag wird zudem gezeigt, wie sich historische Benachteiligungen bestimmter Bevölkerungsgruppen auch im Internet manifestieren und dadurch die Stimmen vieler Menschen weiterhin systematisch ausgeschlossen bleiben.
Hintergrund
Im Projekt „#Hass im Netz“ wurde im Jahr 2019 für Campact vom Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft eine Online-Studie zum Thema Hate Speech im Internet durchgeführt (Geschke et al. 2019). Ziel der Studie war es, die Verbreitung von Online-Hate-Speech sowie die Auswirkungen auf Betroffene und die Diskussionskultur im Netz empirisch aus Sicht der Internetnutzer*innen zu analysieren. Mit den Daten von N=7.337 Befragten ist es nach wie vor das Umfrageprojekt mit der größten repräsentativen deutschen Stichprobe zum Thema Hasssprache im Internet. Die Einschlusskriterien für die Teilnahme an der Umfrage waren ein Mindestalter von 18 Jahren, ein Wohnsitz in Deutschland und die Nutzung von Online-Plattformen mit Kommentarbereich, wie soziale Netzwerke, Blogs, Foren, Nachrichtenseiten, Messenger und andere Chat-Dienste.1
Um zu verstehen, welche Personen am stärksten von Online-Hate-Speech betroffen sind, wurden die Daten unter Nutzung eines intersektionalen Ansatzes neu deskriptiv statistisch ausgewertet: Alle Informationen wurden auf der Grundlage der Überschneidungen zwischen Alter, Geschlecht und Migrationsstatus2 re-analysiert. Die Ergebnisse liefern damit neue und differenzierte Erkenntnisse zu Verbreitung und Auswirkungen von digital im Netz verbreiteter Hassrede unter Berücksichtigung eben jener Merkmale.
Im Folgenden werden zunächst die zentralen Konzepte Hasssprache und Intersektionalität kurz definiert. Anschließend werden die Ergebnisse der intersektional geschichteten, deskriptiven Analysen dargestellt. Danach werden die Implikationen dieser Befunde diskutiert.
Theoretischer Hintergrund
Aggressive oder allgemein abwertende Aussagen gegenüber Personen, die bestimmten Gruppen zugeordnet werden, werden „Hate Speech“ genannt bzw. synonym auch „Hassrede“, „Hasssprache“ oder „Hasskommentare“ (Geschke et al. 2019). Damit ist Hate Speech von individuellen Beleidigungen und Angriffen abzugrenzen, die keinen Bezug zur (vermeintlichen oder tatsächlichen) Gruppenangehörigkeit der im Netz angegriffenen hat. Studien zeigen, dass Hasssprache ein virulentes Problem darstellt (z. B. Wachs et al. 2022; Castano-Pulgarin et al. 2021; Williams et al. 2020).
Der intersektionale Ansatz ist als ein kritischer theoretischer und analytischer Rahmen zu verstehen (Bowleg 2017). Er wurde im US-amerikanischen Kontext dank der akademischen Kritik und des politischen Aktivismus Schwarzer Feministinnen entwickelt, die betonten, dass „die Überschneidungen von Rassismus und Sexismus im Leben Schwarzer Frauen [...] nicht vollständig erfasst werden können, wenn man die racial oder geschlechtsspezifischen Dimensionen dieser Erfahrungen getrennt betrachtet“ (Crenshaw 1991, 1244). Während die Intersektionalität anfangs die Sozialpsychologie herausforderte, indem sie betonte, dass soziale Kategorien „Bausteine sozialer Hierarchien und nicht Komponenten der persönlichen Identität“ (Marecek 2016, 178) sind, fordern Sozialpsycholog*innen heute eine breitere und umfassendere Anwendung des intersektionalen Ansatzes innerhalb des Feldes (Bowleg 2017). Bowleg unterstreicht die Unverzichtbarkeit der Intersektionalität für die Sozialpsychologie, um aufzuzeigen, „wie multiple soziale Identitäten wie Race, Geschlecht, sexuelle Orientierung, sozioökonomischer Status (SES) und Behinderung (um nur einige zu nennen) sich auf der Mikroebene individueller Erfahrung überschneiden, um ineinandergreifende Systeme von Privilegien und Unterdrückung (d. h. Rassismus, Sexismus, Heterosexismus, Klassismus) auf der makro-sozialstrukturellen Ebene aufzuzeigen“ (ebd., 509). Mit anderen Worten: Nach dem intersektionalen Ansatz sollten die Daten nicht nur nach Geschlecht und Race als getrennte Achsen, sondern durch die gesamte Matrix gelesen und analysiert werden: weiße Frauen, weiße Männer, Schwarze Männer, Schwarze Frauen. Ausschließlich durch diese „Matrix-Perspektive“ (ebd.) ist es möglich, Forschung zu betreiben, die die alltägliche Realität von Individuen erfasst, die im Netz einem erhöhten Risiko von Hate Speech ausgesetzt sind (Kim et al. 2020).
Die Daten zu Online-Hass wurden deshalb nach Alter, Geschlecht und Migrationshintergrund aus einer intersektionalen Perspektive re-analysiert. Die neuen deskriptiven Analysen der selbstberichteten Daten zu Online-Hass werden in der folgenden Reihenfolge vorgestellt: Häufigkeiten der Wahrnehmung von Hasssprache im Netz, Häufigkeiten persönlicher Viktimisierung, Auswirkungen von Hasskommentaren auf die betroffenen Personen und Folgen für die indirekt betroffenen Personen und die Gesamtheit. Da die jüngsten Personen, die zwischen 18 und 34 Jahre alt sind und ein Viertel (N=1.534) der gesamten Stichprobe (N=7.337) ausmachen, häufiger angaben, mit Online-Hate-Speech und seinen Auswirkungen konfrontiert gewesen zu sein, liegt der Schwerpunkt der folgenden Darstellungen auf jungen Erwachsenen. Dabei ist es einerseits wichtig, die stärkere Nutzung des Internets und der Social-Media-Plattformen durch die jüngere im Vergleich zu den älteren Generationen zu berücksichtigen. Andererseits ist es auch wichtig zu betonen, dass die Jüngeren das Internet und die Social-Media-Plattformen nicht nur für Freizeitaktivitäten nutzen, sondern auch mit dem Ziel, private und berufliche Netzwerke zu bilden und zu erweitern, sie also auch für die sozioökonomische Partizipation benötigen (Helsper 2012). Faktisch sind insbesondere jüngere Menschen heutzutage zunehmend gezwungen, dies zu tun, um die Vorteile der technologischen Möglichkeiten zu nutzen, sich erfolgreich zu vermarkten, in den Arbeitsmarkt einzutreten und sich dort zu behaupten.
Ergebnisse
Wahrnehmung von Online-Hate-Speech
Auf der Grundlage der Daten zu Online-Hass 2019 sind 42 % der Gesamtstichprobe, d. h. mehr als vier von zehn Befragten, bereits online auf Hasskommentare gestoßen (N=7.031). Dieser Prozentsatz steigt stark an, wenn man sich auf jüngere Personen konzentriert (N=1.534): Mehr als zwei Drittel der Befragten zwischen 18 und 34 Jahren gaben an, dass sie im Internet bereits Hasskommentare wahrgenommen haben (67 %).
Bei einer detaillierteren Betrachtung der Gruppe junger Erwachsener und einer intersektionalen Analyse der Daten nach Geschlecht und Migrationshintergrund (s. Abb. 1) zeigt sich: Junge Frauen mit Migrationshintergrund berichteten etwas häufiger von Hasskommentaren im Netz (72 %) als junge Frauen ohne Migrationshintergrund (66 %). Bei jungen männlichen Erwachsenen hingegen wurden keine Unterschiede in Bezug auf die Wahrnehmung von Hasskommentaren festgestellt (mit Migrationshintergrund: 68 %; ohne Migrationshintergrund: 67 %).
Direkte Betroffenheit von Hass im Netz
Schon einmal Hasskommentare im Internet wahrgenommen zu haben, bedeutet nicht zwangsläufig, dass man selbst direkt davon betroffen war. Tatsächlich gaben 8 % aller Befragten (N=7.337) an, dass sie selbst schon einmal direkt von Hate Speech im Internet betroffen waren. Das betraf jüngere Erwachsene stärker (17 %) als Befragte im Alter von 35 Jahren oder älter (5 %). Untersucht man die Viktimisierung jüngerer Personen intersektional nach Geschlecht und Migrationshintergrund aufgeteilt, so zeigen die Daten deutliche Muster (s. Abb. 2): Junge Personen mit Migrationshintergrund wurden häufiger direkt mit Hasskommentaren angegriffen als Personen ohne Migrationshintergrund (23 % bzw. 13 %). Bei weiterer Differenzierung nach Geschlecht gaben 27 % der jungen Männer und 19 % der jungen Frauen mit Migrationshintergrund an, direkt Opfer von Hasssprache gewesen zu sein. Die Prozentsätze bei jungen Menschen ohne Migrationshintergrund sind niedriger (Männer: 14 %, Frauen: 12 %).
Auswirkungen auf direkt Betroffene
Es wurden verschiedene mögliche Effekte von Hasskommentaren im Netz auf die direkt betroffenen Personen untersucht: selbst berichtete Auswirkungen sowohl in Bezug auf das soziale Umfeld (z. B. Probleme am Arbeitsplatz, mit Kolleg*innen und innerhalb der Bildungseinrichtung) als auch in Bezug auf das psychische Wohlbefinden und die geistige Gesundheit (z. B. Probleme mit dem eigenen Selbstbild und Depressionen) (s. Abb. 3).
Direkt betroffene Personen (N=586) gaben insgesamt häufig an, dass sie unter den abgefragten negativen sozialen und psychischen Auswirkungen litten. Probleme am Arbeitsplatz und an der Universität bzw. im Bildungssystem waren die häufigsten sozialen Folgen (15 %). Depressionen und Probleme mit dem eigenen Selbstbild waren die häufigsten psychischen Auswirkungen (19 % bzw. 24 %). Jüngere Erwachsene litten deutlich häufiger unter all diesen negativen Folgen. In der Gruppe zeigen sich weitere Unterschiede in Bezug auf das Geschlecht und den Migrationshintergrund (s. Abb. 3.) Insgesamt berichteten jüngere Männer mit Migrationshintergrund und jüngere Frauen, sowohl mit als auch ohne Migrationshintergrund, im Vergleich zu jungen Männern aus der Mehrheitsbevölkerung häufiger von all diesen negativen Auswirkungen. Junge Frauen ohne Migrationshintergrund berichteten überdies häufiger über alle negativen Auswirkungen, insbesondere über Probleme am Arbeitsplatz und mit dem eigenen Selbstbild. Junge Männer mit Migrationshintergrund gaben jedoch ebenso häufig wie Frauen ohne Migrationshintergrund an, aufgrund von Hasskommentaren mit Problemen in ihrer Bildungseinrichtung konfrontiert zu sein. Depressionssymptome nannten Untersuchungsteilnehmende aus allen Teilgruppen: 20 % der jungen Männer ohne Migrationshintergrund, 31 % der Frauen ohne Migrationshintergrund, 28 % der Betroffenen von Hate Speech mit Migrationshintergrund, wobei es hier keine geschlechtsspezifischen Unterschiede gab.
Indirekte Auswirkungen von Hate Speech auf Nutzer*innen von Online-Plattformen
Die Folgen des Online-Hasses betreffen nicht nur die direkt angegriffenen Personen. Die Daten zeigen deutlich auf, dass sich negative Auswirkungen indirekt auf die gesamte Gesellschaft beziehen können. Das Verhalten von Internet-Nutzer*innen wird auch dann beeinflusst, wenn sie nicht direkt persönlich im Netz verbal angegriffen wurden, insbesondere bei Menschen mit Migrationshintergrund.
Die hier untersuchten Folgen der Präsenz von Hasskommentaren im Netz und der damit verbundenen Risiken betreffen bestimmte Ängste. So haben viele der Befragten die Befürchtung, selbst zur direkten Zielscheibe von Hasssprache zu werden bzw. die Sorge, dass nahestehende Personen zu einer solchen Zielscheibe werden könnten. Zugleich bewirken sie Rückzugs- und Vermeidungsverhalten, z. B. die eingeschränkte Nutzung von Plattformen, insbesondere im Hinblick auf die Teilnahme an Online-Diskussionen.
Abbildung 4: Auswirkungen von Hassrede im Internet unter jungen Erwachsenen im Alter von 18 bis 34 Jahren – nach Geschlecht und Migrationshintergrund (Gesamtteil: N=1.534; weiblich ohne Migrationshintergrund: n=480; männlich ohne Migrationshintergrund: n=470; weiblich mit Migrationshintergrund: n=314; männlich mit Migrationshintergrund: n=270. Angaben in Prozent innerhalb der jeweiligen Kategorie).
Die Ergebnisse der Gesamtstichprobe zeigen: Ein Viertel aller Teilnehmenden gab an, Angst davor zu haben, dass jemand aus ihrem Freundes- und Verwandtenkreis Opfer von Online-Hate-Speech werden könnte (25 %). Fast jede*r fünfte Befragte bestätigte, dass er*sie Angst hat, selbst zum Opfer von Hasskommentaren zu werden (19 %). Darüber hinaus gab mehr als die Hälfte aller Befragten an, dass sie es aufgrund von Hass im Netz vermeiden würde, politische Ansichten online zu äußern (55 %). Fast die Hälfte der Befragten nahm deshalb weniger an Online-Diskussionen teil (46 %).
Bei den jüngeren Erwachsenen (Abb. 4) gaben Personen mit Migrationshintergrund häufiger all diese negativen Auswirkungen an. Insbesondere junge Männer mit Migrationshintergrund zeigten sich am meisten besorgt, selbst zum Ziel von Hasssprache zu werden (36 %) oder dass Freund*innen oder Verwandten dies zustoßen könnte (41 % ). Über zwei Drittel, also die große Mehrheit der jüngeren Frauen mit Migrationshintergrund (71 %), gab an, dass sie es aufgrund von Hasskommentaren vermeiden würde, ihre politischen Ansichten online zu äußern. Wie die deskriptiven Daten in Abbildung 4 zeigen, führt Hasssprache im Internet zum sogenannten Silencing-Effekt (Nadim und Fladmoe 2021). Sie hat eine einschüchternde, ruhigstellende Wirkung: Die Angst davor, selbst zum Opfer von Hassrede zu werden, schüchtert Menschen ein und hält sie davon ab, soziale Medien und andere Möglichkeiten des Internets in vollem Umfang zu nutzen. Silencing-Effekte entmachten Individuen ihrer gesellschaftspolitischen Rechte: Viele vermeiden es, sich an Online-Diskussionen zu beteiligen. Dies gilt vor allem dann, wenn politische Themen diskutiert werden.
Die dargestellten intersektionalen Analysen zeigen: Silencing-Effekte betreffen nicht alle Individuen gleichermaßen. Ganz im Gegenteil: Personen, die bestimmten sozialen Gruppen angehören (oder ihnen zugeschrieben werden), sind am stärksten betroffen: nämlich junge Männer und Frauen mit Migrationshintergrund und Frauen im Allgemeinen. Daraus folgt, dass die Vielfalt der geteilten und dargestellten Inhalte und Meinungen auf Social-Media-Plattformen abnimmt: Die Stimmen von Menschen aus verschiedenen sozialen Gruppen fehlen zum Großteil, weil sie zum Schweigen gebracht werden. Dies kann zu einer falschen Wahrnehmung bzgl. der Spaltung der Gesellschaft führen: Einzelne könnten den Eindruck gewinnen, dass der Hass, der online vorherrscht, möglicherweise auch offline dominiert (Geschke et al. 2019, 29). Dies führt zu einem Teufelskreis mit sich selbst verstärkenden Mechanismen: Je stärker Menschen bestimmter sozialen Gruppen wahrnehmen, dass der Online-Hass (scheinbar) der Haltung der Mehrheit der Bevölkerung entspricht, desto eher werden sie sich dafür entscheiden zu schweigen und desto weniger wird ihre Meinung in den sozialen Medien vertreten sein. Wenn diskriminierende Ansichten im Netz dominieren und dementsprechend eine geringere Meinungsvielfalt entsteht, können sich falsche Vorstellungen von gesellschaftlich verbreiteten Meinungen ergeben. Dies kann zu einer Lockerung der sozialen Normen führen in Hinblick darauf, was gesagt werden kann und wann genau eine diskriminierende Beleidigung einsetzt. Daraus kann eine Desensibilisierung resultieren und Unfähigkeit entstehen, Hassrede im Netz zu erkennen (Bilewicz und Soral 2020). In der Folge könnte dies wiederum selbst zu einer Zunahme von Hassrede und Konflikten zwischen Gruppen führen – sowohl online als auch offline (Kyaw 2022).
Diskussion und Fazit
Insgesamt liefern die vorgestellten intersektionalen Analysen starke Belege dafür, dass Online-Hate-Speech Ausdruck von Vorurteilen gegenüber Personen ist, die historisch marginalisierten Gruppen angehören oder diesen zugeschrieben werden. In der vorliegenden repräsentativen deutschen Stichprobe erweisen sich vor allem junge Männer und Frauen mit Migrationshintergrund als am häufigsten von Hass im Netz betroffen. Das wird durch die höheren Wahrscheinlichkeiten dieser sozialen Gruppen in Bezug auf Viktimisierung und direkte und indirekte negativere Auswirkungen bestätigt. Die intersektionale Perspektive ermöglicht es aufzuzeigen, dass, obwohl der Online-Hass auf eine bestimmte Person einer bestimmten sozialen Gruppe abzielt, ihre schädlichen Auswirkungen die gesamte Gruppe bzw. Gemeinschaft betreffen, zu der die Person gehört (oder der sie zugeschrieben wird). Eine Besonderheit von Hassrede, die auch in Hassverbrechen vorkommt, besteht in ihrer symbolischen Botschaft an die gesamte Minderheit: Während die gewalttätigen, verbalen oder physischen Angriffe auf eine konkrete einzelne Person gerichtet sein können, zielt die symbolische Botschaft des Hasses, der Einschüchterung und der Ausgrenzung auf die gesamte Gemeinschaft als solche ab (Schweppe und Perry 2022).
Die Ergebnisse sind besorgniserregend, wenn man bedenkt, dass junge Menschen sich intensiv mit sozialen Medien beschäftigen und das Internet ausgiebig nutzen müssen, um ihr soziales, bildungsbezogenes und wirtschaftliches Kapital zu erhöhen. Somit trägt eine eingeschränkte Internetnutzung potenziell zur Verschärfung der tatsächlich bestehenden sozioökonomischen Ungleichheit bei, wie einschlägige Autor*innen im Bereich des digitalen Engagements betonen (Helsper 2013; van Dijk 2020). Insbesondere junge Frauen und junge Männer mit Migrationshintergrund sind nach diesen intersektionalen Analysen eher geneigt, ihre Nutzung von Online-Plattformen einzuschränken, da sie einem erhöhten Risiko ausgesetzt sind, von Hassrede direkt betroffen zu werden. Während die Daten darauf hindeuten, dass junge männliche Personen mit Migrationshintergrund eher direkt betroffen sind, berichteten junge weibliche Personen mit und ohne Migrationshintergrund häufiger über die insgesamt negativen sozialen und psychischen Auswirkungen. Einerseits könnte dies dadurch erklärt werden, dass weibliche Teilnehmende eher dazu neigen, über diese Auswirkungen zu sprechen als männliche. Andererseits weisen frühere Forschungsarbeiten, die ähnliche Unterschiede festgestellt haben, darauf hin, dass Männer und Frauen von unterschiedlichen Arten von häuslicher Gewalt betroffen sind. Der Studie von Namid und Fladmoe (2021) zufolge ist es wahrscheinlicher, dass Männer aufgrund ihrer Meinung mit Hasskommentaren angegriffen werden. Frauen dagegen sind demnach häufiger mit geschlechtsspezifischen verbalen Angriffen konfrontiert, die darauf abzielen, „wer sie sind“ und nicht „was sie denken“ (Namid und Fladmoe 2021). Im hier beschriebenen Bereich ist es jedoch wahrscheinlich, dass Männer mit Migrationshintergrund wegen ihrer Meinung und auch wegen ihrer Herkunft zum Ziel von Hassrede werden. Frauen ohne Migrationshintergrund werden eher wegen ihres Geschlechts angegriffen, während Frauen mit Migrationshintergrund potenziell und tatsächlich aus allen drei Gründen angegriffen werden können: wegen ihrer Meinung, ihres Migrationshintergrunds und ihres Geschlechts. Die intersektionalen Analysen belegen, dass jüngere Frauen mit Migrationshintergrund am stärksten vermeiden, sich zu den eigenen politischen Ansichten zu äußern.
Insgesamt verdeutlichen die Ergebnisse die Notwendigkeit, Hass im Netz ernst zu nehmen. Junge Erwachsene sind häufiger von Hassrede betroffen und sie sind nicht besser dafür gerüstet, mit den Folgen umzugehen. Tatsächlich erweisen sich vor allem junge Frauen mit Migrationshintergrund und junge Männer mit Migrationshintergrund als am stärksten von Hasssprache betroffen. Dies bestätigt den vorurteilsbasierten Charakter von Hassreden, die sich online verbreiten. Während bestimmte soziale Gruppen die schlimmsten Folgen für ihr individuelles und sozioökonomisches Leben zu tragen haben, wirken sich die Auswirkungen von Hass im Netz negativ auf die gesamte Gesellschaft im Online- und potenziell auch im Offline-Bereich aus und bedrohen die Meinungsvielfalt, die gesellschaftliche Vielfalt und die Beziehungen zwischen sozialen Gruppen. Schließlich ist es wichtig zu betonen, dass ohne den intersektionalen Ansatz diese relevanten Ergebnisse nicht zustande gekommen wären. Wie Purdie-Vaughns und Eibach (2008) betonen, führt die „intersektionale Unsichtbarkeit“ nicht nur zu einem ungenauen Bild, in diesem Fall des Wesens von Hasssprache und ihren schädlichen Auswirkungen, sondern sie reproduziert auch die gleichen Machtungleichheiten, die den Ursprung von Diskriminierung und Hassreden bilden. Darüber hinaus ermöglicht Intersektionalität als analytisches Instrument, die individuellen Erfahrungen auf der Mikroebene mit systemisch historischen, kulturellen und sozioökonomischen Ungleichheiten zwischen sozialen Gruppen und Konflikten auf der Makroebene zu verknüpfen. Intersektionalität sollte daher häufiger und umfassender eingesetzt werden, um die komplexen und spezifischen Muster der Unterdrückung zu erfassen, die Individuen erfahren, die marginalisierten sozialen Gruppen angehören.
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1 Die Repräsentativität wird durch die statistische Gewichtung der Stichprobe anhand von Alter, Geschlecht, Wahlverhalten (Wahlen 2017) und Bildung gewährleistet.
2 Der „Migrationsstatus“ umfasst Zugewanderte und Nachkommen von Zugewanderten, die in Deutschland leben. Die Teilnehmer*innen wurden nach ihrem eigenen Geburtsland sowie dem ihrer Eltern und Großeltern befragt. Es wurden keine Informationen über das spezifische Herkunftsland oder über die eigene Selbstidentifikation erhoben. Das ist bedauerlich, weil diese Proxy-Variable keine Unterscheidung in Bezug auf Diskriminierung von weißer und nicht-weißer Hautfarbe erlaubt. Insbesondere sollte man nach dem intersektionalen Ansatz die Begriffe von racialization (Rassifisierung) und/oder Selbst-Identifizierung benutzen. Es bleibt zu hoffen, dass diese bewährte kritische Vorgehensweise auch im europäischen Kontext übernommen wird.
Laura Dellagiacoma, Promovierende innerhalb des NETHATE Projektes , hat Sozialpsychologie (Community Psychology) an der Padua Universität (IT) studiert. Seit 2021 beschäftigt sie sich mit Hate Speech und Hate Crime aufgrund von Rassismus am IDZ Jena.
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