Belästigung im öffentlichen Raum aus intersektionaler Perspektive und ihre Konsequenzen für Betroffene

Empfohlene Zitierung:

Krok, Jolanda (2023). Belästigung im öffentlichen Raum aus intersektionaler Perspektive und ihre Konsequenzen für Betroffene. In: Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (Hg.). Wissen schafft Demokratie. Schwerpunkt Antifeminismus & Hasskriminalität, Band 13, Online-Ausgabe. Jena, 342–355.

Schlagwörter:

Belästigung im öffentlichen Raum, Intersektionalität, gesundheitliche Konsequenzen

 


Im vorliegenden Text wird anhand von Daten aus einer deutschlandweiten Online-Umfrage der Frage nachgegangen, ob bestimmte Diversitätsmerkmale (z. B. Geschlecht, sexuelle Orientierung, ethnische Zugehörigkeit) mit dem Erleben von Belästigung im öffentlichen Raum zusammenhängen und wie spezifische Kombinationen dieser Merkmale in spezifischen Erfahrungen resultieren. Dafür werden Zusammenhänge zwischen der Häufigkeit von Belästigungserfahrungen und deren gesundheitliche Auswirkungen auf Betroffene untersucht. Im Fokus steht, inwieweit Merkmale der Betroffenen in Verbindung mit den Übergriffen und deren Folgen gebracht werden. Die Ergebnisse werden im Hinblick auf mögliche Präventions- und Handlungsstrategien diskutiert.


Einleitung1

Hinterhergepfeife, Kommentare wie „Hey Süße“, „Homo“ oder begrapscht zu werden – das erleben viele Menschen, vor allem Frauen und diversgeschlechtliche Personen, im öffentlichen Leben häufig. Mit der Ratifizierung der CEDAW, kurz für „Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women“, erklärten sich im Jahr 1979 189 Staaten bereit, sich für die Eliminierung jeglicher Formen von Diskriminierung mit dem Ziel der Gendergleichberechtigung einzusetzen, sodass jede Frau2 ihre Grundrechte wahrnehmen kann (United Nations 1979). Belästigung im öffentlichen Raum stellt ein großes Hindernis auf dem Weg zu Gendergerechtigkeit dar. Obwohl Belästigung meistens als Sexismus bzw. sexualisierte Gewalt interpretiert wird, manifestiert sie sich ebenso als rassistisch, homofeindlich, transfeindlich und in anderen Formen von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit (Fileborn und O‘Neill 2021; Logan 2015). Wirken diese Ebenen gleichzeitig, entstehen spezifische Erfahrungen und potenzieren so die subjektive Belastung und mögliche Folgen. Man spricht von Intersektionalität. In der sozialwissenschaftlichen Forschung, die große konzeptionelle Wissenslücken aufweist, fehlt insbesondere die Einbindung solcher intersektionaler Perspektiven (Fileborn und O‘Neill 2021). Die hier präsentierte Studie ist eine der ersten ihrer Art im deutschsprachigen Raum, die gezielt untersucht, ob bestimmte Diversitätsmerkmale mit dem Erleben von Belästigung im öffentlichen Raum zusammenhängen und wie spezifische Kombinationen dieser Merkmale in spezifischen Erfahrungen resultieren.

 

Belästigung im öffentlichen Raum

Unter Belästigung im öffentlichen Raum wird eine Bandbreite an verbalen und nonverbalen Übergriffen auf Menschen durch Fremde verstanden (Fileborn und O‘Neill 2021; DelGreco und Christensen 2020). Typischerweise umfasst das Kontinuum dieser Gewalt Catcalling (sexualisierte verbale Äußerungen, z. B. „Hi Baby“, „Schlampe“), herablassende Kommentare, Hinterherpfeifen, Kussgeräusche, Hupen, anhaltendes Starren, jemanden verfolgen, ungewollte Konversationen (z. B. wiederholte Aufforderungen zu einem Date trotz Abweisung), sexualisierte Gesten, sich an jemandem Reiben, ungewolltes Berühren, Grapschen, Exhibitionismus, öffentliches Masturbieren bis hin zu körperlichem Missbrauch, sexuelle Nötigung und Vergewaltigung (Bowman 1993; DelGreco und Christensen 2020; Fileborn und O‘Neill 2021; Stop Street Harassment 2014). Wie die Beispiele suggerieren, beinhaltet das belästigende Verhalten meist eine sexuelle Komponente. In diesen Belästigungen werden bestehende Machtverhältnisse, beispielsweise bezüglich der Geschlechter (v. a. patriarchale) oder des Erscheinungsbildes (Weißsein, Behinderung), ausgedrückt und reproduziert. Diese Machtverhältnisse manifestieren sich auch räumlich. Belästigte Personen fühlen sich in der Öffentlichkeit (z. B. auf der Straße, Verkehrsmittel) zusehends unsicher und verbringen vergleichsweise weniger Zeit dort. Ihre Teilhabe im öffentlichen Raum wird dadurch massiv eingeschränkt (Bowman 1993; Vera-Gray und Kelly 2020).

Sexualisierte Belästigung im öffentlichen Raum durch fremde Personen ist eine der am weitesten verbreiteten Formen von geschlechtsbasierter Gewalt (Stop Street Harassment 2014). Mindestens zwei von drei Frauen geben an, schon einmal im öffentlichen Raum von einer fremden Person, in den allermeisten Fällen einer männlich gelesenen Person, belästigt worden zu sein (Stop Street Harassment 2014; Kearl 2010). Männer fallen solchen Belästigungen weitaus seltener zum Opfer (Wippermann 2020; Goede et al. 2022). Viele Betroffene leiden außerdem unter negativen gesundheitlichen Folgen der Belästigung(en). Dazu gehören zum Beispiel eine verstärkte Ängstlichkeit, Depressivität und eine allgemeine Verschlechterung der psychischen Befindlichkeit (DelGreco und Christensen 2020). Neben diesen psychischen Konsequenzen hinterlassen Belästigungserfahrungen auch körperliche Spuren: Betroffene beschreiben oft Zittern, Atemlosigkeit, Herzklopfen und Schwindel (Heben 1994). Es ist außerdem anzunehmen, dass sich Belästigung im öffentlichen Raum ebenso auf übergeordnete Gesundheitsindikatoren niederschlägt, zum Beispiel allgemeines Wohlbefinden und Lebenszufriedenheit (Buchanan et al. 2018).

 

Intersektionalität

Sexismus, Rassismus, Homo- und Transfeindlichkeit, Antisemitismus – hinter diesen Begriffen verstecken sich verschiedene Formen der Diskriminierung. Wenn eine lesbische Frau mit Kopftuch auf der Straße belästigt wird, wirken möglicherweise verschiedene Diskriminierungsursachen gleichzeitig und wechselseitig. Sowohl für Betroffene als auch aus wissenschaftlich-analytischer Sicht ist es in diesem Beispiel schwer, klar zu differenzieren, ob beispielsweise Sexismus, Homofeindlichkeit oder Muslimfeindlichkeit im Vordergrund steht. Klar ist aber: Je mehr gesellschaftlich stigmatisierte Merkmale eine Person aufweist, desto häufiger wird sie diskriminiert (Dieckmann et al. 2017). Diese Mehrfachbelastung, die nicht einfach nur als Summe der einzelnen Belastungen verstanden werden kann, wird als „Intersektionalität“ bezeichnet. Das Konzept hält seit Anfang der 1990er-Jahre Einzug in diversen Disziplinen der Wissenschaft. Doch bereits im 19. Jahrhundert wurde der Diskurs über die Verflechtung und Wechselwirkung diverser Merkmalsebenen, vor allem Geschlecht und race3, im Zuge feministischer Kämpfe von Schwarzen4 Sklavinnen angestoßen. Deshalb soll an dieser Stelle unmissverständlich hervorgehoben werden, dass der Begriff Intersektionalität Schwarzen Wissensbeständen entspringt und nicht inflationär genutzt oder gar missbraucht werden soll.

In Deutschland soll das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) besonders vulnerable Gruppen vor Diskriminierung schützen. Dazu werden darin hierzulande schützenswerte Merkmale benannt5. Die hier vorgestellte Forschungsarbeit betrachtet Belästigungserfahrungen mithilfe der Sicht der Betroffenen und beruft sich auf einige der im AGG benannten Merkmale (Geschlecht, sexuelle Identität, Hautfarbe bzw. ethnische Zugehörigkeit und Religionszugehörigkeit).
Leitende Forschungsfragen sind: 1) In welchem Ausmaß haben Befragte bestimmte Formen von Belästigung im öffentlichen Raum durch Fremde erlebt? 2) Wie werden diese Erfahrungen mit bestimmten Merkmalen in Zusammenhang gebracht? 3) Welche gesundheitlichen Auswirkungen hat Belästigung im öffentlichen Raum für Betroffene?

 

Datenerhebung und Beschreibung der Stichprobe

Mithilfe eines Online-Fragebogens wurden im Zeitraum vom 26. April bis 30. Mai 2022 deutschlandweit die Studiendaten erhoben. Um eine möglichst diverse Stichprobe im Hinblick auf Geschlecht und andere Merkmale zu erreichen, wurden zahlreiche Vereine, Organisationen und Kollektive per E-Mail kontaktiert, die sich selbst mit den Themen Geschlechtervielfalt, Antirassismus, Feminismus und Antidiskriminierung assoziieren. An der Umfrage konnten jene Personen teilnehmen, die schon einmal im öffentlichen Raum belästigt wurden. Dementsprechend handelte es sich um eine Betroffenenumfrage, bei der sich Personen aktiv zur Teilnahme entscheiden konnten (Selbstselektion). Die gesammelten Daten sollen somit nicht die Verhältnisse in der Gesamtbevölkerung (Prävalenz) darstellen. Vielmehr wurde die Umfrage mit dem Ziel konzipiert, Erfahrungen von nachteilig Betroffenen sichtbar zu machen und gesundheitliche Folgen aufzudecken. Zusammenhänge werden in diesem Beitrag mithilfe Pearson‘s Korrelationskoeffizient r sowie Odds Ratio dargestellt.

Nach einer Einführung wurden all jene Personen in die Umfrage aufgenommen, die die Frage „Haben Sie in Ihrem Leben bereits eine Situation erlebt, in der sich eine fremde Person in der Öffentlichkeit Ihnen gegenüber übergriffig und grenzüberschreitend verhalten hat, ohne dass Sie es wollten?“ mit ja oder ich weiß es nicht beantworteten. Nach der Erfassung soziodemografischer Informationen beantworteten die Teilnehmenden Fragen zu psychosomatischen Symptomen. Anschließend wurden sie gebeten, die Häufigkeit anzugeben, mit der sie zwölf ausgewählte Belästigungssituationen schon erlebt haben (z. B. nie, oft oder wöchentlich oder mehr). Diesbezüglich sollten die Befragten den Zusammenhang der Situation(en) mit Merkmalen der eigenen Person einschätzen. Zum Ende wurden die Teilnehmenden gebeten, ihr allgemeines Wohlbefinden zu bewerten. Außerdem wurde die Möglichkeit für offene Aussagen und Kommentare geboten. Insgesamt beteiligten sich n = 331 Personen an der Umfrage. Nach Ausschluss von nicht Betroffenen und der Bereinigung der Daten um unplausible Fälle verblieben n = 319 Beobachtungen im Datensatz und bilden die Stichprobe für die Analyse. Das Durchschnittsalter aller Befragten lag bei 33 Jahren (SD = 11.33 Jahre, 18–64 Jahre). Tabelle 1 zeigt die Verteilung der Stichprobe hinsichtlich Geschlecht, sexueller Orientierung, Religionszugehörigkeit sowie dem Tragen entsprechender Symbole und der Identifikation als Black and Indigeneous Person of Color6.

Ergebnisse

1. In welchem Ausmaß haben Befragte bestimmte Formen von Belästigung im öffentlichen Raum durch Fremde erlebt?

Abbildung 1 zeigt die Häufigkeiten, mit denen die befragten Personen laut Eigenangabe eine bestimmte Belästigungssituation schon mindestens einmal erlebt haben. Dabei stellen Anstarren, sexualisierte Gesten und Bemerkungen, Begrapschen und Hinterherhupen sowie -pfeifen die am häufigsten erlebten Belästigungsformen unter den Befragten dar – mehr als 80 % haben diese Formen schon mindestens einmal erlebt. Weniger häufig berichteten die Befragten von Personen, die sich an ihnen gerieben oder die ihre Geschlechtsteile gezeigt bzw. masturbiert oder gar die Befragten genötigt oder vergewaltigt haben.

Wie sich Belästigung im öffentlichen Raum äußert, geht weit über die in dieser Arbeit vorgeschlagenen Verhaltensweisen hinaus, wie einige Personen beschreiben:

„Ich wurde auf dem Nachhauseweg von der Arbeit von einem hinter mir laufenden Mann gefilmt. Er hatte sein Handy auf die Höhe meines Hintern gehalten. Als ich ihn darauf ansprach, rannte er weg.“

„Fremde Personen haben mich aufgrund meiner ethnischen Einordnung als sexuell käuflich eingeschätzt und entsprechende Angebote gemacht.“

„Oft laufen mir Fremde im öffentlichen Raum hinterher und wollen mir ‚helfen‘ (den Rollstuhl schieben), obwohl ich klar und deutlich sage, dass ich das weder will noch brauche. Sie drängen sich auf, manche schieben sogar trotz Unwillenserklärung – und niemanden schert es. Es ist ja nur so eine Behinderte, die weiß ja sicher nicht, was sie will und braucht. Man will ja nur ‚helfen‘.“

 

2. Wie werden diese Erfahrungen mit bestimmten Merkmalen in Zusammenhang gebracht?

Belästigung im öffentlichen Raum kann aus verschiedenen Beweggründen stattfinden und sich dementsprechend auf verschiedene äußere Merkmale von Betroffenen beziehen. So verweist ein sexistischer Spruch zum Beispiel meistens auf das Geschlecht. Mit welchen eigenen Merkmalen die Teilnehmenden dieser Umfrage die von ihnen erlebten Belästigungssituationen in Verbindung brachten, illustriert Abbildung 2.

Fast jede Person (91,2 %) bejahte die Aussage, dass ihr Geschlecht (mindestens teilweise) mit ihren Belästigungserlebnissen zusammenhängt. Die anderen Merkmale spielten für die Betroffenen eine kleinere Rolle: 23,8 % gaben an, dass ihre sexuelle Orientierung, 14,4 % ihre Hautfarbe, 16,3 % ihre ethnische Zugehörigkeit sowie 2,5 % ihre Religionszugehörigkeit mindestens teilweise mit den Belästigungssituationen zusammenhängt. 51,4 % der Personen sahen ihre Belästigungserfahrung(en) im Zusammenhang mit „nur“ einem Merkmal. Intersektionale Belastung besteht vor allem dann, wenn Belästigung aufgrund von mehreren Merkmalen stattfindet. Das trifft hier auf 36,7 % der Befragten zu, die der Ansicht waren, dass mehrere Merkmale relevant waren8.

Je mehr eigene Merkmale aus Sicht der Betroffenen in Zusammenhang mit Belästigungserfahrungen standen, desto häufiger gaben diese Personen an, verschiedene Formen der Belästigung erlebt zu haben (r = .34, p < .05). Hier kann also von einer potenzierten Belastung für Personen mit mehreren Diversitätsmerkmalen in Hinsicht auf Belästigung im öffentlichen Raum gesprochen werden. Dieser Befund bestätigt die zentrale Annahme der Forschungsarbeit, dass die Häufung von Merkmalen, aufgrund derer Belästigung stattfindet, tatsächlich zu mehr Belästigungserlebnissen führt.

 

3. Welche gesundheitlichen Auswirkungen hat Belästigung im öffentlichen Raum für Betroffene?

Wer häufiger im öffentlichen Raum belästigt wurde, erkrankte nach eigenen Angaben mit größerer Wahrscheinlichkeit körperlich (OR = 1.13, p < .05) oder psychisch (OR = 1.11, p < .05). Mit dem Anstieg des Maßes für Belästigungserfahrungen steigt die Wahrscheinlichkeit, nach den Belästigungen körperlich zu erkranken, um den Faktor 1.13. Das gilt bei psychischem Erkranken für den Faktor 1.11. Auch auf die psychosomatische Gesundheit wirkten sich die Belästigungserfahrungen negativ aus (r = −.23, p < .05). Das heißt, stärker Betroffene hatten zum Beispiel häufiger Kopfschmerzen, fühlten sich ängstlicher und niedergeschlagener. Das allgemeine Wohlbefinden war jedoch nicht beeinflusst (r = .03, p = .639).

 

Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse

Die Befunde veranschaulichen, dass Belästigung im öffentlichen Raum eine weit verbreitete Alltagserfahrung ist. Bisherige Erkenntnisse weisen darauf hin, dass besonders Frauen, diversgeschlechtliche und nicht-heterosexuelle Menschen viktimisiert werden (Stop Street Harassment 2014). Schaut man sich an, wer an der vorliegenden Umfrage teilnahm und sich somit als betroffen sieht, fällt die überproportionale Beteiligung von Frauen, Transpersonen und anderen nicht-männlichen Personen auf (92,2 %). Zudem weisen auch die qualitativen Aussagen auf den strukturellen Charakter des Problems in Bezug auf Geschlecht hin:

„Die Wertigkeit von Frauen [wird] leider noch immer nicht von jedem Menschen [als] gleich angesehen.“

„Weil ich das Gefühl habe, dass das weibliche Geschlecht noch immer als das ‚schwächere‘ angesehen wird. Daher nehmen sich viele Angehörige des männlichen Geschlechts das Recht, sich aufzuspielen und unangemessene Kommentare zu machen, um ihre ‚Macht‘ zu demonstrieren, weil sie ihrer Meinung nach zum ‚stärkeren‘ Geschlecht gehören.“

„Die Wahrnehmung der Frau als Sexobjekt in der Gesellschaft.“

Außerdem geht es Menschen, die sich öfter mit Belästigung konfrontiert sahen, in Bezug auf psychosomatische Beschwerden schlechter. Sie erkrankten wesentlich häufiger sowohl körperlich als auch psychisch infolge ihrer Belästigungserfahrungen.
Interessanterweise zeigt sich kein Effekt von Belästigungserfahrungen auf das allgemeine Wohlbefinden. Obwohl Dieckmann et al. (2017) mit dem gleichen Messinstrument ein schlechteres allgemeines Wohlbefinden bei Betroffenen finden konnten, die verstärkt Diskriminierungssituationen ausgesetzt waren, können die Daten der vorliegenden Studie diesen Effekt nicht bestätigen. Das kann daran liegen, dass im Gegensatz zu Dieckmanns Studie keine zeitliche Eingrenzung der Belästigungserfahrung stattfand. Während die analysierten Diskriminierungssituationen dort in den letzten zwei Jahren stattgefunden haben mussten, gab es in der vorliegenden Studie keine zeitliche Begrenzung.

 

Intersektionale Perspektive auf Belästigung im öffentlichen Raum

Die vorliegenden Ergebnisse decken sich mit bisherigen Befunden (Dieckmann et al. 2017; Fileborn und O‘Neill 2021): Menschen, die mehr Diskriminierungsmerkmale bei sich identifizieren, sind einem erhöhten Risiko ausgesetzt, belästigt zu werden. Dadurch leiden sie verstärkt unter negativen gesundheitlichen Folgen. Eine Person schildert das Ineinandergreifen von mehreren stigmatisierten Identitäts-Achsen:

„Als Frau, speziell als queere autistische Frau, biete ich viel ‚Angriffsfläche‘, sprich offensichtliche Merkmale, die mich als ‚anders‘ kenzeichnen [sic!], weshalb Menschen meiner Erfahrung nach eine geringere Hemmschwelle haben, ihren niederen Instinkten zu folgen.“
Aufgrund der quantitativen Befunde und den zusätzlichen Hinweisen in den qualitativen Kommentaren ist klar: Mehrfach marginalisierte bzw. von Machtpositionen in unserer Gesellschaft ausgeschlossene Personen müssen besser geschützt werden.

 

Implikationen für die Praxis

Prävention

Die gefährdete psychosomatische Gesundheit und direktes Erkranken von belästigten Personen kann geschützt bzw. verhindert werden, indem Belästigung im öffentlichen Raum vorgebeugt wird. Es gilt, präventiv mit potenziellen Tätern (und Täter*innen) zu arbeiten. Erkenntnisse zeigen, dass es sich dabei in der überwältigenden Mehrheit um Männer handelt (Goede et al. 2022). Sensibilisierungsarbeit mit Jungen und Männern, die auf die Veränderung und Auflösung von traditionellen Rollenbildern und Verständnissen von Männlichkeit, Weiblichkeit und Sexualität abzielt, kann dabei einen entscheidenden Beitrag leisten (Kade 2003). Auch die städtisch-räumliche Umgestaltung für verbesserte Sicherheit sollte auf der politischen Agenda stehen, um Belästigung vorzubeugen, z. B. durch die Installation von besserer Beleuchtung und das Austauschen von soliden Wänden an Haltestellen durch Glaswände (UN Women 2017). Notwendig ist außerdem der Ausbau von niedrigschwelligen psychosozialen Beratungsangeboten, um psychosomatische Beschwerden zu lindern und unmittelbar Betroffenen zu helfen (Goede et al. 2022).

 

Strafbarkeit

Eine weitere Möglichkeit, gegen Belästigung im öffentlichen Raum vorzugehen, stellt die Anpassung des Strafrechts dar. Bisher sind ausschließlich sexuelle Belästigung, die Berührungen involviert, sowie schwerwiegendere Vergehen wie sexueller Übergriff, sexuelle Nötigung und Vergewaltigung durch das Strafgesetzbuch (StGB) geregelt (§§ 177, 183, 184i). Frankreich, Belgien, Portugal und die Niederlande haben Catcalling in ihrer Gesetzgebung bereits strafrechtlich verankert und schützen so die Betroffenen (Gräber und Horten 2021). Quell und Dietrich (2020) fordern in diesem Sinne die Anpassung des deutschen Rechts nach dem Modell dieser Länder. Wenn erstens also der Zugang zu behördlichen Instanzen erleichtert und zweitens das Einleiten rechtlicher Schritte vereinfacht wird, kann die Selbstwirksamkeitswahrnehmung und somit die mentale Gesundheit von Betroffenen gestärkt werden (Taft et al. 2007a). Die öffentliche Debatte zeigt jedoch, dass die Aufnahme ins StGB immer wieder kontrovers diskutiert wird, weil zum Beispiel die Deutung von Äußerungen stark subjektiv ist und schlecht von misslungenen Kommentaren abgegrenzt werden kann (Gräber und Horten 2021). In dem Moment, in dem Belästigung aufgrund von mehreren Identitätsmerkmalen stattfindet, kann es zudem sehr hilfreich sein, die Tat im juristischen Sinne in Zusammenhang mit Hasskriminalität zu stellen. Das ermöglicht einen noch besseren Schutz Betroffener durch eine stärkere Sanktionierung. Eine genaue Erfassung des Tathergangs und -motivs seitens der Behörden ist dafür unerlässlich.

Die in der letzten Dekade entflammte gesellschaftliche Debatte zeigt: Belästigung im öffentlichen Raum erfährt immer mehr Aufmerksamkeit und steht im Zentrum von öffentlichen Forderungen. Politik und Gesellschaft müssen nun gemeinsam Wege finden, problematische Einstellungen gegenüber stigmatisierten Gruppen zu verändern und dem Problem der Belästigung endlich entschieden entgegenzutreten.

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1    Der Beitrag basiert auf der Masterarbeit von Jolanda Krok an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, welche im Jahr 2022 in Zusammenarbeit mit dem IDZ Jena entstanden ist.

   Frauen wird hier der Prägnanz halber als Überbegriff für jene Menschen benutzt, die durch Machtstrukturen, die auf dem Merkmal Geschlecht basieren, in unserer Gesellschaft benachteiligt werden. Der Begriff Frauen kann also auch für solche Personen verstanden werden, die sich z. B. als intergeschlechtlich, nicht-binär, transsexuell oder -gender und agender identifizieren.

3    Der Begriff „race“ wird in der Originalsprache beibehalten, weil die wörtliche Übersetzung in die deutsche Sprache nicht tragbar ist. Der Ausdruck „Rasse“ suggeriert zwangsläufig eine Aufspaltung von Menschen in unterschiedliche „Rassen“ und deren Hierarchisierung und entsagt jeglicher wissenschaftlichen Grundlage. Vielmehr untermauert der Begriff eine rassistische Ideologie und diente aus historischer Perspektive der Sicherung der Vorherrschaft von als weiß gelesenen Menschen sowie der Legitimierung grausamster Verbrechen gegen die Menschheit (u. a. Sklaverei, Kolonialpolitik, Holocaust etc.).

4    Die Großschreibung soll an dieser Stelle darauf aufmerksam machen, dass es sich nicht um eine tatsächliche Hautfarbe oder Eigenschaft handelt, sondern um ein konstruiertes Zuordnungsmuster sowie eine Selbstbezeichnung von Menschen, die durch gemeinsame Rassismuserfahrungen verbunden sind.

   Ethnische Herkunft, Geschlecht, Religion oder Weltanschauung, Behinderung, Alter, sexuelle Identität.

6    BIPoC ist ein Akronym für Black and Indigenous People of Color und wird als Selbstbezeichnung von Menschen genutzt, die strukturellen Rassismus erfahren.

7    Davon tragen 13 % Symbole ihrer Religion äußerlich sichtbar; 87 % nicht äußerlich sichtbar.

8    Die restlichen Personen machten keine Angabe (n = 23) oder identifizierten kein eigenes Merkmal als relevant für die Belästigungssituation (n = 15).

 


Jolanda Krok, M. Sc., hat an der Friedrich-Schiller-Universität Jena Psychologie studiert. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und PhD-Kandidatin an der Philipps-Universität Marburg und forscht zum Thema „Geschlecht und Gewalt gegen Politiker*innen“. Ihre Forschungsschwerpunkte sind geschlechtsbasierte Gewalt, Intersektionalität und Grenzüberschreitungen im medizinischen Setting.


 

Literaturverzeichnis

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