Hinführung
Das Committee on the Rights of Persons with Disabilities der Vereinten Nationen benennt im Jahr 2022 beeinträchtigte Personen, die in Institutionen leben mussten oder müssen, als „survivors of institutionalization“ (vgl. United Nations 2022, 10). Was im ersten Moment vielleicht irritieren mag, nämlich dass es nicht ausgeschlossen zu sein scheint, dass man eine Institution nicht überlebt, entpuppt sich bei näherer Analyse als zentraler Kritikpunkt an Institutionen, die für Menschen unterschiedlichster Beeinträchtigungen „erfunden“ wurden: Sie können toxische und gar tödliche Wirkungen haben, die Überlebenden wären als Opfer von Menschenrechtsverletzungen anzusehen und bedürfen eines intensiven Schutzes. Dieser zugespitzte Kommentar möge am Anfang dieses kurzen Beitrags stehen, der sich mit der Beharrlichkeit des institutionellen Modells auseinandersetzen und Wege aufzeigen möchte, wie den negativen Wirkweisen und Veränderungsresistenzen von Institutionen für Menschen, die als behindert bezeichnet werden, perspektivisch begegnet werden kann.
Das institutionelle Modell
Was im Folgenden als institutionelles Modell beschrieben wird, ist der Versuch, einen Vorgang zu beschreiben, der, beginnend mit dem historischen Prozess der Industrialisierung, die Absicht verfolgte, für bestimmte Personenkreise der industriellen Gesellschaft Räume und Orte zu gestalten, in/an denen diese Personenkreise leben sollten (vgl. dazu auch Dörner 1995).
Die so entstandenen Räume und Orte hatten und haben institutionellen Charakter, da sie
„ein öffentliches Regelsystem, das Ämter und Positionen bestimmt [, anwenden; E.W.]; mit ihren Rechten und Pflichten, Machtbefugnissen und Schutzzonen u.ä. Nach diesen Regeln sind bestimmte Handlungsformen erlaubt, andere verboten; für den Übertretungsfall sehen sie bestimmte Strafen, Gegenmaßnahmen usw. vor“ (Rawls 1975, 74).
Ihren problematischen, menschenrechtsverletzenden und isolierenden Charakter erhielten diese Institutionen dadurch, dass sie zu „totalen Institutionen“ (Goffman 1973) bzw. zu „Institutionen der Gewalt“ (Basaglia 1980) wurden. Totale Institutionen beschrieb Goffman (vgl. ebd.) wie folgt:
„Sie [totale Institutionen; E.W.] sind die Treibhäuser, in denen unsere Gesellschaft versucht, den Charakter von Menschen zu verändern. Jede dieser Anstalten ist ein natürliches Experiment, welches beweist, was mit dem Ich des Menschen angestellt werden kann“ (Goffman 1973, 23).
Denn die totale Institution deformiert das Ich des Menschen (man vergegenwärtige sich nur die leider viel zu selten rezipierte Lebensgeschichte von Adalgisa Conti, vgl. Conti 1979), ruft Verhaltensweisen hervor, die nicht biologischer Natur sind, sondern durch die negativen sozialen Prozesse, die mit der totalen Institution einhergehen (Isolation, Ausschluss), zu erklären sind. Die totalen Institutionen, die Goffman (a. a. O.) analysiert hat, sind nicht (mehr) vergleichbar mit zeitgenössischen Institutionen der sogenannten Behindertenhilfe, jedoch bleibt die Gefahr des totalen Charakters und seiner negativen Wirkweisen auch in ‚modernen‘ Institutionen bestehen.
Eine Institution der Gewalt weist nach Basaglia (1980) folgende Merkmale auf:
„… daß die Rollenverteilung gleichzusetzen ist mit Gewalt und Unterdrückung in dem Verhältnis von Macht und Ohn-Macht, und dies bedeutet wiederum den Ausschluß der Ohn-Mächtigen durch die Mächtigen“ (ebd., 124; Hervorheb. im Original).
Die von Basaglia entlarvten, historisch gewachsenen Einrichtungen für Menschen, die als behindert und/oder psychisch krank bezeichnet werden, stehen nicht erst seit den Analysen Goffmans (1973) zur totalen Institution in der Kritik. Als Ergebnis des historischen Prozesses der Industrialisierung sind diese Institutionen u. a. deshalb entstanden, weil die dort platzierten Personengruppen für die aufkommenden industriellen Prozesse nicht mehr ‚gebraucht‘ wurden (vgl. etwa Dörner 1995), sondern als „‚Arbeitskraft minderer Güte‘“ (Jantzen 1987, 30) angesehen wurden.
Zwei paradigmatische Schriften können in diesem Zusammenhang erwähnt werden, da sie beide, auf unterschiedliche Art und Weise und in Bezug auf unterschiedliche Personenkreise, das zuvor Beschriebene konkretisieren und analysieren: zum einen Bradls (1991) sozial- und ideengeschichtliche Veröffentlichung zu den Anfängen der Anstaltsfürsorge für Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung [des sogenannten „Idiotenanstaltswesens“ (vgl. ebd.)], exemplarisch dargelegt anhand des Rheinlandes. Zum anderen Dörners bereits erwähnter Beitrag aus dem Jahr 1995, „Bürger und Irre“ (vgl. Dörner 1995), in dem er eine Sozialgeschichte der Psychiatrie vorlegt.
De-Institutionalisierung und Rehistorisierung
Seither haben sich Institutionen, Einrichtungen und Organisationen, die in der (durchaus sehr problematischen) Traditionslinie des oben Beschriebenen standen und stehen, stark gewandelt, auch weil die Notwendigkeit erkannt wurde, dass Prozesse des De-Institutionalisierens (Weber 2008) die Lebenslagen von ehemaligen „Insass*innen“ (Goffman 1973) der Institutionen wesentlich verbessern können. Hier sind an erster Stelle die vielfältigen Veröffentlichungen von Wolfgang Jantzen zu diesem Themenfeld zu erwähnen (vgl. Jantzen 2003a-f). Jantzen hat den Begriff der De-Institutionalisierung konturiert, analysiert und im Kontext seines Gesamtwerks und -denkens weiterentwickelt (vgl. ebd.).
Jantzen geht es dabei weniger um eine rein äußerlich, baulich oder räumlich veränderte „Versorgungsstruktur“, sondern um eine andere Dimension: die Wiederherstellung des Subjekts nach erfahrenen Prozessen der Verdinglichung, der Aussonderung, der Isolation und des Ausschlusses. Hier beruft sich Jantzen zentral und immer wieder auf Franco Basaglia, aus dessen gedanklichem Kosmos auch die Idee der Rehistorisierung von Lebensgeschichten hervorgeht.
Jantzen (2003a) beschreibt den Prozess des De-Institutionalisierens als interdisziplinäre sozialpolitische (2003b) Aufgabe und legt mit dem notwendigen Blick auf Gewaltverhältnisse in den Institutionen (ebd., 2003d und e) eine Analysedimension vor, die es zulässt, Prozesse der direkten und indirekten Gewalt aufzudecken und ihre Wirkweise auf die Subjekte kritisch zu thematisieren. Eine zentrale Frage ist daher für Jantzens Konzept der Deinstitutionalisierung immer die folgende gewesen: „Wie können wir erreichen, dass die behinderten Menschen [in den Institutionen, E.W.], auf die wir unsere Arbeit beziehen, nicht mehr Objekt unserer Tätigkeit, sondern Subjekt ihrer selbst werden können?“ (Jantzen 2003f, 58). Diese Frage hat nichts von ihrer Aktualität verloren, insbesondere wenn es um die Lebenssituation von Menschen mit komplexen Unterstützungsbedarfen (vgl. DHG 2022) und bspw. erheblich herausforderndem Verhalten geht, die eigenständig keine Stimme in diesem Prozess erheben (können), sondern auf das (stellvertretende) Handeln anderer angewiesen sind. Rehistorisierung wiederum, verstanden als Prozess, der „mit den Mitteln des je verfügbaren Erklärungswissens die einzelne Geschichte dort als sinnvoll und systemhaft [rekonstruiert], wo diese bisher auf Natur und Schicksal, Pathologie und Devianz reduziert wurde“ (Jantzen 2018, 152), stellt einen methodologisch begründeten Versuch dar, Subjektivität zu rekonstruieren. Ausgehend von der Lebenssituation schwerst hospitalisierter Personen mit meist kognitiver Beeinträchtigung in Einrichtungen der sogenannten Behindertenhilfe hat Wolfgang Jantzen Ende der 1990er-Jahre die Konzeption der Rehistorisierung von Lebensgeschichten umrissen. Mit dem Erscheinen des Sammelbandes „Diagnostik als Rehistorisierung. Methodologie und Praxis einer verstehenden Diagnostik am Beispiel schwer behinderter Menschen“ (Jantzen und Lanwer-Koppelin 1996) wurde der Anspruch formuliert, die bisherige „psychologische, behindertenpädagogische und neurologisch-psychiatrische Diagnostik“ (ebd., Buchrücken) aus der Krise zu führen und „das Problem der Symptomatik nicht im Subjekt [zu suchen], sondern im fehlenden Begreifen und Verstehen der sozialen Umgebung“ (Jantzen 1996, 22).
Um die Lebensgeschichten derer zu rekonstruieren, deren Leben auf Krankheit und Pathologie reduziert war, hat Jantzen eine Methodologie vorgelegt, die – stark verkürzt ausgedrückt – darauf beruht, dass jedes menschliche Verhalten als sinnvoll und systemhaft anzusehen ist. Die Analyse der negativen und oben beschriebenen Wirkweisen der Institutionen der Gewalt ist hier besonderer Fokuspunkt. Mithilfe eines zu erarbeitenden bzw. zusammenzutragenden Erklärungswissens kann dieser Prozess dazu führen, Unverstandenes verstehbar(er) zu machen und als sozialen Prozess zu erklären. Folgende Abbildung soll diese zentralen Merkmale der Rehistorisierung herausstellen:
Abbildung 1: Zentrale Eckpunkte der Rehistorisierung (eigene Darstellung; Quelle: Jantzen 1990, 2018a; Jantzen und Lanwer 1996)
Beharrlichkeiten
Trotz des oben beschriebenen Innovationspotenzials ist eine Beharrlichkeit des institutionellen Modells zu beobachten. Zudem entsteht der Eindruck, dass Reformprozesse in der Eingliederungshilfe im Bereich des Wohnens seitens der etablierten Leistungserbringer und auch seitens der großen Leistungsträger eher eine Angelegenheit der Steuerung von Eingliederungshilfeleistungen sind und weniger als Prozesse angesehen werden, die die oben erwähnten Erkenntnisse zentral berücksichtigen oder sie konzeptionell untermauern würden. Die kritische Sicht auf das institutionelle Modell scheint eher ein Merkmal des wissenschaftlichen Diskurses zu sein, weniger Aufgabe und Anliegen der Akteur*innen im Feld der Eingliederungshilfe. Das spiegelt sich auch in der anhaltenden, deutlichen und massiven Kritik an der Umsetzung des Artikels 19 der UN-Behindertenrechtskonvention wider, der eine unabhängige, frei gewählte Lebensführung mit gemeindenaher Unterstützung fordert.
Im Oktober 2023 merkt das Committee on the Rights of Persons with Disabilities, das die Umsetzung der Konvention in den Unterzeichnerstaaten kritisch begleitet, in Bezug auf den zweiten und dritten Staatenbericht Deutschlands an: „The Committee is concerned about: (a) The extensive segregation of persons with disabilities in institutional settings and the lack of measures to achieve progress in deinstitutionalization [...]“ (vgl. United Nations 2023, 10) und schlägt vor:
„Develop a comprehensive deinstitutionalization strategy to end, as a matter of priority, the institutionalization of persons with disabilities, including in small residential homes, with measures to prevent transinstitutionalization and to support the transition from institutions to life in the community, with specific time frames, human, technical and financial resources and clear responsibilities for implementation and monitoring.“ (Vgl. ebd.)
In diesen Empfehlungen wird sich ausdrücklich gegen „shared accommodation“ ausgesprochen (vgl. ebd.).
Zur Frage der „transition from institutions to life in the community“ liegen mittlerweile ebenfalls viele innovative Konzeptionen vor (bspw. Aselmeier 2008, Seifert 2010). Ausgehend von der Selbstbestimmungs-Fähigkeit der Individuen sind es hier vor allem sozialräumlich orientierte Konzepte wie das des Community Living, die ein Gegenmodell zum institutionellen Modell darstellen.
Alternativen und innovative Potenziale
Innovative Potenziale lassen sich in erster Linie dort entdecken, wo mit Konzepten gearbeitet wird, die sich an den bereits lange und zentral im Fachdiskurs auftauchenden Leitbegriffen wie Selbstbestimmung, Teilhabe, Personenzentrierung, Sozialraumorientierung und Assistenz orientieren. An die Stelle überkommener Einrichtungen und Dienste bzw. des beschriebenen und kritisierten institutionellen Modells hätten inklusionsorientierte Dienste zur wohn- und alltagsbezogenen Unterstützung von Menschen mit Behinderungen zu treten (vgl. Düber et al. 2024).
„Inklusionsorientierte Dienste zur wohn- und alltagsbezogenen Unterstützung von Menschen mit Behinderungen müssen sich also nach wie vor und auch zukünftig an den [...] Leitbegriffen orientieren: Selbstbestimmung, Teilhabe, Personenzentrierung, Sozialraumorientierung und Assistenz“ (Weber 2024, 281).
Im Kontext von Selbstbestimmung betont bspw. Röh (2009) die „Notwendigkeit, den ethischen Anspruch der Selbstbestimmung in eine für behinderte Menschen erfahrbare Realität umzusetzen“ (vgl. ebd., 66). Jedoch ist diese soziale Realität oftmals und anhaltend von gegenteiligen Prozessen wie Fremdbestimmung, Benachteiligung, Ausgrenzung, sozialer Abwertung und Gewalt, wie oben skizziert, gekennzeichnet.
Teilhabe als „Gegenbegriff zu Ausgrenzung oder Ausschluss [stehe; E.W.] für eine positive Idee von Wohlfahrt, Lebensqualität oder ‚gutem Leben‘“ (Bartelheimer et al. 2020, 19). Das „Was“ und „Wie“ der Teilhabe sei näher bestimmbar, das „Wieviel“ hingegen „letztlich normativ zu beantworten und somit Gegenstand gesellschaftlicher und politischer Aushandlung“ (ebd.). Mit Dederich und Dietrich (2022) kann zudem festgehalten werden, dass es darum gehe, herauszustellen, welcher Stellenwert der Involvierung des Subjekts in Strukturen und Prozessen der Teilhabe zukomme (vgl. ebd., 60). Dies hat erhebliche Auswirkungen auf die Art und Weise, wie Alternativen zum hier beschriebenen institutionellen Modell letztlich ausgestaltet sind.
Personenzentrierung kann kein im Sozial- und Leistungsrecht untergehender (Steuerungs-)Begriff werden, sondern hierunter wäre eine konsequente Orientierung an den Wünschen, Bedarfen und Bedürfnissen des Individuums zu verstehen. Es geht um eine „Individualisierung der Hilfen“ (Schäfers 2017, 37) im Gegensatz zu einer Institutionsorientierung.
Das Konzept der Sozialraumorientierung setzt an der „Kritik an bürokratischen, zentralisierten, heimatfernen, separierten und teilweise entmündigenden Versorgungsstrukturen“ an (Beck 2016, 394), also an der Kritik am institutionellen Modell. Es hat sich, ursprünglich aus Kontexten der Kinder- und Jugendhilfe kommend, auch in der sogenannten Behindertenhilfe etabliert (vgl. DHG 2007). Es ist kein voraussetzungsloses Konzept, fordert es doch nichts weniger als eine Neuorientierung des professionellen Selbstverständnisses (vgl. DHG 2021, 77ff.). Obwohl es auch in der Kritik steht (vgl. bspw. Dahme/Wohlfahrt 2012), bietet der soziale Raum bei allen Ambivalenzen Ressourcen, die im Sinne eines demokratischen Miteinanders genutzt werden können:
„Der Sozialraum ist demnach das Feld, in dem Menschen die Gesellschaft in ihrer sozialen Differenziertheit erfahren, indem Beziehungsnetze geknüpft, Nähe und Distanz ausgehandelt und in der Folge auch individuelle und gruppenbezogene Zugehörigkeiten und Nicht-Zugehörigkeiten entstehen“ (Dederich 2019, 506).
Assistenz schließlich – ein im Kontext der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung erkämpftes Konzept – soll hier darüber hinaus verstanden werden als die Umkehrung eines Machtgefüges von Ich (Assistent*in) gebe Dir, zu Deinem Besten, Anweisungen, in Ich, Mensch, von Dir behindert genannt, gebe Dir Anweisung, wie Du mir zur Hand zugehen hast! (vgl. ausführlich Weber 2022).
Assistenz in Form von Unterstützungsleistungen für Menschen mit Behinderungen hat in der sogenannten Behindertenhilfe und im sozialen Leistungsrecht bzw. -system in unterschiedlichen Bereichen Eingang gefunden. Damit ist für die Zukunft der Auftrag verbunden, den Zusammenhang von „Assistenz und professioneller Beziehungsgestaltung“ (vgl. DHG 2021, 38f.) zu reflektieren und im Sinne des Aufbaus „persönlichkeits- und beziehungsbezogene[r] sowie fachliche[r] Kompetenzen der Assistenzkräfte“ (ebd., 39) auszugestalten. Dazu gehört, Assistenz in komplexen Unterstützungsarrangements (vgl. DHG 2021, 36f.) zu denken und zu planen, Assistenz zur Selbstbestimmung und advokatorische Assistenz (vgl. DHG 2021, 37f.) zu reflektieren, die Qualifizierung von Assistenz (vgl. DHG 2021, 39) zu gewährleisten und Assistenz mit einem Teilhabemanagement (vgl. DHG 2021, 42f.) zu verbinden.
Ausblick
In einem programmatischen Aufsatz zur Notwendigkeit der (Weiter-)Entwicklung inklusionsorientierter Dienste betont Schädler (2024) die nach wie vor (auch in diesem Beitrag skizzierten) vorhandenen Widersprüche und kritischen Punkte des bisherigen Reformprozesses, „etwa hinsichtlich seiner wohl wiederum überzogenen Steuerungsvorstellungen oder seiner faktischen Bestandsgarantien für Sondereinrichtungen“ (vgl. ebd., 65). Das Hilfesystem sei immer noch vielerorts durch seine stationäre Tradition geprägt und „besondere Einrichtungen […] mit ihrer Logik der Unterbringung und Versorgung [...] mit ‚Plätzen‘ [bilden] oft noch den Kern der Angebote“ (vgl. ebd., 65f.). Dies kann zu der Annahme verleiten, dass das institutionelle Modell noch nicht durch andere Modelle abgelöst worden ist. Die erwähnten „abschließenden Bemerkungen“ des Ausschusses der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2023 (vgl. United Nations 2023) stützen diese These und mahnen wiederholt zum Handeln.
Um den begonnenen Reformprozess jedoch zu stützen und ihn inhaltlich-fachlich zu rahmen, legen die Autor*innen Düber, Rohrmann und Schädler (2024) mit ihrem Lehr- und Arbeitsbuch zur Etablierung inklusionsorientierter Dienste einen Kompass vor, an dem sich künftige Reformschritte orientieren können. Denn „auch die Träger traditioneller Sondereinrichtungen [sehen sich; E.W.] verstärkt mit inklusionsorientierten Erwartungen der Nutzer*innen, aber auch der örtlichen Zivilgesellschaft und Politik konfrontiert“ (vgl. Schädler 2024, 67). Dies kann dazu führen, dass das institutionelle Model doch zum Auslaufmodell wird und eine Orientierung an inklusionsorientierten Diensten dazu führen kann, „die menschenrechtliche und fachliche Überlegenheit des inklusionsorientierten Ansatzes durch überzeugende Praxis deutlich zu machen“ (vgl. ebd.).
Erik Weber, Prof. Dr. (Dr. paed., Dipl.-Heilpädagoge); Tätigkeiten an den Universitäten Köln, der PH Heidelberg, JLU Gießen, Universität Koblenz-Landau und der Ev. Hochschule Darmstadt (Professor für „Integrative Heilpädagogik/Inclusive Education“); seit 2019 Universitätsprofessor für „außerschulische Rehabilitationspädagogik mit dem Schwerpunkt Beratung“ an der Philipps-Universität Marburg; Vorsitzender der Deutschen Heilpädagogischen Gesellschaft (DHG) e. V.
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