Viktoria Kamuf
Vielen Dank, dass du dich bereit erklärt hast, dieses Gespräch zu führen. Ich würde dich zuallererst bitten, dich kurz vorzustellen: Wer bist du und was machst du beruflich?
Interviewte Person
Ich bin Klientin1 in einer Behindertenwerkstatt, in einer geschützten Werkstatt für behinderte und mehrfachbehinderte Menschen.
Viktoria Kamuf
Wie kam es dazu, dass du mit dieser Arbeit angefangen hast?
Interviewte Person
Ich habe mit der Arbeit in dieser Werkstatt vor ein paar Jahren angefangen. Das wurde damals vom Arbeitsamt vermittelt. Da ich ja nicht raus kann [auf einen Arbeitsplatz auf dem regulären Arbeitsmarkt, VK] muss ich nach Behindertenwerkstätten schauen. Die, in der ich jetzt arbeite, ist sehr gut gelegen.
Viktoria Kamuf
Wenn du erst seit ein paar Jahren dort arbeitest, hattest du davor eine andere Arbeit?
Interviewte Person
Davor habe ich in einer anderen Stadt bereits in einer Werkstatt gearbeitet. Als ich dann umgezogen bin, habe ich dort gekündigt. Insgesamt habe ich bereits in vier Werkstätten an unterschiedlichen Orten gearbeitet.
Viktoria Kamuf
Und als du vorhin meintest, dass du nicht „raus kannst“, hast du dich da auf deinen Zugang zum regulären Arbeitsmarkt bezogen?
Interviewte Person
Genau. Wenn wir es so sagen wollen, dann sind wir als Behinderte nicht auf dem ersten Arbeitsmarkt2 vermittelbar. Es gibt Ausnahmen – ich könnte raus, wenn es die Möglichkeit gäbe. Ich bin auch immer wieder auf der Suche nach einem Arbeitsplatz draußen. Aber es ist sehr, sehr schwer, etwas zu finden.
Viktoria Kamuf
Du warst auch eine Zeit lang Teil des Werkstattrats in einer Werkstatt. Wie ist das zustande gekommen und warum wolltest du Teil des Werkstattrats werden?
Interviewte Person
Es gibt eine Ausschreibung, bei der man sich zur Wahl aufstellen lassen kann und dann bekommen alle einen Stimmzettel, auf dem man ankreuzen kann, wen man wählt. Ich habe damals eine der höchsten Stimmzahlen bekommen und bin dann in den Rat eingetreten. Nach einer Weile bin ich allerdings wieder ausgetreten, weil da einfach zu viel geredet wurde. Der Werkstattrat ist eigentlich dafür da, um etwas auf die Beine zu stellen. Ich habe die Hoffnung gehabt, dass ich etwas bewegen kann, dass wir erhört werden. Und ich habe auch etwas auf die Beine gestellt, denn wir haben zumindest in einem Punkt eine bessere Ausstattung am Arbeitsplatz bekommen. Da war ich stolz drauf. Aber im Grunde, unterm Strich, war es nicht so, dass wir wirklich erhört wurden. So ein Werkstattrat sollte eigentlich mit dem Werkstattleiter kooperieren und das hat aus meiner Sicht nicht funktioniert. Eigentlich ging alles drunter und drüber.
- In jeder Werkstatt für Menschen mit Behinderung muss ein Werkstattrat von den Beschäftigten gewählt werden, dies ist in der Werkstätten-Mitwirkungsverordnung (WMVO) festgeschrieben. Mehr Informationen zur Mitbestimmung in WfbM und den Aufgaben und Rechten des Werkstattrats finden Sie hier: https://www.lebenshilfe.de/informieren/arbeiten/mitbestimmung-beim-arbeiten/.
Viktoria Kamuf
Welche Themen haben euch im Werkstattrat neben der Ausstattung des Arbeitsplatzes v. a. beschäftigt?
Interviewte Person
Man geht als Werkstattrat zu verschiedenen Gremien. Zum Beispiel geht es dabei um neue Bauvorhaben der Werkstatt. Da kann man zum Beispiel als Gehbehinderter Vorschläge machen, dass ein Aufzug gebraucht wird oder wie sonst die Bauweise sein sollte. Das wird dann auch berücksichtigt. Ein Kritikpunkt von uns war das Essen, da das wirklich nicht schmeckte und es immer zu wenig gab. Was uns außerdem lange beschäftigt hat, war ein Ruheraum, den wir gefordert haben, der aber nie eingerichtet wurde.
Viktoria Kamuf
Hattest du denn das Gefühl, dass ihr als Werkstattrat mit euren Punkten ernst genommen werdet?
Interviewte Person
Ich sage mal nein. Ich glaube, wir werden nicht so ernst genommen. Zum Beispiel mit dem Ruheraum. Obwohl wir gesagt haben, wir finden das wichtiger, wurde eine andere teure Sache gekauft, die eigentlich niemand gebraucht hat. Da hatte ich das Gefühl, dass uns zwar zugehört, aber dann trotzdem etwas ganz anderes gemacht wird. Und ich habe das Gefühl, dass die Betreuer anders behandelt werden als wir. Vor allem bekommen die Betreuer mehr Lohn als die Behinderten. Manchmal gehen auch einige Betreuer einfach früher von der Arbeit und uns wird gesagt, wir sollen bis zum Schluss bleiben. Und manchmal habe ich das Gefühl, dass mit mir geredet wird wie mit einem Kind. Das ist echt anstrengend. Im Großen und Ganzen bin ich keine Freundin von solchen Einrichtungen.
Viktoria Kamuf
Damit beziehst du dich auf Werkstätten für Menschen mit Behinderung im Allgemeinen.
Interviewte Person
Genau, generell finde ich das Konzept Werkstätten sehr schwierig. Ich finde, es sollte mehr in der Gesellschaft, also außerhalb der Werkstätten, gemacht werden, damit Behinderte erhört werden. Klar gibt es viele, die bei uns arbeiten, die diesen geschützten Rahmen, den die Werkstatt bietet, wollen. Das ist ja auch okay, das können sie selbst entscheiden. Aber für mich fühlt sich das an wie die reinste Reha-Maßnahme. Ich gucke immer auf die Uhr, wann endlich Feierabend ist. Das ist ja auch nicht der Sinn der Sache. Wir brauchen natürlich Beschäftigung, kein Thema, aber eigentlich müssten die Firmen sich dafür mehr einsetzen und mehr unternehmen.
Viktoria Kamuf
Was meinst du damit genau?
Interviewte Person
Firmen müssen mehr Arbeitsplätze schaffen für behinderte Menschen auf dem normalen Arbeitsmarkt. Viele Leute sagen mir immer, dass wir doch froh sein sollten, dass wir Behindertenwerkstätten haben. Aber ich bin nicht froh darüber. Alle reden von Inklusion und Gleichberechtigung und alle sollen die gleichen Arbeitsplatzchancen kriegen, aber dann kann eine Firma eine Abgabe bezahlen, um niemanden einstellen zu müssen, der behindert ist. Das ist Mist. Einige Firmen haben doch bereits ganz gute Bedingungen, die haben eine Behindertentoilette, die haben einen Umziehraum – eigentlich geht doch alles. Aber dann sagen sie, sie stellen einen nicht ein, weil das zu unwirtschaftlich ist. Das ist nervig. Ich will, dass wir Behinderten draußen eine Chance bekommen.
- Eigentlich sind in Deutschland Arbeitgeber*innen eines Betriebes mit mehr als 20 Arbeitsplätzen verpflichtet, eine bestimmte Anzahl an Menschen mit Schwerbehinderung zu beschäftigen. Tun sie das nicht, müssen sie für jeden unbesetzten Arbeitsplatz für Menschen mit Schwerbehinderung eine Ausgleichsabgabe zahlen. Mehr Informationen zu der Berechnung, den Bedingungen und zum gesetzlichen Hintergrund dieser Abgabe finden Sie hier: https://www.bih.de/integrationsaemter/medien-und-publikationen/fachlexikon/detail/ausgleichsabgabe/.
Viktoria Kamuf
Was wäre dein Wunsch an die Politik, was geändert werden müsste, um diese Situation zu verbessern?
Interviewte Person
Ich wünsche mir von der Politik ganz einfach, dass das Thema nicht so unter den Tisch gekehrt wird und dass Behinderte nicht nur in die Behindertenwerkstätten reingezwängt werden, sondern auch raus können. Und dazu gehört, dass diese Abgabe, die Firmen zahlen können, abgeschafft wird. Die Lösung ist natürlich nicht, dass alle Behinderten einfach zuhause bleiben. Wir sind eine Werkstatt, in der auch Mehrfachbehinderte arbeiten und ich weiß, dass die nicht alle auf dem normalen Arbeitsmarkt arbeiten können. Werkstätten müssen also nicht komplett abgeschafft werden. Aber es gibt auch viele wie mich, die können das, die würden das schaffen, die würden das hinkriegen. Das ist eine politische Frage, die da gestellt werden muss: Wie kriegt man behinderte Menschen raus? Dieses Punkte sammeln und der ITP3, worüber sich dann entscheidet, ob du für einen Außenarbeitsplatz geeignet bist, das finde ich Käse. Wir haben uns zum Beispiel schon mal die Frage gestellt, was passiert, wenn es mal einen Gruppenleiter gibt, der einen nicht mag. Der sagt dann, du bist mir unsympathisch und schreibt auf, dass man nur für die Werkstatt geeignet wäre und nicht für den regulären Arbeitsmarkt. Eigentlich müssten wir alle, Behinderte und Normale4, rausgehen und zusammen protestieren, wir sollten Kundgebungen machen. Es müssten eigentlich mehr Leute hinter unseren Anliegen stehen, damit wir eine Verbesserung erreichen können. Man sollte nicht sagen, dass alles gut ist. Das stimmt nämlich nicht. Das kriege ich ja auch in der Werkstatt zu hören, dass wir froh sein sollen, dass wir eine gute Rente bekommen, wenn wir rauskommen. Und wir kommen ja mit einer guten Rente raus,5 aber ich will trotzdem nicht in der Werkstatt arbeiten. Es ist schwierig.
Viktoria Kamuf
In den Werkstätten werdet ihr weit unter dem Mindestlohn bezahlt ...
Interviewte Person
Bei uns gibt es keinen Mindestlohn.
Viktoria Kamuf
Genau, aber eigentlich gibt es in Deutschland einen Mindestlohn und in den Behindertenwerkstätten wird eine Ausnahme gemacht. Wie findest du das?
Interviewte Person
Da könnte ich mich aufregen. Aus meiner Sicht ist das einfach Abzocke und das sollte auch aufhören. Die Menschen, die in den Werkstätten arbeiten, die die managen und uns betreuen, die kriegen viel mehr Geld. Gleichzeitig kriegen Leute, die sich ehrenamtlich um behinderte Menschen kümmern, fast gar nichts. Das finde ich ein bisschen ungerecht.
- Die Beschäftigung in WfbM wird rechtlich als „arbeitnehmerähnliches Beschäftigungsverhältnis“ betrachtet, deswegen wird eigentlich kein Lohn gezahlt wie in klassischen Arbeitnehmer*innenverhältnissen. Die Werkstätten sind auch nicht an die Mindestlohn-Regelung gebunden. Stattdessen bekommen die Beschäftigten in den Werkstätten sogenannte „Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben“. Konkret erhalten Beschäftigte der WfbM ein je nach Arbeitsleistung gestaffeltes Werkstattentgelt. Im Jahr 2022 war das ein monatlicher Betrag von durchschnittlich 222 Euro (https://www.bagwfbm.de/article/6826). Davon wird manchen Beschäftigten noch das Essensgeld für die Verpflegung in der Werkstatt abgezogen. Um ihren Lebensunterhalt sichern zu können, sind die meisten Werkstattbeschäftigten darüber hinaus auf Leistungen aus der Grundsicherung angewiesen. Weitere Informationen zur Zusammensetzung und zu den rechtlichen Grundlagen des Werkstattentgelts finden Sie hier:https://www.lebenshilfe.de/informieren/arbeiten/wie-viel-geld-bekommen-beschaeftigte-in-wfbm/.
Viktoria Kamuf
Ich kann mir vorstellen, dass viele Menschen, die keine Behinderung haben, denken, dass sie Personen mit Behinderungen unterstützen, wenn sie Produkte von Werkstätten für Menschen mit Behinderung kaufen. Wie stehst du dazu und was würdest du diesen Personen empfehlen?
Interviewte Person
Also ich würde eine Behindertenwerkstatt nicht unterstützen wollen. Jeder ist natürlich frei zu machen, was er will. Aber ich würde es nicht machen, weil ich damit nicht den Behinderten unterstütze, sondern die Betreuer, die in den Werkstätten arbeiten. Außerdem habe ich den Eindruck, dass die Werkstätten bereits sehr viel Geld haben. Ich, als Person, die dort arbeitet, habe allerdings noch nie etwas von dem Geld gesehen, das die Werkstatt verdient, wenn wir etwas verkaufen oder Spenden einnehmen. An diesen Gewinnen werden wir ja nicht direkt beteiligt.
Viktoria Kamuf
Was würdest du dir also wünschen von Menschen, die keine Behinderung haben: Wie können sie Menschen mit Behinderung unterstützen?
Interviewte Person
Die könnten unterstützen, dass wir mehr erhört werden, dass wir mehr rauskommen, dass wir zum Beispiel nicht gleich in Behindertenwerkstätten gesteckt werden. Es ist sehr schwer, etwas alleine auf die Beine zu stellen. Ich habe viele Ideen, doch die vielen Ideen kann ich nicht alleine umsetzen. Ich möchte zum Beispiel das Arbeitsministerium mal anschreiben und fragen, was man machen könnte, damit Behinderte mehr aus den Werkstätten rauskommen und ob diese Abgabe, die Firmen zahlen können, nicht mal verboten werden könnte. Ich könnte die auch mal einladen, genug Tee hab ich ja da [lacht]. Ich würde auch gern eine Kampagne dazu starten, um mehr Leute zu animieren, sich dafür einzusetzen. Ich will nicht gegen einzelne Werkstätten vorgehen, um Gottes Willen. Aber ich will Leute dazu bringen, sich dafür einzusetzen, dass wir mehr rauskönnen und nicht immer nur geredet wird. Das ist viel Arbeit, aber auch das kriegen wir hin. Wenn Leute sagen, die Welt muss zusammenhalten usw., dann müssen die Leute sich auch dafür einsetzen, dass Behinderte mehr in die Gesellschaft rauskommen, auch durch die Arbeit. Ich frage mich zum Beispiel, warum so viele Werkstätten außerhalb der Städte liegen. Ein Grund dafür sind vielleicht die Grundstückspreise. Aber ich habe oft das Gefühl, dass es auch daran liegt, dass wir nicht so gern gesehen werden, mitten in der Stadt. Es fühlt sich an wie ein ständiger Kreislauf und dass nichts unternommen wird. Man will ja auch gerne zur Arbeit gehen.
Viktoria Kamuf
Vielen Dank für das Gespräch!
1 Die offizielle Bezeichnung für solche Einrichtungen ist „Werkstatt für Menschen mit Behinderung (WfbM)“. Wir nutzen hier den Begriff, den die Interviewpartnerin selbst im Gespräch gewählt hat. Als „Klient*innen“ werden Beschäftigte dieser Werkstätten üblicherweise an ihrem Arbeitsplatz bezeichnet.
2 Als „erster Arbeitsmarkt“ wird allgemein der Teil des Arbeitsmarkts verstanden, bei dem Arbeitsverhältnisse ohne Zuschüsse oder aktive Arbeitsmarktpolitik zustande kommen. Im Gespräch werden dafür synonym die Begriffe regulärer oder normaler Arbeitsmarkt verwendet.
3 TP ist die Abkürzung für „Integrationsplan“. Nach diesem Plan wird jedes Jahr nach einem Punktesystem evaluiert, ob man als Werkstatt-Beschäftigte*r für die Weiterarbeit in der Werkstatt oder für einen Außenarbeitsplatz geeignet wäre. Bei einem Wechsel auf einen Außenarbeitsplatz verlässt die beschäftigte Person die Werkstatt, um für ein Unternehmen des regulären Arbeitsmarkts zu arbeiten, wird aber weiterhin nach dem Werkstattentgelt bezahlt und im Rahmen der Werkstatt betreut.
4 Die sprachliche Unterscheidung zwischen „behinderten“ und „normalen“ Menschen reproduziert die Vorstellung, dass Menschen mit Behinderung nicht der gesellschaftlichen Norm entsprächen, und trägt somit zum gesellschaftlichen Ausschluss und zur Diskriminierung dieser Personen bei. Wir haben diese Formulierung hier jedoch beibehalten, da die Gesprächspartnerin sie selbst gewählt hat zur Beschreibung ihrer Position in der Gesellschaft.
5 Nichtsdestotrotz sind Menschen mit Behinderung in der deutschen Gesellschaft stärker armutsgefährdet als Menschen ohne Behinderung: https://www.zeit.de/gesellschaft/2021-12/ungleichheit-armutsquote-behinderte-
paritaetischer-gesamtverband.
Das Gespräch mit einer Beschäftigten in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung führte Viktoria Kamuf, wissenschaftliche Mitarbeiterin am IDZ, Anfang des Jahres 2024.
Das Gespräch bietet die Gelegenheit, Einblicke in die Erfahrungen und Ansichten einer Beschäftigten in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung zu gewinnen. Diese hat sich entschieden, anonym zu bleiben. Für unsere Gesprächspartnerin ist wichtig, ihre Positionen und Gedanken offenzulegen, ohne dabei persönliche oder berufliche Risiken einzugehen. Die Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren, oder anderweitige negative Konsequenzen zu erfahren, sind Sorgen, die wir respektieren und ernst nehmen. Um die Anonymität zu wahren und gleichzeitig die Authentizität des Gesprächs zu erhalten, haben wir in Absprache mit der Befragten Details im Interview leicht verändert. Diese wurden sorgfältig abgewogen, um sicherzustellen, dass die Kernbotschaften und Erfahrungen präzise wiedergegeben werden, ohne persönlich identifizierbar zu sein.