Antifeminismus und Antisemitismus in der Gegenwart – eine Fallanalyse zu Verschränkung und kultureller Codierung

Feminismus und ‚Gender‘ fungieren gegenwärtig über verschiedene politische Lager und Milieus hinweg als Feindbild. Insbesondere in Themenfeldern wie Familien-, Geschlechter- und Sexualpolitiken können antifeministische Gehalte eine Verbindung zwischen verschiedenen extrem rechten Strömungen und dem bürgerlichen Mainstream herstellen. Antifeminismus kommt eine wichtige ideologische wie organisatorische Integrations- und Scharnierfunktion zu. Innerhalb dieser Konstellation spielt auch (latenter) Antisemitismus eine Rolle. Nach einer Einführung in das gesellschaftsgeschichtliche und konzeptionelle Verhältnis von Antifeminismus und Antisemitismus wird im Beitrag exemplarisch analysiert, wie Antifeminismus am Beginn des 21. Jahrhunderts kulturell codiert ist und welche Potenziale der Verschränkung mit antisemitischen Deutungsmustern eröffnet werden.

 

Seit etwa 15 Jahren lässt sich in Deutschland verstärkt ein organisierter Antifeminismus beobachten, der auf parteipolitischer Ebene zentral durch die AfD repräsentiert wird. Das Spektrum und der publizistische Einfluss des organisierten Antifeminismus reichen allerdings darüber hinaus – von rechtskonservativen, christlich-fundamentalistischen und extrem rechten Milieus bis weit in bürgerliche Lager und „die Mitte“ hinein (Lang/Peters 2018: 18ff.). Antifeminismus zählt zu den allzu lange wenig thematisierten antimodernen Ressentiments. Dabei ist Antifeminismus so alt wie die moderne kapitalistische Gesellschaft und kann auch in Verbindung mit anderen Formen (der Rechtfertigung) von Ablehnung, Hass und Gewalt, insbesondere Antisemitismus, auftreten.1

Antisemitismus & Antifeminismus in der Moderne

Als spezifisch gegen die egalitären Versprechen einer liberalen und pluralistischen Moderne gerichtete moderne Ressentiments bildeten sich sowohl Antisemitismus als auch Antifeminismus im Lauf des langen 19. Jahrhunderts heraus. In bestimmter Form stellen sie Reaktionen auf widersprüchliche gesellschaftliche Prozesse dar, durch die traditionelle Verhältnisse aufgebrochen und Menschen in ambivalenter Weise aus diesen – wenn auch unvollständig – emanzipiert werden.2

Unter Antisemitismus verstehen wir eine auf Jüdinnen und Juden bezogene Praxis der Gewalt in Wort und Tat und deren Rechtfertigung. Moderner Antisemitismus, so stellt die Historikerin Shulamit Volkov (2000: 28) fest, sei „ein zum Symbol erhobener Judenhaß“. Als ambivalent oder negativ erfahrene Herausforderungen moderner, kapitalistischer Vergesellschaftung – sozioökonomische Krisen, Auflösung überkommener Sozialmilieus oder anonyme Herrschaft – werden auf ‚die Juden‘ projiziert und gewaltsam vereindeutigt. Abstrakte gesellschaftliche Prozesse und Strukturen werden als ‚jüdisch‘ oder als von einem vorgestellten, allmächtigen Kollektiv ‚der Juden‘ gelenkt und verursacht thematisiert, als ‚Zersetzung‘, Verschwörung und Manipulation.
Unter Antifeminismus verstehen wir eine Praxis der Gewalt in Wort und Tat und deren Rechtfertigung, die sich gegen Bemühungen zur Gleichberechtigung im Geschlechterverhältnis richtet. Zentral wird die Verunsicherung der traditionellen binären Geschlechterordnung in der Moderne – und darüber der bestehenden Gesellschaftsordnung – auf ‚den Feminismus‘ und dessen Akteur*innen3 als angeblich Verantwortliche übertragen. Entsprechend formuliert die Sozialwissenschaftlerin Herrad Schenk (1980: 176; Hervorhebung d. A.): „Antifeminismus will die Geschlechterrollendifferenzierung vor dem Feminismus in Schutz nehmen und die Definition von Weiblichkeit, die sich an männlichen Bedürfnissen orientiert, erhalten.“ Antifeminismus stellt eine Reaktion auf bzw. eine Gegenbewegung zur gesellschaftlichen Veränderung der Geschlechterordnung dar.

Verschränkung & Differenz von Antisemitismus & Antifeminismus

‚Der Feminismus‘ und ‚das Judentum‘ fungieren als „Chiffren“ (Ute Planert), die dazu dienen, bestimmte Gruppen für das Unbehagen an den Entwicklungen der modernen, kapitalistischen Gesellschaft verantwortlich zu machen. So werden in Agitation und Massenkultur nicht an individuelle Einzelne gebundene soziale Strukturen personalisiert, d. h. mit bestimmten Personen oder Personengruppen identifiziert; z. B. ‚der Feminismus‘ als Agent der ‚Zerstörung der Familie‘ oder ‚die Juden‘ als hinter ‚dem Feminismus‘ stehende Macht. Eigene unterdrückte oder abgewehrte, unbewusste Wünsche, Ängste oder Handlungsmotivationen werden durch Projektion in oder auf ein äußeres Objekt, ein Anderes abgeschoben; etwa die Zuschreibung von Macht und Einfluss, die man selbst anstrebt oder erhalten will. 

Antifeminismus und Antisemitismus waren im Deutschen Kaiserreich „nicht nur ideologisch aufeinander bezogen, sondern auch organisatorisch, auf der Ebene der Wortführer und Trägergruppen, eng miteinander verflochten“ (Planert 1998: 260). Sich zur Judenfeindschaft bekennende AkteurInnen bekannten sich ebenso zum Antifeminismus und oftmals auch umgekehrt. Shulamit Volkov (2000: 23) erklärt diese enge Verbindung mit der Funktion des Antisemitismus als „kulturellen Code“, der die Ablehnung moderner, liberaler gesellschaftlicher Verhältnisse symbolisiert: „Man drückte dadurch die Übernahme eines bestimmten Systems von Ideen und die Präferenz für spezifische soziale, politische und moralische Normen aus.“
Hier zeigt sich aber auch ein wichtiger (historischer) Unterschied der beiden Ressentiments: Antisemitismus, insbesondere in dessen radikal-völkischer Ausprägung, war zwar öffentlich normalisiert und kulturell vertraut, wurde aber von spezifischen Akteursgruppen getragen. Antifeminismus hingegen stellte eine soziale Norm dar: Die Ablehnung der „Frauenemanzipation“ wurde nahezu allgemein in der Gesellschaft geteilt (Volkov 2001: 76).

Antifeminismus und Antisemitismus sind in keinem Fall identisch. Sie unterscheiden sich insbesondere in der Gewalt der jeweils vorgenommenen Zuschreibungen (Gehmacher 1998). Innerhalb des Antifeminismus muss es ‚die gute Frau‘ (als Teil der Nation und zu deren Reproduktion) geben, wobei diese ideologisch definierte Rolle individuell von den Betroffenen angenommen werden kann. Innerhalb des Antisemitismus fungiert ‚der Jude‘ dagegen unhintergehbar als absoluter Feind, als „das negative Prinzip als solches“ (Horkheimer/Adorno 1987 [1947]: 197).

Antisemitismus & Antifeminismus in der Demokratie der Gegenwart

Unter den Bedingungen einer Demokratie und einer immer breiteren Vielfalt an gesellschaftlich anerkannten Lebensformen, verändern Ressentiments ihre Form und Funktion. Äußerungen der Menschenfeindschaft werden als fragwürdig wahrgenommen und oftmals indirekter, als vermeintlich ‚bloße Meinungsäußerung‘, kommuniziert (Claussen 2005: VIIIf.). Die eigenen Vorurteile werden geleugnet und Täter und Opfer, Ursache und Wirkung verkehrt: Für ihr Unglück bzw. die Ablehnung und Gewalt, die ihnen entgegengebracht wird, seien die Objekte des Ressentiments (selbst) verantwortlich.4 Insbesondere wenn antisemitische und antifeministische Gehalte latent erscheinen, „als etwas, was ständig da ist, was die Mehrheit nicht stört und was als normal gilt“ (Kistenmacher 2020), gerade dann erschwert das öffentlich inszenierte Tabu auf menschenfeindliche und diskriminierende Äußerungen das Erkennen der konkreten Äußerungen der Menschenfeindschaft.

So wird etwa in Bezug auf Antisemitismus behauptet, der Vorwurf des Antisemitismus werde als Herrschaftsinstrument verwendet, um unliebsame Meinungen und Kritiker*innen zum Schweigen zu bringen. Die Vorstellung einer besonderen, unheimlichen ‚jüdischen Macht‘ bleibt so erhalten und wird in verschiedene, oft verschwörungsideologische Codes verpackt. In der Unübersichtlichkeit digitaler Medienumwelten werden daneben zunehmend wieder offen Elemente sogenannter ‚geschlossen antisemitischer Weltbilder‘ (etwa von „jüdischer Weltverschwörung“) kommuniziert, die bis vor wenigen Jahren vor allem der neonazistischen Rechten vorbehalten waren (Schwarz-Friesel 2019).

Ähnlich werden innerhalb des Antifeminismus heute Fortschritte von Gleichstellungs- und Emanzipationsprozessen als schädlich für ‚die Frauen‘ selbst wie auch für die angeblich zunehmend ‚benachteiligten Männer‘ und ‚Jungen‘ behauptet (Blum 2019: 86ff.). In den letzten 15 Jahren ist zudem verstärkt der soziale Wandel der Familie sowie die zunehmende Anerkennung einer Pluralität von Lebens- und Liebesformen in den Blick antifeministischer AkteurInnen gerückt (Scheele 2016: 5ff.). Ideologisch werden beide Entwicklungen als gewaltsame Zerstörung vermeintlich natürlicher gesellschaftlicher Formen (bürgerliche Kernfamilie und binäre Geschlechterordnung) thematisiert. Liberale Geschlechterpolitiken und der Begriff Gender werden als Feindbilder gesetzt, die sowohl in bürgerlich-konservativen als auch in christlich-fundamentalistischen und extrem rechten Milieus geteilt werden (Lang/Peters 2018: 18).

Verschiedene Gruppen und Milieus werden weiterhin über die Kommunikation von Ressentiments zusammengebracht und -gehalten. Für eine Mobilisierung außerhalb der extremen Rechten kommt dabei Antifeminismus eine wichtige Rolle zu, da Antifeminismus kaum erkannt und benannt wird, während die Kultivierung und Nutzung von Antisemitismus nach Auschwitz zumindest fragwürdig erscheint. Auch in der Form der vermeintlich ‚bloßen Meinungsäußerung‘ sind sie kulturell codiert, d. h. sie transportieren als jeweils „vertrautes und handliches Symbol“ und „Bestandteil [der] Sprache“ bestimmte Gehalte und Bedeutungen (Volkov 2000: 23). Antisemitische wie antifeministische Praxis wird nicht nur durch andeutende Codes und signalisierende Schlagwörter geprägt, sondern über diese vermittelt (Fedders 2018). Ihre Bedeutung gewinnen sie durch das Verständnis des Publikums und durch wiederholte Kämpfe und Debatten um die (Erweiterung der) Grenzen des in der demokratischen Öffentlichkeit Sagbaren bzw. um Deutungshoheit über Begriffe.

Mobilisierung des Antifeminismus – ein Beispiel

Als Dokument eines Kampfs um Bedeutung kann ein beispielhaft ausgewählter, 2017 auf der Website The European erschienener Text („Das geheime Netzwerk von Soros“, Kuhla 2017) interpretiert werden.5 Bei der Auswahl stand im Mittelpunkt, dass Autor und Medium nicht explizit in der extremen Rechten zu verorten sind, sondern sich als „bürgerlich“ und „der Mitte“ zugehörig verstehen. The European. Das Debattenmagazin wurde 2009 vom ehemaligen Cicero-Redakteur Alexander Görlach als Online-Magazin mit Sitz in München gegründet (aktuell Weimer Media Group). Seit 2012 erscheint außerdem vierteljährlich eine Druckausgabe. Es inszeniert sich schon durch seinen Untertitel als ein Ort kontroverser Auseinandersetzung um als umstritten wahrgenommene Themen.6 Der Autor Eckhard Kuhla ist Mitbegründer und Vorsitzender von Agens e. V., der sich als unabhängige gesellschaftspolitische Arbeitsgemeinschaft versteht und zu den zentralen Akteuren des männerzentrierten antifeministischen Spektrums gehört (Claus 2014: 21f.).7 Thema des Textes sind die (weltweiten) Auseinandersetzungen um Frauen- und Minderheitenrechte – konkret Kämpfe um Gleichberechtigung und Anerkennung von Frauen, Homosexuellen und queeren Menschen. Der Autor befasst sich dabei mit der Rolle, die die Stiftungsgruppe Open Society Foundations bzw. deren Gründer, der US-amerikanische Investor und Philanthrop George Soros, bei der Unterstützung dieser Kämpfe spielen soll.8 In loser und assoziativer Form entwirft der Autor ein Bild von der Arbeit der Stiftungen: Die unterstützten, selektiv aufgezählten Projektpartner*innen sollen sich in der Darstellung zu einer abseits der öffentlichen Wahrnehmung hintergründig wirkenden Struktur zusammenfügen. Über Finanztransaktionen und behauptete persönliche oder organisatorische Verbindungen zusammengehalten, strebten George Soros und die benannten Organisationen bestimmte politische Ziele an. Die Ziele, die der Autor im Bereich von Frauenrechten, Rechten von (sexuellen) Minderheiten sowie allgemein der „Gender-Themen“ (Kuhla 2017) identifiziert, seien zwar in der Öffentlichkeit als solche benannt worden, ihnen komme allerdings eine andere Bedeutung zu, die unter Verwendung bestimmter Schlagwörter und Verben behauptet wird. Es ginge, so der Autor, „[l]etztendlich“ um „das Aufbrechen gesellschaftlicher Bindungen, wie z. B. der Familie und damit um die globale Umgestaltung der Gesellschaft“ (ebd.).

Der Text liefert mit dem ersten Absatz eine Kurzfassung der darauffolgenden ‚Argumentation‘ und ihrer Gehalte:

Weltweit vernetzte Finanzströme initiieren links-orientierte Protestbewegungen, mit dem erklärten Ziel, für die Rechte von Minderheiten zu kämpfen. Diese Finanzströme kontrollieren vorwiegend US-Milliardäre mit dem Label ‚Kampf für Menschenrechte‘, beispielsweise für Rechte von Frauen oder von Homosexuellen. Das Label ‚Philanthropie‘ schafft dazu noch zusätzliche Freunde. Einer der bekanntesten ‚Wohltäter‘ unter den Oligarchen: George Soros. (Ebd.)

Politischen Bewegungen und Initiativen wird hier abgesprochen, in erster Linie aus eigenen Beweggründen – etwa aufgrund gesellschaftlicher Missstände – zu handeln. Nicht die „links-orientierte[n] Protestbewegungen“ hätten ein eigenes und insofern legitimes Interesse daran, ihre Anliegen auf die Straße zu tragen oder anderweitig zur Geltung zu bringen, sondern etwas bzw. jemand anderes („weltweit vernetzte Finanzströme“ unter Kontrolle von „US-Millliardäre[n]“) stoße diese Kämpfe überhaupt erst an („initiieren“). Die Motivation wird jeweils relativierend hinterfragt – zum einen mit der Bezeichnung „Label“ (bei „Kampf für Menschenrechte“ und „Philanthropie“), zum anderen mit der Setzung von Anführungszeichen (bei „Wohltäter“). Als einen dieser „US-Milliardäre“ bzw. als „Oligarchen“ und „Wohltäter“ identifiziert der Autor George Soros. Im folgenden Absatz wird dieser, ausgestattet mit dem „intellektuelle[n] Rüstzeug“ des Liberalismus, vorgestellt als „Bilderberger“, „einer der führenden Vertreter der ‚Neuen Weltordnung‘“ (ebd.). Er sei „Börsenspekulant“ wie „Liebling aller Linken“ und werde von der bürgerlichen NZZ aufgrund seines Stiftungsengagements „auch als ‚Financier von Umstürzen‘“ bezeichnet (alles ebd.). Seine Sicht verdeutlichend schreibt der Autor:

Seltsam: Früher entstanden politische Bewegungen in einem mühsamen Prozess aus der Bürgergesellschaft heraus. Soros initiiert solche Bewegungen zeitnah: Exakt mit Beginn seiner Förderung fangen seine Gruppen an zu arbeiten. (Ebd.)

Ein „früher“ vermeintlich organisches Entstehen aus der „Bürgergesellschaft“, von innen heraus, wird einer künstlichen Erschaffung durch einen Akteur von außen gegenübergestellt. Entsprechend werden diese Gruppen oder Bewegungen nicht für sich und mit eigener Motivation ausgestattet betrachtet, sondern in erster Linie als Instrumente von Soros, als Mittel zu einem (absolut) anderen Zweck. Direkt an das zuvor Zitierte anschließend fährt der Autor fort: „Er [Soros] kann mit seinem direkten Kontakt zu den Gruppen gezielt ‚seine‘ NGOs einsetzen, kontrollieren und Einfluss auf ihm unliebsame Regierungen nehmen (z. B. in Ungarn).“ (Ebd.) Wie diese behauptete Einflussnahme auf Regierungen durch das im Außen, in George Soros, personifizierte Andere sich tatsächlich vollziehen soll, lässt der Autor weitgehend offen. Nur an einer Stelle wird darauf konkreter eingegangen, allerdings ohne Quellenbeleg: „Im Sinne dieser Theorie [der ‚Gendertheorie‘ Judith Butlers, d. A.] hat eine Soros-Gruppe 2010 die Standards für die Sexualerziehung in Europa definiert“ (ebd.). Daneben werden an verschiedenen Stellen des Textes Proteste und Demonstrationen – zentrale demokratische Grundrechte und Medien der Bürgerbeteiligung – als Mittel benannt.9
Die Charakterisierung der Gruppen selbst wie der von ihnen angestrebten Ziele als Instrumente trifft aus der Sicht des Autors auch auf das Bild von diesen Gruppen in der Öffentlichkeit zu: „Die Namen dieser NGOs verschleiern mit menschenrechtlichem bzw. philanthropischem Anstrich ihre wahren Aktionen“ (ebd.). Der Autor sieht hier Täuschung und Manipulation am Werk. So heißt es einige Absätze später:

Demgegenüber macht die Verwendung des Aushänge-schildes [sic!] ‚Philanthropie‘ für regierungskritische Projekte in der politischen Welt stutzig. Man vermutet Etiketten-Schwindel [sic!]. Die Menschenfreundlichkeit dieser Projekte erschließt sich zumindest nicht auf den ersten Blick: Das Netzwerk OSF fördert beispielsweise in Europa […] NGOs, die die Migration – vorbei an den Regierungen – und die Verbreitung des Genderismus unterstützen. (Ebd.)

Ähnliche Formulierungen finden sich an weiteren Stellen: So wird das Engagement für Frauenrechte zum Interesse einer Minderheit erklärt und die – völlig zu Recht – in Anspruch genommene Kategorie Menschenrechte zählt aus der Sicht des Autors zu den „Euphemismen einer höheren Wertekategorie zur Verdeckung eigentlicher Projektziele“ (ebd.). Das bereits im Titel des Textes behauptete „geheime Netzwerk“ stellt der Autor aus einer Auswahl von Stiftungen und Projekten zusammen, die entweder finanziell oder personell mit den Open Society Foundations verbunden sind oder sein sollen. Nicht an allen Stellen oder gleichrangig belegt, werden einige Zusammenhänge vor allem durch Nebeneinanderstellung innerhalb eines Satzes oder in aufeinanderfolgenden Sätzen hergestellt. „Viele Stiftungen der Oligarchen“, so heißt es an einer Stelle, „treten kaum an das Licht der Öffentlichkeit. Im Gegensatz zur Amadeu-Antonio-Stiftung; sie ist eng verbunden mit der Heinrich Böll Stiftung“ (ebd.).10 Die Verbindung und entsprechende Bedeutung für den Autor wird in diesem Fall wie in anderen durch scheinbar selbsterklärende Verweise auf das Eintreten für Frauenrechte und „Gender-Themen“ (ebd.) hergestellt. Durch seine Redetechnik zieht der Autor als Agitator das Publikum ins Vertrauen: Augenzwinkernd und umgangssprachlich kämpft er den Kampf für das Publikum als dessen Stellvertreter und rechnet mit dessen Affekten. „Seltsam“, ruft er aus, es mache „stutzig“ oder „[m]an vermutet“ (alles ebd.). Er fragt (indirekt) ‚früher hieß es noch‘ oder (direkt) „Was bleibt?“; er reiht aneinander und stellt mit Doppelpunkten vermeintlich Schein und Sein gegenüber (alles ebd.). In den sich scheinbar selbst erklärenden Schlagwörtern können die Leser*innen sich ebenso bestätigt fühlen wie selbst erkennen und wiedererkennen.

Als Schlagwörter verstehen wir Begriffe und Bezeichnungen, die (ideologische) Bedeutungen ohne weitere Erklärung signalisieren. In der Regel sind sie alltagskulturell und massenmedial etabliert und vertraut. „Genderismus“, „Genderisierung“ und „Frühsexualisierung“, „Frauenlobby“ und „Homolobby“ werden im Text in diesem Sinn verwendet. Beginnend mit einem Artikel des damaligen Leiters des Ressorts Politik der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, Volker Zastrow, in der FAZ („Gender Mainstreaming – Politische Geschlechtsumwandlung“, 2006) wurde ab Mitte der 2000er-Jahre im Kontext von medialen Debatten über gleichstellungspolitische Maßnahmen „[d]urch die Erfindung des Kampfbegriffs ‚Genderismus‘ […] der an sich nüchterne Terminus ‚Gender‘ zum Kernelement einer Ideologie erklärt,“ so die Politikwissenschaftlerin Juliane Lang (2017). „Genderisierung“ oder „Genderismus“ behauptet die Existenz einer Ideologie und eines gezielten Programms der Zerstörung der als natürlich aufgefassten binären Geschlechtereinteilung und der Geschlechterrollen, vor allem durch Bildungs- und Gleichstellungspolitik. In der Agitation gegen eine die Pluralität von Lebens- und Liebesformen anerkennende Pädagogik der Vielfalt wurde dies, z. B. durch die Initiative „Besorgte Eltern“, zur „Frühsexualisierung“ stilisiert, die vorgeblich Homo- und Transsexualität als Norm setze (Schmincke 2015: 99f.).11 Akteur*innen einer angeblich hintergründig mächtigen Interessenpolitik werden (von antifeministischen AkteurInnen) zum Beispiel als „Frauenlobby“ und „Homolobby“ bezeichnet (Diskursatlas Antifeminismus 2020). Als ideologisch aufgeladene Reaktionen auf Verunsicherungen in einer sich wandelnden Gesellschaft wirken die in öffentlichen Debatten verwendeten Schlagwörter breit in die Bevölkerung hinein, weit über die bewusst adressierten bzw. interessierten Milieus hinaus.

Schluss: Potenziale der Verschränkung heute

Potenziale der Verschränkung von Antifeminismus und Antisemitismus zeigen sich auch heute in antimodernen und antiliberalen Vorstellungen sowie in verschwörungsideologischen Denkmustern und in damit verbundenen andeutenden Codes und signalisierenden Schlagwörtern. Die widersprüchlichen gesellschaftlichen Verhältnisse der kapitalistischen Moderne, insbesondere die Veränderungen der vermeintlich natürlichen Geschlechterverhältnisse, werden als Verunsicherung erfahren. Vieldeutigkeit und Unsicherheit werden in einem als feministisch identifizierten Anderen und in dem als Feindbild verwendeten Schlagwort ‚Gender‘ vereindeutigt und abgewehrt. Die (andauernden) Kämpfe um Gleichberechtigung und Anerkennung von Frauen, Homosexuellen und queeren Menschen werden umgedeutet und antiliberalistisch delegitimiert: Dass partikulare Interessen gleichberechtigt zur Geltung kommen sollen, dafür wird Ursache und Verantwortung im Anderen, im Außen gesucht. Die Abwehr von komplexen, ambivalenten sozialen Verhältnissen mündet in der Suche nach Eindeutigkeit und personal Verantwortlichen, denen es „um das Aufbrechen gesellschaftlicher Bindungen, wie z. B. der Familie und damit um die globale Umgestaltung der Gesellschaft“ (Kuhla 2017) gehen würde.

Dem entspricht im Text die Thematisierung von George Soros, der hinter vielen Aktionen von „Frauenlobby“ oder „Homolobby“ behauptet wird („Soros initiiert“; ebd.). Die hier zum Ausdruck kommende projektive Personalisierung von unheimlicher Macht und hintergründiger Manipulation gehört zu den zentralen Momenten des Verschwörungsdenkens (Hessel 2020a: 20ff.). Die Bezeichnungen „Bilderberger“ und „Neue Weltordnung“ sind zudem als verschwörungsideologische Codes fest etabliert. Deren Kern bildet die Vorstellung, ‚globale liberale Eliten‘ würden demokratische Öffentlichkeit und Politik mit apokalyptisch imaginierten, oftmals in Verbindung mit Migration oder Bevölkerungspolitik gesetzten Zielen manipulieren (Fedders 2018; Hessel 2020b).
Der aus einer ungarisch-jüdischen Familie stammende George Soros dient eindeutig als antimoderne und antiliberale Chiffre, wo Veränderung und Uneindeutigkeit nur als Eingriff unheimlicher Macht von außen und verschwörerische Manipulation aus dem Hintergrund vorgestellt werden können. Ob diese Chiffre als antisemitischer Code gedeutet wird, entscheidet sich kaum durch den offensichtlichen Gehalt, wie der Sozialwissenschaftler András Kovács anhand sehr ähnlicher Kampagnen der extremen Rechten in Ungarn herausarbeiten konnte: Die Assoziation von Soros mit hintergründiger Manipulation, Geld, Macht, Modernität oder aktuell auch ‚Förderung der Migration‘ oder ‚Zerstörung der Familie‘ ist letztlich identisch. Es sei die „Oberflächenbotschaft der Kampagne“, so Kovács (2019: 303), eine angebliche Bedrohung oder ‚Zersetzung‘ von Kultur und Nation von außen, die breite gesellschaftliche Wirkung entfalte. Im „Debattenmagazin“ als ‚bloße Meinungsäußerung‘ unter anderen inszeniert, muss sich der Autor nicht entscheiden. Das Publikum erkennt die verwendeten Schemata von Massenkultur wie Agitation: das inhaltlich Vertraute, die Andeutung, das Ritual ihrer augenzwinkernden Verbreitung. Fragt man danach, was Unzufriedenheit und Unbehagen verursacht, die offensichtlich den Beschwerden zugrunde liegen müssten, erhält man immer die Antwort, als hätte man nach dem wer gefragt (Löwenthal/Guterman 1948: 421).

Personalisierende Verschwörungsvorstellungen, antiliberale und antimoderne Projektionen von angeblicher Manipulation und Übermacht sowie massenmedial und alltagskulturell vertraute Schlagwörter, die Fragmente von Bedeutung und Ideologie transportieren, ermöglichen die Verschränkung und gegenseitige Verstärkung von Antifeminismus und Antisemitismus heute. Entsprechende antifeministische Imaginationen (von „Genderisierung“, „Frauenlobby“ etc.) und die Denunziation von Genderkonzepten und Gleichstellungspolitiken stabilisieren antiemanzipatorische Allianzen von christlich-fundamentalistischen und extrem rechten Kreisen bis weit in bürgerliche und konservative Milieus hinein. Dies gilt nicht zuletzt, da Antifeminismus als solcher in der Öffentlichkeit kaum erkannt und noch seltener benannt wird. Die Potenziale der Radikalisierung von frauenfeindlicher und antisemitischer Gewalt, wie sie sich zum Beispiel 2019 im Anschlag von Halle deutlich gezeigt haben, beginnen in „der Mitte“ der Gesellschaft.

 

1 Die Autor*innen bedanken sich für wertvolle Hinweise bei Olaf Kistenmacher und den Gutachter*innen.

2 Wir verweisen für eine tiefer gehende Auseinandersetzung auf unser bei Marta Press (Hamburg) erscheinendes Buch Antifeminismus und Antisemitismus.

3 Abweichend wird in Bezug auf (antifeministische) AkteurInnen, die eine binäre Geschlechtereinteilung behaupten, eine Schreibweise mit Binnen-I verwendet.

4 Zur Bedeutung von Antifeminismus und Antisemitismus in rechtsterroristischen Radikalisierungsprozessen aktuell: Hermann 2020.

5 Die exemplarische Interpretation ist unsere eigene, als Wissenschaftler*innen und als Mitglieder dieser Gesellschaft. Die Intentionen des Autors und die Rezeption durch das Publikum bleiben unberührt; der Fokus liegt auf Wirkungspotenzialen und Wirkungsgrundlagen eines mit kultureller Bedeutung ausgestatteten Materials.

6

Siehe www.theeuropean.de/debattenkultur/ [25.09.2020].

7

Siehe agensev.de/wer-sind-wir/ und agensev.de/ueberagens/ sowie


www.genderkongress.org/verbände [20.07.2020].

8 Zu Soros und seiner Thematisierung durch rechte Kampagnen: Tamkin 2020.

9 Der Autor nennt neben den im Fortgang erwähnten NGOs nur eine einzige zeitgenössische Bewegung namentlich: den Women‘s March. Eine Unterstützung einer der zahlreichen Gruppierungen dieser Bewegung durch die Open Society Foundations wäre von deren Stiftungszweck zweifellos gedeckt und wird nicht belegt.

10 Zur Amadeu Antonio Stiftung als Objekt rechter Kampagnen: Salzborn 2016.

11 So schreibt der Autor in einem anderen Text: „Es geht bei der Frühsexualisierung nicht nur um die Förderung der Toleranz gegenüber Homosexuellen, für die ‚Vielfalt‘ als bagatellisierender Tarnbegriff dient. […] Sondern es geht darüber noch hinaus um die Durchsetzung der Homosexualität als neue Normalsexualität, die die ‚Zwangsheterosexualität‘ ersetzen soll.“ (Kuhla 2016).

 




Literatur

Blum, Rebekka (2019): Angst um die Vormachtstellung: Zum Begriff und zur Geschichte des deutschen Antifeminismus. Marta Press: Hamburg.
Claus, Robert (2014)

: Maskulismus: Antifeminismus zwischen vermeintlicher Salonfähigkeit und unverhohlenem Frauenhass. Online: library.fes.de/pdf-files/dialog/10861.pdf [25.09.2020].


Claussen, Detlev (2005). Die Wandlungen des „Ja, aber-Antisemitismus“: Vorbemerkung zur Neuausgabe. In: Claussen, Detlev: Grenzen der Aufklärung. Die gesellschaftliche Genese des modernen Antisemitismus (Erweiterte Neuausgabe). Fischer Taschenbuch Verlag: Frankfurt a. M., S. VII–XXVI.
Diskursatlas Antifeminismus (2020)

: Homolobby. Online: www.diskursatlas.de/index.php [20.07.2020].


Fedders, Jonas (2018): „Die Rockefellers und Rothschilds haben den Feminismus erfunden.“ Einige Anmerkungen zum Verhältnis von Antifeminismus und Antisemitismus. In: Lang, Juliane/Peters, Ulrich [Hrsg.]: Antifeminismus in Bewegung. Aktuelle Debatten um Geschlecht und sexuelle Vielfalt. Marta Press: Hamburg, S. 213–232.
Gehmacher, Johanna (1998): Die Eine und der Andere: Moderner Antisemitismus als Geschlechtergeschichte. In: Bereswill, Mechthild/Wagner, Leonie [Hrsg.]: Bürgerliche Frauenbewegung und Antisemitismus. Edition Diskord: Tübingen, S. 101–120.
Hermann, Melanie (2020): Antimoderner Abwehrkampf – zum Zusammenhang von Antifeminismus und Antisemitismus. In: Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft [Hrsg.]: Wissen schafft Demokratie. Schwerpunkt Kontinuitäten, Band 7. Jena, S. 26–35.
Hessel, Florian (2020a): Elemente des Verschwörungsdenkens. Ein Essay. In: Psychosozial, 43, Heft 1, S. 15–26.
Hessel, Florian (2020b): Kurze Geschichte des Denkens in „Verschwörungen“. In: Forum Wissenschaft, 37, Heft 4.
Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W. (1987 [1947]): Dialektik der Aufklärung: Philosophische Fragmente (Gesammelte Schriften 5). S. Fischer Verlag: Frankfurt a. M.
Kistenmacher, Olaf (2020)

: Konsequent latent: Latente Judenfeindschaft zeigt sich in verschiedenen Formen. Online: jungle.world/artikel/2020/34/konsequent-latent [25.09.2020].


Kovács, Andras (2019): Postkommunistischer Antisemitismus: alt und neu. Der Fall Ungarn. In: Heilbronn, Christian/Rabinovici, Doron/Sznaider, Natan [Hrsg.]: Neuer Antisemitismus? Fortsetzung einer globalen Debatte. Suhrkamp: Berlin, S. 276–309.
Lang, Juliane (2017)

: „Gender“ und „Genderwahn“ – neue Feindbilder der extremen Rechten. Online: www.bpb.de/politik/extremismus/rechtsextremismus/259953/gender-und-genderwahn [20.07.2020].


Lang, Juliane/Peters, Ulrich (2018): Antifeminismus in Deutschland: Einführung und Einordnung des Phänomens. In: Lang, Juliane/Peters, Ulrich [Hrsg.]: Antifeminismus in Bewegung. Aktuelle Debatten um Geschlecht und sexuelle Vielfalt. Marta Press: Hamburg, S. 13–35.
Löwenthal, Leo/Guterman, Norbert (1948): Portrait of the American Agitator. In: Public Opinion Quarterly, 12, Heft 3, S. 417–429.
Planert, Ute (1998): Antifeminismus im Kaiserreich: Diskurs, soziale Formation und politische Mentalität. Vandenhoeck & Ruprecht: Göttingen.
Salzborn, Samuel (2016)

: Als Meinungsfreiheit getarnter Hass: Die rechte Kampagne gegen die Amadeu Antonio Stiftung (Wissenschaftliches Gutachten). Online: www.amadeu-antonio-stiftung.de/w/files/pdfs/salzborn-gutachten-aas-als-meinungsfreiheit-getarnter-hass.pdf [20.07.2020].


Scheele, Sebastian (2016

): Von Antifeminismus zu ‚Anti-Genderismus‘? Eine diskursive Verschiebung und ihre Hintergründe. Online: www.gwi-boell.de/sites/default/files/uploads/2016/08/scheele_diskursive_verschiebung_antifeminismus.pdf [20.07.2020].


Schenk, Herrad (1980): Die feministische Herausforderung: 150 Jahre Frauenbewegung in Deutschland. C.H. Beck: München.
Schmincke, Imke (2015): Das Kind als Chiffre politischer Auseinandersetzung am Beispiel neuer konservativer Protestbewegungen in Frankreich und Deutschland. In: Hark, Sabine/Villa, Paula-Irene [Hrsg.]: Anti-Genderismus. Sexualität und Geschlecht als Schauplätze aktueller politischer Auseinandersetzungen. Transcript: Bielefeld, S. 93–108.
Schwarz-Friesel, Monika (2019): Judenhass im Internet: Antisemitismus als kulturelle Konstante und kollektives Gefühl. Hentrich & Hentrich: Leipzig/Berlin.
Tamkin, Emily (2020): The Influence of Soros: Politics, Power and the Struggle for an Open Society. Harper Collins: New York.
Volkov, Shulamit (2001): Antisemitismus und Antifeminismus. Soziale Norm oder kultureller Code. In: Volkov, Shulamit: Das jüdische Projekt der Moderne. Zehn Essays. C.H. Beck: München, S. 62–81.
Volkov, Shulamit (2000): Antisemitismus als kultureller Code. In: Volkov, Shulamit: Antisemitismus als kultureller Code. Zehn Essays (2. Auflage). C.H. Beck: München, S. 13–36.
Quellen:
Kuhla, Eckhard (2016)

: Sexualerziehung statt Prävention. Online: www.theeuropean.de/eckhard-kuhla/11450-sexualerziehung-statt-praevention [20.07.2020].


Kuhla, Eckhard (2017)

: Das geheime Netzwerk von Soros. Online: www.theeuropean.de/eckhard-kuhla/12543-das-geheime-netzwerk-von-soros [20.07.2020].


Zastrow, Volker (2006)

: Gender Mainstreaming: Politische Geschlechtsumwandlung. Online: www.faz.net/aktuell/politik/gender-mainstreaming-politische-geschlechtsumwandlung-1327841.html [25.09.2020].