Zivilgesellschaft als Schule der Demokratie
Zivilgesellschaft lässt sich als Arena kollektiven öffentlichen Handelns definieren (Strachwitz et al. 2020: 4), die analytisch von Staat und Markt abgrenzbar ist. Ihr gehören in Deutschland rund 800.000 organisierte Bewegungen, Organisationen und Institutionen an, die zwar im Hinblick auf Größe, Funktion und Ziele sehr unterschiedlich sind, die aber gemeinsame Merkmale aufweisen, welche sie von staatlichen und gewinnorientierten Organismen unterscheiden. So sind sie auf Selbstermächtigung und Selbstorganisation gegründet, nicht auf Gewinnerzielung ausgerichtet und nehmen keine staatlichen im Sinne von hoheitlichen Aufgaben wahr. Subjektiv verfolgen sie Ziele des Gemeinwohls.
Mit dem Konzept gehen in der öffentlichen Wahrnehmung normative Erwartungshaltungen einher: So wird häufig nicht nur die gemeinschaftsbildende Funktion der Zivilgesellschaft betont; sie wird auch als Voraussetzung für Demokratisierungsprozesse in Gesellschaften oder deren progressive Entwicklung zu einer gerechteren Welt gesehen. Dies hat ideengeschichtlich eine lange Tradition, die bis Aristoteles zurückreicht, für die Moderne aber insbesondere auf Alexis de Tocqueville (1956 [1835/1840]) und seine Beschreibung der Demokratie in den USA zurückgeht. Robert Putnam (1993) und andere führten diese Idee mit dem Begriff des Sozialkapitals erneut in die Diskussion ein (s. vergleichend Braun 2002). Anhand empirischer Untersuchungen stellte Putnam fest, dass sich im Assoziationswesen einer Gesellschaft Sozialkapital bildet, das aus Netzwerken, Vertrauen und Normenbildung besteht und Koordination und gemeinschaftliches Handeln ermöglicht. Im Verein, so Putnams These, lernen die Mitglieder Kooperation und gegenseitiges Vertrauen; er bildet die Schule der Demokratie. Je stärker eine Zivilgesellschaft, umso robuster ist demgemäß das demokratische System, indem die sozialen Normen und Fähigkeiten, die in der Zivilgesellschaft gefördert werden, ebenso prodemokratisches Verhalten hervorbringen. Folgerichtig sieht Putnam (1995, 2000) im Niedergang des Vereinswesens in den USA durch die zunehmende Individualisierung seit den 1960er-Jahren eine Gefährdung der dortigen Demokratie.
Ein zweiter Traditionsstrang der Verknüpfung von Demokratie und Zivilgesellschaft geht von Joseph M. Bessette (1994), Jürgen Habermas (1992a) und anderen aus. Habermas (1992b) formuliert die Verhandlung von pluralistischen Interessen in der Öffentlichkeit als demokratieförderlichen Aspekt von Zivilgesellschaft. Hier kommen unterschiedliche Meinungen zu Wort und können miteinander verhandelt werden. Zivilgesellschaft stellt damit Artikulationsventile für unterschiedliche Sozialgruppen bereit, die in der Summe alle Vorstellungen und Wertegemeinschaften einer Gesellschaft abbilden können. In dieser Arena können sie aggregiert und in den politisch-parlamentarischen Entscheidungsprozess eingebracht werden. Habermas sieht den Wert der zivilgesellschaftlichen Organisationen vor allem darin, soziale Probleme wahrzunehmen und diese öffentlich zu artikulieren. Dazu bedarf es hinreichender Verfahren der Meinungs- und Willensbildung; in der deliberativen Demokratie nach Habermas (Habermas 1992b: 368), in der alle relevanten Argumente ungehindert in öffentlichen Debatten vorgetragen werden sollen, können sich alle Mitglieder eines politischen Gemeinwesens daran beteiligen (Habermas 1992b: 443).
Direktere Formen der Demokratie und der Präferenzartikulation entsprechen als Alternative und Ergänzung zum Wahlgang dem heutigen Demokratieverständnis besser als die rein repräsentative Form, die einen drastischen Vertrauensschwund erlebt hat. Damit zeigen sich zwei Integrationsfunktionen der Zivilgesellschaft: die individuelle soziale Integration und die Integration und Artikulation von Gruppenpräferenzen. Jedoch haben beide Annahmen Kritik hervorgerufen. So wurde insbesondere an Putnam infrage gestellt, ob die Bildung von Vertrauen durch den Vereinsbesuch per se zur Erhöhung eines generalisierbaren sozialen Vertrauens führt (s. bspw. Westle/Gabriel 2008). Empirisch lässt sich der Zusammenhang zwischen Mikro- und Makroebene, die Übertragung von Vertrauen in einer kleinen Gruppe auf das Vertrauen in politische oder gesellschaftliche Institutionen, nicht ohne Einschränkungen bestätigten.
Zivilgesellschaft gegen Demokratie
Die Annahme einer unbedingten Bildung prodemokratischer Tugenden durch zivilgesellschaftliches Engagement wird beispielsweise mit Blick auf Pegida oder die Identitäre Bewegung bezweifelt. Offenkundig gibt es Vereinigungen, die sich explizit exkludierend verstehen und durch eine Wir-Die-Abgrenzung „unsoziales“ Kapital hervorbringen können (Roth 2004; Levi 2006), indem sie zwar für ihre Mitglieder Strukturen gegenseitigen Vertrauens, Unterstützung und Loyalität bilden und dadurch soziales Kapital schaffen, dabei aber demokratische Werte wie Respekt, Pluralität, Gleichheit oder Gewaltfreiheit ablehnen. Dadurch kann das so generierte Sozialkapital nicht für die Gesellschaft insgesamt Wirkung entfalten. Oft sind diese Organisationen überdies von einer starken Kultur der Hierarchisierung und Autorität geprägt, und die Ausgrenzung anderer bildet die Voraussetzung für die eigene Gruppenbildung. Rechtsradikale Bewegungen, ebenso islamistische Gruppierungen sind hierfür beispielhaft. Putnam, der sich mit der Kritik des unsozialen Kapitals auseinandergesetzt hat, unterscheidet deswegen exkludierende Formen von Netzwerken (bonding) von inkludierenden (bridging), ohne damit einzugestehen, dass das erstere in radikaler Form in der Zivilgesellschaft vorkommt. James Coleman (1991), der sich auf einen Rational-Choice-Ansatz im Sozialkapital stützt, betont die sogenannten strong ties in Vereinigungen, die für den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalt potenziell gefährdend sein können. Strong ties können zu einem fehlenden Interesse an der umgebenden Gesellschaft oder noch extremerer Abschottung führen, da sie auf blindem Vertrauen oder der Erwartung eines direkten Nutzens der Gruppenmitglieder untereinander aufbauen. Weak ties hingegen, also losere Vertrauensverhältnisse, fördern eher die konstruktive Auseinandersetzung und bergen damit jenes kritische Potenzial, auf das demokratische Verfahren angewiesen sind.
Auch in der Habermas'schen Lesart der Zivilgesellschaft ergeben sich Probleme, wenn Ungleichgewichte und Verzerrungen von Meinungen stattfinden. SoziologInnen diagnostizieren im postindustriellen Zeitalter neue Konfliktlinien – sogenannte cleavages – zwischen einer neuen kosmopolitischen Mittelschicht und einer alten konservativ-kommunitaristischen Mittelschicht sowie zwischen einem neuen Prekariat und einer immer exklusiveren und reicher werdenden Oberschicht (Reckwitz 2019). Im Diskurs, sei es über Migration oder die Klimakatastrophe, scheinen sich diese Gesellschaftsgruppen immer unversöhnlicher gegenüberzustehen. Die Medien gewähren extremen Positionen im öffentlichen Diskurs überproportional Gehör, sodass schrille Stimmen die Debattenkultur beschädigen. In einer Krise von der Größenordnung der Covid-19-Pandemie schaffen diese Effekte Trennlinien und Gräben zu aktuell zu diskutierenden Themen und verschärfen jene sozialen Ungleichheiten, die bereits vorher spaltend wirkten.
Zivilgesellschaft in der Pandemie
Nicht zuletzt angesichts eklatanter Erscheinungsformen in autokratischen Gesellschaften wird schon seit einigen Jahren gefragt, ob und inwieweit auch in demokratischen Gesellschaften das politische System versucht, die Zivilgesellschaft zu bedrängen und den Raum bürgerschaftlichen Handelns einzuschränken (Alscher et al. 2017; Ayvazyan 2019; Wachsmann/Bouchet 2019; Hummel 2020). In der Pandemie, in der die Zivilgesellschaft vor ebenso große Herausforderungen gestellt ist wie alle anderen gesellschaftlichen Akteure, bedrohen staatliche Vorgaben, fehlende Planungssicherheit und eine unklare Einnahmenentwicklung auch ihre Handlungsfähigkeit oder sogar ihre Existenz (Schrader 2021). Der Zugang zu staatlichen Hilfsangeboten ist dabei durch spezifische Voraussetzungen im Vergleich zu anderen wesentlich erschwert (Schrader et al. 2020).
Darüber hinaus haben die staatlichen Eingriffe und Verordnungen zivilgesellschaftlichem Handeln im Laufe der Covid-19-Pandemie in mehreren Bereichen besondere Herausforderungen beschert. Beispielsweise wurden das Versammlungs- und Demonstrationsrecht eingeschränkt (Kube/Weller 2020). Politisch agierende Organisationen und Bewegungen konnten nur unter regulierenden Auflagen in der Öffentlichkeit für ihre Themen Aufmerksamkeit und Zustimmung generieren, für diese demonstrieren oder Protestaktionen durchführen. Protestbewegungen wie Black Live Matter hielten sich meist strikt und solidarisch an Hygienevorgaben und begrenzte Teilnehmerzahlen, was ihre öffentliche Reichweite stark einschränkte. Fridays for Future konnte zum Beispiel mit Online-Kampagnen nicht annähernd so viel Momentum generieren wie mit den Großdemonstrationen. Zudem wurden sie von Anti-Corona-Großveranstaltungen aus der medialen Wahrnehmung verdrängt (Schrader et al. 2020: 46).
Neue Technologien beinhalteten zusätzliche Risiken, da diese eine bessere Überwachung ermöglichen und die Gefahr des Datenmissbrauchs erhöhen. So wurden in der Türkei und in Hongkong nachweislich Corona-Tracing-Apps missbräuchlich gegen oppositionelle Gruppen eingesetzt (Civicus 2020). Aus Deutschland sind hierfür bisher keine Fälle bekannt. Dennoch löste die Entwicklung einer App zur Verfolgung von Covid-19-Infektionsketten eine breite Debatte aus und war höchst umstritten. Nach heftigem Protest von Organisationen der Zivilgesellschaft, beispielsweise dem Chaos Computer Club, wurden Verbesserungen bei den Rückverfolgungsmethoden und der Datenspeicherung programmiert und der Quellcode öffentlich gemacht. Eine weitere problematische Einschränkung zivilgesellschaftlichen Handelns ergibt sich aus den teils sehr beschleunigten Gesetzgebungsverfahren und der Politikgestaltung mittels Verordnungen, die die Klage- und Kontrollmöglichkeiten sowie die politischen Beratungsmöglichkeiten vonseiten der Zivilgesellschaft erheblich eingeschränkt hat. Des ungeachtet versuchen die zivilgesellschaftlichen Organisationen die Folgen der Pandemie zu mildern (Brase/Klein 2020: 15). Sie entwickelten, wie beispielsweise das Deutsche Rote Kreuz in Tübingen, alternative Handlungsmodelle, boten sie zur Skalierung an und fühlten sich aufgerufen, trotz social distancing ein Gemeinschaftsgefühl aufrechtzuerhalten (Schrader 2021). Gleichzeitig begleiteten zivilgesellschaftliche Akteure kritisch staatliche Maßnahmen und überprüften die Verhältnismäßigkeit der Einschränkungen (Strachwitz 2020: 1).
Durch die Pandemie ist die Zivilgesellschaft insgesamt in ein multiples Dilemma geraten. Musste und wollte sie einerseits ihre Gemeinwohlorientierung durch strikte Beachtung gesetzlicher Auflagen unter Beweis stellen, musste sie andererseits ihre Wächteraufgabe ernst nehmen und darauf achten, dass staatliche Beschränkungen weder das notwendige Maß überschritten, noch dauerhaft etabliert werden. Sie musste also einerseits ihre Themenanwaltsfunktion wahrnehmen und für Bürger- und Menschenrechte eintreten, zugleich aber deutlich machen, dass sie mit verschwörungsideologischen Narrativen und Versuchen, die Krise zur Bekämpfung oder gar Beseitigung des demokratischen und pluralistischen Systems zu nutzen, nichts gemein haben wollte. „Mit Pandemien entstehen Unsicherheitsräume, die gefüllt werden wollen. Dies kann durch wissenschaftlich gestützte Aufklärung, aber auch durch Leugnung oder regressive Ideenwelten und Verschwörungsfantasien gepaart mit Aggressionen gegen vermeintliche Verursacher geschehen.“ (Roth 2020: 6) So auch in der Corona-Pandemie: Seit dem Frühjahr 2020 kam es insbesondere in Berlin, Leipzig und Stuttgart zu Protestbewegungen, die die Freiheitsbeschränkungen in Zweifel zogen, grundsätzlich die Existenz des Virus bestritten oder verharmlosten oder einen geheimen Komplott hinter der Pandemie vermuteten (Amadeu Antonio Stiftung 2020: 10ff.; vgl. den Beitrag von Richter & Salheiser in diesem Band). Vielen DemonstrantInnen erkannten der parlamentarischen Demokratie und den etablierten Parteien die Legitimation ab, ebenso den Medien und der Wissenschaft. Dabei wurde der eigene Widerstand gegen etablierte Autoritäten und Diskurse als ehrenvoller Akt der Selbstaufopferung, aber auch als ostentative Distinktion inszeniert; etablierte Autoritäten wurden durch alternative Autoritäten ersetzt. So entstand eine Dichotomisierung zwischen innen und außen, die für die Gemeinschaftsbildung innerhalb der Proteste charakteristisch ist (Nachtwey et al. 2020: 56ff.). Protestbewegungen wie die Stuttgarter Initiative Querdenken 711 versuchten, durch Verschwörungsnarrative in der Öffentlichkeit die Deutungshoheit zu gewinnen, PolitikerInnen und WissenschaftlerInnen zu denunzieren und mit ihrem Gegendiskurs Zweifel an den Pandemie-Maßnahmen in der Bevölkerung zu streuen. Anfällig für diese Narrative waren insbesondere Menschen, denen eine generelle Verschwörungsmentalität eigen ist, die dem Konventionalismus zuneigen, dem politischen System keine Legitimation zusprechen, eine autoritäre Persönlichkeit aufweisen oder abergläubisch sind (Schließer et al. 2020: 303). Insbesondere Menschen, die sich selbst als „rechts“ oder „rechts außen“ einschätzen, AfD-WählerInnen und Nichtwählende zeigten diesbezüglich hohe Zustimmungswerte (ebd.: 289).
Beteiligte verorteten sich innerhalb dieser Fragmentierung naturgemäß selbst auf der Seite der „Guten“ und wandten stark vereinfachte, in der Regel sehr einseitige, emotionale und nicht differenzierende Richtig-Falsch-Schemata an, um die komplexen und womöglich widersprüchlichen Phänomene der Pandemie zu erklären und das eigene Handeln zu legitimieren (Amadeu Antonio Stiftung 2020: 24ff.). Die pandemiebedingten Unsicherheiten wurden in neu geschaffenen Gemeinschaften aufgelöst, indem eine Trennungslinie zu den Unwissenden („Schlafschafe“) und der feindlich verstandenen Gesellschaft gezogen wurde (Nachtwey et al. 2020: 57) und man sich dieser unversöhnlich entgegenstellte. „Die offene Form der Mobilisierung, die ein virulentes und verunsicherndes Thema aufgreift [...] politisiert Gruppen, die vorher nicht aktiv waren; ein manichäisches Deutungsangebot öffnet zugleich den Raum für antisemitische und rechtsextreme Sinnstiftungen.“ (Teune 2021: 117) So stellen die Demonstrationen gegen die Covid-19-Verordnungen ein eindrucksvolles Beispiel der Kaperung dar, bei der eine zunehmende Besetzung der Bewegung durch rechtsradikale Mobilisierung zu beobachten ist. Inzwischen geht auch das Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz von einer Radikalisierung großer Teile der Bewegung aus (Deutschlandfunk Kultur 2020). Durch die geteilte Mentalität ist die Bewegung miteinander verbunden, sodass mehrere, häufig disparate Sozialgruppen (FriedensaktivistInnen, EsoterikerInnen, fundamentalistische ChristInnen, ReichsbürgerInnen, Neonazis und ImpfkritikerInnen) zusammen agieren. Es gibt Hinweise darauf, dass die GegnerInnen der Corona-Politik, insbesondere rund um die Stuttgarter Initiative Querdenken 711, ein breites heterogenes Milieu abbilden, welches allerdings eher aus einem „linken“ Spektrum kommt und zunehmend nach rechts rückt. Eine Mehrheit hält die AfD für eine normale Partei; rund 27 % wollen bei der nächsten Bundestagswahl ihre Stimme der AFD geben. Auch halten Mitglieder die Aufregung über Reichskriegsflaggen auf Demonstrationen für übertrieben. Anders als populistische Initiativen wie Pegida ist die Bewegung dabei tendenziell nicht ausgesprochen fremden- oder islamfeindlich; sie erscheint eher anti-autoritär und neigt der Anthroposophie zu (Nachtwey et al. 2020: 51ff.).
Es kann keinen Zweifel geben: Dies alles ist Zivilgesellschaft (Strachwitz et al. 2020: 314ff.). Zu versuchen, diese ebenso wie ältere autoritäre Bewegungen und Organisationen definitorisch aus der Zivilgesellschaft auszusondern, führt zu unüberwindbaren methodologischen und analytischen Dilemmata. Zwei seien genannt: Zum einen macht eine Einengung des Begriffs auf politisch zuträgliche Kriterien diesen fast unbegrenzt politisch manipulierbar. Die Tatsache, dass größere politische Parteien Akteure der Zivilgesellschaft, die ihnen politisch nicht passen, als Empörungs- oder Mitleidsindustrie diffamieren oder ihnen die Teilnahme an politischer Mitgestaltung verweigern, sollte ein warnendes Beispiel sein. Zum anderen lassen sich keineswegs alle Kriterien einer mehrheitlich als „gut“ zu bezeichnenden Zivilgesellschaft an alle Akteure vollständig anlegen. Wo wäre die Grenze des Akzeptablen zu ziehen?
Was tun, Zivilgesellschaft?
Die Feststellung, dass Zivilgesellschaft nicht immer „gut“ ist – will heißen, nicht jederzeit in jeder Ausdrucksform und Konkretisierung jedem passt – ist keine Kapitulation vor denen, die tatsächlich ihren Handlungsraum beschneiden oder andererseits trotz fundamentaler Gegensätze als zivilgesellschaftliche Akteure akzeptiert werden wollen. Eine breite Koalition von Gleichgesinnten vermag sehr wohl zu beschreiben, was eine gute Zivilgesellschaft ausmacht, um in und mit dieser Koalition die Arena der Zivilgesellschaft im Wettstreit mit den Arenen des Staates und des Marktes zu dominieren. Respekt vor jedem Menschen in seiner unverwechselbaren Würde, ein Bekenntnis zur Herrschaft des Rechts, zu den Menschen- und Bürgerrechten, insbesondere zur Demokratie und zu einer pluralistischen, kosmopolitischen Gesellschaft sind zentrale Kriterien dieser Beschreibung.
Die Pandemie hat durch die notwendigerweise auferlegten Beschränkungen, aber auch durch den zum Nachdenken zwingenden Lockdown Gelegenheit gegeben, diese Zivilgesellschaft schärfer als bisher normativ in den Blick zu nehmen. Sie hat als gesellschaftsgestaltende Kraft in den letzten Jahrzehnten eine starke Aufwertung erfahren; ihre demokratiefördernde Wirkung wurde stark rezipiert. Die Corona-Pandemie stellt sie vor große Herausforderungen. Nicht zuletzt die auftretenden Phänomene einer unzivilen Seite von Zivilgesellschaft zwingen ihre Akteure, den positiven Zusammenhang von Zivilgesellschaft und Demokratie zu überprüfen.
Durch die individuelle soziale Integration in inkludierende Vereinigungen abseits der Corona-Thematik können, so hat sich wieder gezeigt, Menschen Dichotomien durchbrechen, pluralistische Abbildungen diverser Lebensstile in der Gesellschaft erfahren und soziale Bindungen adressieren. Der gesellschaftliche Zusammenhalt in einer Gesellschaft wird wesentlich durch die Qualität dieser Bindungen, den Grad der Verbundenheit und der Orientierung am Allgemeinwohl definiert. Er stellt zugleich einen politisch-sozialen Prozess dar, der von sozialen, prinzipiellen, weltanschaulichen und lebensweltlichen Einstellungen und Verhaltensweisen getragen wird (Brand et al. 2020: 16). Dieser Prozess ist zwar beeinflussbar, aber prinzipiell nicht steuerbar und konfliktbeladen. Akteure der Zivilgesellschaft können es sich zur Aufgabe machen, diese Konflikte respektvoll auszutragen und gerade dadurch der Fragmentierung entgegenarbeiten.
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