Matthias Quent:
Wie sind Sie dazu gekommen, sich in Gremien für Demokratie bzw. gegen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit zu engagieren?
Sebastian Krieg:
Das ist eine Kombination aus innerer Bewegung und Zufall. Innere Bewegung, weil ich zum einen schon seit Studienzeiten aktiv bin: Ich habe in Brandenburg studiert, damals waren DVU und DIE REPUBLIKANER ein großes Thema. Zum anderen gibt es auch einen familiären Hintergrund: Die Mutter meines Vaters war im KZ Buchenwald und der Vater meiner Mutter war NSDAP-Mitglied und da merkte man auch in der Familie eine gewisse Zerrissenheit. Mich hat das Schicksal meiner Großmutter sehr geprägt, die nach dem Krieg wieder in ihren Heimartort zurück ist und als Lehrerin ihren Schülern gegenüber immer dafür eingetreten ist, dass Deutschland mehr ist als das Dritte Reich. Der Zufall, konkret die Arbeit, hat mich 2001 nach Erfurt gebracht, und damit in die Landeshauptstadt mit der Thüringenvernetzung usw., da war ich schnell drin in dem ganzen Thema.
Matthias Quent:
Wie wurde in Ihrer Familie über Ihre Großeltern gesprochen, soweit Sie sich erinnern können?
Sebastian Krieg:
Mein Großvater war nie wirklich Thema, er starb im Januar 1946 und ist damit sehr schnell aus der Familie verschwunden. Das einzige, woran ich mich zu DDR-Zeiten erinnere, war das Schicksal meines ältesten Onkels: Er war in einem Strafbatallion, weil er versucht hat, von der Front zu desertieren. In der Familienlegende hat er nach Kriegsende gesagt, er will damit nichts mehr zu tun haben und ist nach Australien verschwunden. Meine Großmutter habe ich erst 1982 kennengelernt: Da nahm sie an einem Treffen von ehemaligen ausländischen Häftlingen des KZ Buchenwalds teil und wünschte sich, mich in Weimar zu treffen. Ich habe dann die alten Herrschaften aus Osteuropa, aus Italien usw. kennengelernt. Das war für mich der erste bewusste Kontakt mit Menschen, die im KZ waren – und meine Großmutter war eine von ihnen. Vorher war das nicht fassbar für mich. Entscheidend war die Begegnung mit diesen Menschen, da war ich etwa 11 Jahre alt.
Matthias Quent:
Was bringt Sie dazu, sich auch weiterhin zu engagieren?
Sebastian Krieg:
Ich merke, dass ich mit meiner Einstellung, meiner Weltsicht nicht allein bin. Ich habe Menschen kennengelernt, die zwar etwas anderes erlebt haben, aber mit ihrer Erfahrung zu einer ähnlichen Weltsicht gekommen sind wie ich. Das ist ein unglaublich verbindender Aspekt. Und dann merkt man, man kann doch etwas bewegen – wenn ich zum Beispiel an die ersten Diskussionen im Landesprogramm denke, in die wir uns, wenn auch damals erst einmal erfolglos, einbringen konnten. Und was haben wir heute gemeinsam mit anderen erreicht!
Matthias Quent:
Was für ein Verständnis von Demokratie steht dahinter?
Sebastian Krieg:
Demokratie heißt für mich: Die Theorie der Gleichheit des Menschen ist keine Theorie, sondern eine gelebte Praxis. Für mich ist Demokratie etwas, das auf der Straße geschieht, im näheren Umfeld, es fängt an in meiner nächsten Umgebung und hört dort aber nicht auf. Und ein zweiter wichtiger Punkt: Demokratie und Solidarität hängen eng zusammen, denn Demokratie in einer Gesellschaft funktioniert nur, wenn sich das Staatsvolk untereinander solidarisch verhält. Wenn man sich die Mühe machen würde, jeden mal zu fragen, was seine Probleme sind, wo der Einzelne sich missverstanden fühlt, was seine Kritik ist – dann würde man wahrscheinlich ziemlich schnell bei der Verteilungsfrage landen, also letztendlich bei den Grundwurzeln unseres Wirtschaftssystems. Ich kann mir vorstellen, dass eine Politik sich diese Fragen gar nicht stellen kann, denn sie rüttelt nicht am Wirtschaftssystem. Das Wirtschaftssystem wird schließlich gleichgesetzt mit dem politischen System und das ist schließlich das ‚Bestmögliche, welches wir haben‘. Früher war es so: Den Leuten wurde gesagt: ‚Ihr seid alle gleich, nur wenige sind gleicher‘, das war wenigstens irgendwo noch ehrlich. Heute ist die Realität: ‚Ihr seid alle gleich, wenn Ihr Euch die Gleichheit leisten könnt‘. Und das nehmen die Menschen auch so wahr.
Matthias Quent:
Zu welchen Schlussfolgerungen kann diese kognitive Spaltung, diese Dissonanz, die die Menschen erleben, führen?
Sebastian Krieg:
Zu Unverständnis, zu Angst, zum Protest mit den zugelassenen Mitteln der Demokratie, zum Rechtspopulismus. Die Menschen haben eine diffuse Angst, sie nehmen eine diffuse Angst wahr und sie glauben, sie sind in dieser Gesellschaft gleichwertig, weil es ja Staatsdoktrin in der Demokratie ist. Und dann erleben sie das Gegenteil: dass sich, nur als ein Beispiel, der Staat nicht um eine menschenwürdige Rente kümmert und dass sie noch privat etwas für die Rente dazulegen müssen. Sie fühlen sich sozial nicht mehr sicher in der Gesellschaft, sondern nur noch gegen Geld. Ich kann mir vorstellen, dass es Menschen gibt, die das, was sie nicht kennen oder wovor sie Angst haben, als Antrieb nehmen, zu fordern, irgendeiner müsse ihnen helfen – und dass ihnen letztlich egal ist, wer hilft. Und für eine Politik ist es natürlich auch einfacher, sich zum Beispiel gegen Menschen zu wenden, die zu uns dazukommen und fürs erste hier nicht verwurzelt erscheinen in dieser Gesellschaft, als sich mit jemanden zu beschäftigen, der sich bisher in dieser Gesellschaft verwurzelt fühlt.
Matthias Quent:
Was müsste Politik also aus Ihrer Sicht machen?
Sebastian Krieg:
Ich verwende den Begriff ‚die Politik‘ als Synonym für die Politiker_innen aller Parteien – sie muss die Meinung und die Ängste der Menschen wahrnehmen. Und das ist schwierig, weil die Politik aus meiner Sicht ihren gesellschaftspolitischen Horizont verlassen müsste. Letztendlich würde sie konsequenterweise, wie vorhin bereits angedeutet, bei der Verteilungsfrage landen. Das Problem gesellschaftlicher Unzufriedenheit kann man nicht an den Symptomen lösen, sondern man muss zu den Ursachen kommen – und die liegen aus meiner Sicht bei der Verteilungsfrage und damit bei einer Infragestellung der derzeitigen Form unseres Wirtschaftssystems.
Matthias Quent:
Wenn die Verteilungsfrage ein Grund für die Unzufriedenheit ist: Warum wird aus Ihrer Sicht eine AfD gerade auch von wirtschaftlich Gesicherten gewählt, wie verschiedene Untersuchungen gezeigt haben?
Sebastian Krieg:
Es scheint einfach: Je mehr Du hast, umso mehr kannst Du verlieren – also die Angst um den Bedeutungsverlust und möglicherweise auch, dass man sich vielleicht nicht über das definiert, was man ist, sondern über das, was man hat?
Matthias Quent:
Warum setzen Sie sich als ostdeutscher, heterosexueller Mann für die Rechte von Minderheiten ein?
Sebastian Krieg:
Für mich gibt es keine Minderheiten. Es klingt banal: Mir ist egal, welchen Glaubens, welcher sexuellen Orientierung oder Herkunft jemand ist, das ist für mich kein Thema. Deshalb möchte ich stattdessen eher sagen: Ich nehme anderen das Unrecht, das ihnen geschieht, nur weil eine gefühlte Mehrheit der Gesellschaft sie ausgrenzt.
Matthias Quent:
Woraus schöpfen Sie Kraft für das Engagement in diesen sehr stürmischen Zeiten?
Sebastian Krieg:
Es gibt immer wieder Hoffnungsschimmer – wenn ich zum Beispiel an eine Gegendemonstration zu einer Anti-Moschee-Demonstration in Eisenach denke. Ich hatte mit den üblichen Verdächtigen gerechnet und dann kamen auch viele Eisenacher Bürgerinnen und Bürger und beim zweiten Mal wurde es zu einem Tanzfest der Geflüchteten. Da habe ich gemerkt: Wenn man ein Angebot zivilgesellschaftlichen Engagements bereitstellt, entscheiden sich offenbar doch auch viele Menschen, ihre Meinung für etwas zu äußern. Da ist wirklich ein Hoffnungsschimmer. Ich glaube, es gibt eher die schweigende Mehrheit im progressiv-demokratischen Sinne, als sie im antidemokratischen Spektrum herbeigesehnt wird.
Matthias Quent:
Welche Reaktionen erhalten Sie auf Ihr Engagement?
Sebastian Krieg:
Im Arbeitsumfeld habe ich ein flexibles Arbeitszeitmodell – das hilft mir dabei, meine ehrenamtlichen Termine wahrnehmen zu können. Und meine ehrenamtliche Arbeit trifft dort auch auf Interesse, ebenso im sozialen Umfeld. Da bin ich bisher noch nicht auf negative oder deprimierende Reaktionen gestoßen. Zum Glück habe ich ein soziales Umfeld, das mich nicht demotiviert. Manchmal ist es schwierig, meine konkrete Arbeit im Programmbeirat nachvollziehbar zu erklären, weil diese eher auf einer politischen Ebene stattfindet und weniger aktionistisch ist.
Matthias Quent:
Welche Unterstützung wünschen Sie sich aus den Strukturprojekten, aber auch aus dem Landesprogramm in den kommenden Jahren noch mehr?
Sebastian Krieg:
Vielleicht würde es helfen, wenn wir wieder darüber diskutieren, was Demokratie für den Einzelnen bedeutet – in einem Mehrklang Demokratie, Menschenrechte und persönliche Wahrnehmung der Umwelt. Und der administrative Teil, die repräsentative Politik, müsste wieder ein Stück mehr die gesellschaftlichen Realitäten akzeptieren und realisieren, dass Rechts-Links nichts anderes ist als das Sitzschema im ersten Deutschen Reichstag.
Matthias Quent:
Was heißt das denn für das Landesprogramm?
Sebastian Krieg:
Eine Vision: Man müsste versuchen, das Landesprogramm aus seiner Regierungsabhängigkeit weiter zu befreien. Es sollte nichts damit zu tun haben, ob das von Frau Lieberknecht getragen wird oder von Herrn Ramelow – Demokratie muss verstanden werden als Wahrung des gesellschaftlichen Zusammenhalts auf einer humanistischen und menschenrechtlichen Basis. Wenn man in der Lage wäre, das Landesprogramm aus dem politischen Kontext zu lösen, könnte ich mir vorstellen, dass es irgendwann neben einer Thüringer Landesregierung existiert und vielleicht sogar eine Art Ergänzung dazu darstellt – also ein zivilgesellschaftlicher Akteur, der getragen wird von Menschen vor Ort, die mit einem demokratischen und menschenrechtsbasierten Wertekonsens agieren und die in ihren politisch wahrgenommenen Einstellungen breiter aufgestellt sind als die Landesregierung. Das hätte dann so einen Graswurzeleffekt – aber das ist, wie anfangs gesagt, eine Vision.
Matthias Quent:
Was erwarten Sie konkret von den Projekten, die für die Stärkung der Demokratie und Zivilgesellschaft finanziert werden – angesichts der aktuellen gesellschaftlichen Situation?
Sebastian Krieg:
Ich kann das gar nicht trennen – also die Strukturprojekte, die lokalen und thüringenweiten Projekte. Sie sind eine Einheit. Ich denke, die Informationen und das Vertrauen der einzelnen Organisationen müssen sich noch mehr verfestigen. Aus meiner Sicht gibt es jedenfalls eine sehr gute Spezialisierung in Thüringen: KomRex und IDZ – die wissenschaftliche Kompetenz, dann die beratende Kompetenz von ezra, Mobit, der Ausstiegsberatung und es gibt eben die Gruppen vor Ort, die letztlich auf der Straße stehen als Zivilgesellschaft. Was ich mir wünschen würde: einen gut funktionierenden Wissenstransfer in Richtung Zivilgesellschaft und einen gleichartigen Erfahrungstransfer in Richtung wissenschaftliche Kompetenz. Das wäre ein funktionierender Dreiklang aus Wissenschaft, Beratung und Gesellschaft.
Wichtig ist natürlich auch ein Landesprogramm mit dem entsprechenden finanziellen Background. Letztlich muss es das Ziel sein, dass vor Ort, mit den Ratschlägen von Mobit, mit den Expertisen aus Jena, mehr Menschen einen Grund finden bzw. einen Sinn sehen, aus der eigenen kleinen Blase herauszukommen, mit anderen zusammenkommen und sich zu engagieren.
Matthias Quent:
Welche Fragen, die mit wissenschaftlichen Methoden bearbeitet werden können, beschäftigen Sie?
Sebastian Krieg:
Eine seit der Bundestagswahl immer wieder durch die Medien gewalzte Frage ist ja: Inwieweit kann das Wahlverhalten gerade bei Parteien mit einem antidemokratischen Programm einem korrespondierenden Einstellungsspektrum oder einer als Protest wahrgenommenen Einstellung zugeordnet werden? Hier erscheint mir die Vielzahl der Beiträge in Print und Web seit dem 24. September vielmals zu oberflächlich.
Ich denke schon, dass die AfD-Wähler wissen, was sie wählen. Aber ich denke auch, es ist ihnen egal. Und das ist die Gefahr für die Demokratie. Und wenn es letztendlich auf die Verteilungsfrage zurückzuführen ist, wie lässt sich wissenschaftlich genauer prüfen und beschreiben: Lassen sich Menschen politisch abholen, wenn man bis zum Thema Verteilungsfragen gehen würde?
Matthias Quent:
Was möchten Sie den Wissenschaftler_innen sagen, die diesen Beitrag lesen?
Sebastian Krieg:
Der Elfenbeinturm hat auch einen Notausgang. Das bedeutet für mich: Ich kann mir vorstellen, dass es im Wissenschaftsbetrieb bestimmte Kommunikationswege gibt, die traditionell gepflegt werden, doch mein Plädoyer wäre: Es ist wichtig, dass das, was die Wissenschaftler_innen leisten, auch bekannt wird. Wenn es über den Haupteingang nicht geht, sucht Euch einen Notausgang! Das beste Wissen nützt nichts, wenn man es nicht unter die Leute bringen kann.
Matthias Quent:
Was möchten Sie den Politiker_innen sagen, die diesen Beitrag lesen?
Sebastian Krieg:
Ich habe manchmal das Gefühl, dass Politiker_innen zunehmend verlernen, die Ebene des täglichen Lebens zu verstehen. Sie bewegen sich auf einer gesellschaftlich nivellierten Ebene, die die Bedürfnisse Einzelner nicht mehr erfassen kann. Mehr Nähe ist das üblicherweise verwendete Schlagwort. Es verlangt aber gerade die Bereitschaft der Politiker_innen, sich dieser Aufgabe zu stellen – und das gerade zwischen den Wahlterminen.
Matthias Quent:
Was möchten Sie den Bürger_innen der Zivilgesellschaft sagen, die diesen Beitrag lesen?
Sebastian Krieg:
Egal, wie allein Ihr Euch fühlt: Ihr seid nicht allein. Habt Mut, es gibt mehr Menschen, die denken wie Ihr, es gibt mehr Menschen, die fühlen wie Ihr. Es gibt aber mindestens genauso viele Menschen, die glauben, es hilft nichts und es hat keinen Sinn. Aber nein: Es hat doch Sinn, die Schwelle zum Engagement zu überwinden und sich für etwas zu engagieren.