Einleitung
Im Oktober 1955 zog der österreichisch-jüdische Autor und Shoahüberlebende Fred Wander von Wien nach Leipzig, in die Deutsche Demokratische Republik. Als Mitglied der Kommunistischen Partei Österreichs war er eingeladen worden, am ersten Studienjahrgang des neu gegründeten DDR-Literaturinstituts „Johannes R. Becher“ teilzunehmen. Wander, der vor dem österreichischen Nachkriegsantisemitismus fliehen wollte, sagte zu. Doch die anfängliche Euphorie über das „antifaschistische“ Deutschland währte nicht lange. Nach drei Monaten schrieb Fred Wander an seine Freundin Elfriede Brunner, die später unter dem Namen Maxie Wander als Autorin reüssierte, nach Wien und erzürnte sich über seine nichtjüdischen Schriftstellerkollegen: „Was ist das doch für ein Geist! Sie wissen garnicht, wie viel von dem Gift sie noch in sich haben!“ (AAdK, W-F 1017, 30.01.1956) Wie aus dem Schriftwechsel des Paares hervorgeht, ist es das „Gift“ des Antisemitismus, welches Fred Wander in den Köpfen der jungen ostdeutschen Autorengeneration ausmachte. Zehn Jahre zuvor hatte ein nicht unbedeutender Teil von ihnen noch als überzeugte Nationalsozialisten an der Front gedient.
In der öffentlichen Debatte um die DDR, aber auch in der wissenschaftlichen Erforschung des Regimes spielte der Antisemitismus lange Zeit eine nur untergeordnete Rolle (Amadeu Antonio Stiftung 2010). Die wenigen Auseinandersetzungen mit dem Thema nahmen dabei vor allem die staatstragende Ideologie der DDR, den von der Sowjetunion implementierten Marxismus-Leninismus sowie den daran anknüpfenden Antizionismus in die Kritik (vgl. Herf 1998; Haury 2002). Neben der notwendigen Revision sozialistischer Ideologeme wurden bisher jedoch die Kontinuitäten nationalsozialistischen Denkens im postnazistischen Ostdeutschland zu wenig berücksichtigt (vgl. Heitzer et al. 2018). Der Autor Fred Wander etwa verortete den Antisemitismus seiner Kollegen eindeutig in deren nationalsozialistischer Vergangenheit.
Der vorliegende Beitrag führt die Argumentation, dass sich antisemitische Ressentiments in der DDR aus zweierlei ideologischen Quellen speisten: Die in der Ideologie des Marxismus-Leninismus angelegte Nähe zu antisemitischen Denkmustern, allen voran in der verzerrten Faschismus- und Kapitalismusanalyse sowie in dem damit verbundenen programmatischen antizionistischen Antiimperialismus, verquickte sich mit den nicht aufgearbeiteten, verdrängten und daher fortwirkenden antisemitischen Ressentiments der nachnationalsozialistischen deutschen Gesellschaft.
Diese ideologischen Fundamente, die Antisemitismus in der DDR Vorschub leisteten, werden im Folgenden in drei Schritten beleuchtet: Erstens soll die strukturelle Affinität realsozialistischer Ideologie zu antisemitischen Denkmustern herausgearbeitet werden. Zweitens veranschaulicht die Analyse der nicht erfolgten Aufarbeitung der NS-Vergangenheit, die aufs Engste mit der Legitimationsideologie des Antifaschismus verknüpft war, die Spezifika des DDR-Antisemitismus als Teil des deutschen Antisemitismus nach der Shoah. Drittens wird auf den vor allem auf außenpolitischer Ebene formulierten strategischen Antizionismus abgehoben, der sich gegen den Staat Israel richtete.
Vorwegzunehmen ist, dass sich jüdisches Leben in der DDR bzw. das Verhältnis zwischen der Sozialistischen Einheitspartei (SED) und den ostdeutschen Juden und Jüdinnen nicht allein als ein von Antisemitismus und Repression geprägtes beschreiben lässt (vgl. Niether 2015: 11). Jüdisches Leben in der DDR artikulierte sich durchaus heterogen: Neben jenen liberalen, orthodoxen oder zionistischen Juden und Jüdinnen, die sich den Jüdischen Gemeinden zugehörig fühlten, verstand sich ein Großteil der aus assimiliert-jüdischen Familien stammenden Menschen als Sozialist*innen und Kommunist*innen (Hartewig 2000). Die Bandbreite reichte von der Dethematisierung der eigenen jüdischen Herkunft bis hin zur Identifizierung als jüdische*r Kommunist*in. In unterschiedlichem Maße teilten sie die ideologischen Überzeugungen der DDR oder verwehrten sich dagegen (vgl. Peitsch 2015; Hartewig 2000).
Marxistisch-leninistische Faschismusanalyse: Genese des antizionistischen Feindbilds
Bereits 1926 beschrieb der russisch-jüdische Schriftsteller Isaak Babel im Erzählband Die Reiterarmee den grassierenden Antisemitismus in der Roten Armee – als eines der ersten Zeugnisse von Antisemitismus in der Sowjetunion ging das Buch in die Geschichte ein (Kistenmacher 2018). Im Zuge der stalinistischen Säuberungen wurde Babel 1940 hingerichtet.
Auch wenn der sowjetische Antisemitismus historische Vorläufer im zaristischen Russland hatte, war es die Ideologie des Marxismus-Leninismus, die als dogmatische Staatsideologie der Sowjetunion und ihrer Satellitenstaaten aufgrund ihrer „strukturellen Affinität zum Antisemitismus“ diesem eine ideologische Legitimation gab (Haury 2016: 12). Dennoch war der Antisemitismus nie ein dezidiertes „Kernelement linker Weltanschauung“ (Salzborn 2018: 85) – anders als in der nationalsozialistischen Ideologie oder im Islamismus (vgl. Schröter 2019).
Wesentlich für den Marxismus-Leninismus war eine von Lenin und Stalin weiterentwickelte Lesart der Marxschen Analyse der kapitalistischen Ökonomie, die mit der ursprünglichen Theorie von Karl Marx jedoch kaum noch Gemeinsamkeiten aufwies. Stattdessen wurde der Kapitalismus in manichäischer Weise als eine per se böse, „weltweit internationale Verschwörung“ einiger weniger „parasitärer Finanzkapitalisten“ interpretiert, die dem guten, „werktätigen Volk“ entgegengesetzt wurde (Haury 2002: 430). Der vorherrschende Monopolkapitalismus bilde laut Lenin zudem die ökonomische Grundlage des sich weltweit ausdehnenden Imperialismus. Im Gegensatz zu Marx‘ Kritik der politischen Ökonomie, die darauf zielte, die Beziehungen zwischen Menschen im Kapitalismus als ein vom gesellschaftlichen Verhältnis der Warenwerte bestimmtes zu betrachten – „Kapitalisten“ und „Lohnarbeiter“ bestimmte Marx nicht als natürliche Kategorien, sondern lediglich als Charaktermasken, also als Personifikationen ökonomischer Verhältnisse – tendierte der Marxismus-Leninismus umgekehrt dazu, die kapitalistischen Produktions- und Reproduktionsverhältnisse, vor allem die Geld- und Finanzsphäre zu personalisieren. Das heißt, dass im Marxismus-Leninismus konkreten Personen die Schuld an der abstrakten Herrschaft des Kapitals, die von den Menschen nicht durchschaut zu werden vermochte, gegeben wurde (vgl. Postone 1982: 16).
Damit sind bereits zentrale strukturelle und inhaltliche Parallelen zum antisemitischen Weltbild benannt: Zum einen sind es manichäische, personalisierend-konkretistische Weltdeutungen, die komplexe und unverstandene ökonomische Zusammenhänge eindeutig auflösen – insbesondere in die Unterscheidung zwischen den angeblich guten „schaffenden Völkern“ und Werktätigen und den schlechten vaterlandslosen Finanzkapitalisten und „Weltimperialisten“ (Haury 2002: 441). Das ist geradezu paradigmatisch für die antisemitische Denkstruktur (Salzborn 2018: 78). Der Antisemitismustheoretiker Moishe Postone hat gezeigt, dass es für den modernen Antisemitismus konstitutiv ist, das abstrakte Prinzip der kapitalistischen Zirkulationssphäre mit Juden und Jüdinnen zu identifizieren und diese für die Schaffung von Mehrwert und die Ausbeutung der Arbeiter*innen verantwortlich zu machen. Historisch betrachtet gründete diese Identifikation auf der Tatsache, dass Juden und Jüdinnen lange Zeit aus religiösen Gründen auf jene Zirkulationssphäre, d. h. auf den Handel und die Zinswirtschaft, festgelegt waren (Postone 1982: 108).1 Zum anderen hat der Marxismus-Leninismus, wie auch die antisemitische Weltanschauung, den Charakter einer umfassenden Welterklärung, die jedoch verschwörungsideologische Züge trägt. So werden in beiden Ideologien hinter den wirtschaftlichen Gegebenheiten anonyme, konspirative Mächte vermutet, die einerseits potenziell unfassbar sind und andererseits an konkrete personifizierte Feindbilder – an Banker*innen, Börsenspekulant*innen oder eben Monopolkapitalist*innen – gebunden werden müssen (Salzborn 2018: 79; Postone 1982: 15).
Neben der vulgärmarxistischen Interpretation des Kapitalismus, die sich in Personalisierungen ausdrückte und damit in die Nähe von Verschwörungsideologien geriet, stellte laut Haury (2016) die realsozialistische Implementierung eines überschwänglichen Nationalismus und die Bezugnahme der SED auf das „deutsche Volk“, das als „quasinatürliches ethnisches Kollektiv“ gedacht und an die Stelle des Proletariats gesetzt wurde, den dritten Aspekt der strukturellen Nähe zum Antisemitismus (Haury 2002: 430). Gegen jenes „ehrliche“, „werktätige Volk“ opponierte in der Diktion des marxistisch-leninistischen Antiimperialismus der weltweite Imperialismus. Erneut wurde dabei die imaginierte „globale Klasse der Finanzkapitalisten“ (ebd.: 441), welche die Völker unterjoche, mit tradierten antisemitischen Stereotypen belegt, etwa der Vorstellung, diese sei ein anationales, kosmopolitisch-wurzelloses und parasitäres Anti-Volk.
Allein bei der strukturellen Homologie zwischen Marxismus-Leninismus/Antiimperialismus und Antisemitismus blieb es nicht. Vielmehr artikulierten sich antisemitische Ressentiments über den Umweg eines programmatischen Antizionismus des SED-Regimes, der aufgrund der beschriebenen Strukturähnlichkeiten problemlos in die sozialistische Ideologie „eingebaut“ werden konnte. Das Feindbild der international agierenden, zersetzenden „Finanzhyänen“ wurde von Stalin bereits in den 1930er Jahren und später von der SED-Führung auch auf „Zionisten“ ausgeweitet, da der nationaljüdische Zionismus als eine Form des aggressiv-chauvinistischen Imperialismus gedeutet wurde. „Die zionistische Bewegung“, so erklärte der führende SED-Funktionär Erich Ament im Jahr 1953, „hat nichts gemein mit Zielen der Humanität und wahrhafter Menschlichkeit. Sie wird beherrscht, gelenkt und befehligt vom US-Imperialismus, dient ausschließlich seinen Interessen und den Interessen der jüdischen Kapitalisten.“ (Ament, zitiert nach Hirschinger 2005: 377) So reinkarnierte sich das „alte Stereotyp des anationalen und zersetzenden Juden […] im zionistischen Agenten“ (Haury 2002: 442). In der historischen Realität wurden jedoch alle Juden und Jüdinnen, ungeachtet ihrer Stellung zum Zionismus, unter Generalverdacht gestellt, Zionist*innen zu sein. So konnte gegen Juden und Jüdinnen agitiert werden, ohne sich auf die ethnisch-rassistische Kategorie des Juden, wie sie der völkische Antisemitismus propagierte, zu beziehen.
In den 1940er und 1950er Jahren artikulierte sich dieser Antizionismus unter dem Einfluss von Stalin in der Sowjetunion und ihrer Satellitenstaaten in Form massiver Säuberungen gegenüber Juden und Jüdinnen, die gegen 1952/53 in abgeschwächter Form auch die DDR trafen. Bereits seit den 1930er Jahren und verstärkt seit 1948 wurden in der Sowjetunion etliche Juden und Jüdinnen verfolgt und diskriminiert. Insbesondere der assimilierten jüdischen Intelligenzija, darunter Literat*innen wie Isaak Babel, wurden „Kosmopolitismus“ und Kontakt zu westlichen Geheimdiensten, Spionage und Verrat am sozialistischen Heimatland vorgeworfen (Haury 2016: 20). Im Jahr 1952 kulminierte die antijüdische Propaganda gegen die vermeintlichen Zionist*innen, als Stalin in einem erfundenen Komplott mehrere jüdisch-russische Ärzte beschuldigte, ihn und weitere Führungspersönlichkeiten der Sowjetunion ausschalten zu wollen (Vetter 2011: 416). Im Zuge der sogenannten Ärzteverschwörung in Moskau im Jahr 1952 und des antisemitischen Schauprozesses gegen den Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KSC) in Prag, Rudolph Slánský, wurden in den gesamten Ostblockländern etliche Jüdische Gemeinden, jüdische Intellektuelle und Parteimitglieder einer Reihe von Repressalien wie Verhaftungen, Anhörungen und Amtsenthebungen unterzogen, zum Teil sogar ins Gulag verschleppt oder hingerichtet (Herf 1998). Im Rahmen des Prozesses um Slánský, der aufgrund seiner Kontakte zu einem vermeintlichen amerikanischen Agenten namens Noel Field 1952 gehängt wurde, trafen die Säuberungen auch den „Bruderstaat“ DDR (Gerber 2016). Zentrum der Repressalien war der führende KPD-Funktionär Paul Merker, der selbst zwar kein Jude war, sich jedoch bereits im mexikanischen Exil für umfassende Wiedergutmachungszahlungen an Israel sowie an alle überlebenden Jüdinnen und Juden ausgesprochen hatte (Herf 1998: 54ff.).
Zwar waren die Ausmaße der Verfolgung von Juden und Jüdinnen in der DDR geringer als in anderen sozialistischen Ländern, dennoch wurden bis 1953 zahlreiche jüdische Parteimitglieder entlassen. Über 400 Mitglieder der Jüdischen Gemeinden, darunter fünf der acht Gemeindevorsteher der ostdeutschen Jüdischen Gemeinden, verließen das Land. Die spätstalinistischen Säuberungen in der DDR sind daher zu Recht als antisemitisch zu charakterisieren, auch wenn die antizionistische Agitation nicht immer aus Überzeugung, sondern zum Teil auch instrumentell eingesetzt wurde.
Mythos Antifaschismus: die institutionalisierte Verdrängung der Shoah in der DDR
Wie Thomas Haury in seiner differenzierten Studie bereits 2002 argumentierte, war der antizionistische Antisemitismus in der DDR jedoch nicht nur ein Ableger aus der Sowjetunion, sondern besaß auch eine genuin deutsche Spezifik. Der ostdeutsche Antizionismus war auf das Engste an den Umgang der DDR mit der deutschen NS-Vergangenheit geknüpft und umgekehrt: Die staatliche Interpretation und Auseinandersetzung mit dem „Faschismus“, wie der Nationalsozialismus in der DDR historisch inkorrekt bezeichnet wurde, legitimierte nicht nur eine breite gesellschaftliche Entlastung und Abwehr von Schuld, sondern beförderte auch antisemitische Ressentiments. Damit bestätigt sich für die DDR, was Pohl (2010) und Bergmann (2007) vor allem für die bundesdeutsche Nachkriegsgesellschaft konstatierten: dass die Abwehr der Erinnerung an die Shoah und die Abwehr einer „Vergangenheitsbewältigung“ „Hand in Hand“ mit antisemitischen Einstellungen gehen (Pohl 2010: 234). Obwohl Schuld und Verantwortung, Wiedergutmachung und Erinnerung kurz nach Kriegsende unter den überlebenden und zurückgekehrten Kommunist*innen noch kontrovers diskutiert wurden, setzte sich mit der Staatsgründung der DDR im Jahr 1949 zunehmend die marxistisch-leninistische Faschismustheorie durch, die den „Faschismus“ im Sinne der Dimitroff-These als „die offene, terroristische Diktatur der reaktionärsten, chauvinistischsten, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals“ bewertete und die Schuld am Nationalsozialismus einer zahlenmäßig kleinen, großbürgerlichen Finanz- und Industriellenelite zuwies. Damit konnte das „deutsche Volk“ von Schuld und Verantwortung freigesprochen und die nationalistische Rhetorik der SED bedient werden, die sich affirmativ auf das ‚gute, deutsche Volk‘ bezog und einer identitätsstiftend und gemeinschaftsspendenden Nationalgeschichte bedurfte.
Doch die Abwehr- und Verdrängungsmaßnahmen reichten noch weiter: Es genügte nicht nur, „das Volk“ als eine von Hitler verführte Masse zu exkulpieren und damit das Schuld- und Schamgefühl der Deutschen zu entlasten – im Sinne einer weitreichenden, über den juristischen Begriff hinausgehenden Schuld; etwa der Schuld, die NSDAP gewählt zu haben, an der Stigmatisierung von Juden und Jüdinnen beteiligt gewesen zu sein, über Verbrechen geschwiegen zu haben etc. Vielmehr wurde mit der Etablierung des Legitimationsmythos Antifaschismus ein Deutungsmuster geschaffen, das eine differenzierte Auseinandersetzung sowohl mit dem historischen, nationalsozialistischen Antisemitismus, als auch mit gegenwärtigen Formen von Antisemitismus im Keim erstickte – und das eine ernsthafte Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit auf staatlicher und gesellschaftlicher Ebene weitestgehend verunmöglichte.
Um sich selbst als das „antifaschistische“ Deutschland zu legitimieren, bedurfte es einer bestimmten Deutung der NS-Vergangenheit, und zwar einer, qua der die DDR-Bevölkerung als „Sieger der Geschichte“ ausgewiesen werden konnte. Massenhaft wurde die DDR daher in Büchern und Filmen – allen voran im Roman Nackt unter Wölfen von Bruno Apitz – als Erbe eines vermeintlich historisch verbürgten, heroisch antifaschistischen Widerstands gegen den Nationalsozialismus inszeniert (Hantke 2018). Als Kernstück dieser Erzählung diente die behauptete „Selbstbefreiung“ der kommunistischen Häftlinge im Konzentrationslager Buchenwald, wie sie Apitz beschrieb (Knigge 1993). Die Bürger*innen der DDR wurden damit nachträglich zu kommunistischen Held*innen deklariert, die den Faschismus bekämpft hätten und auf der moralisch überlegenen Seite stünden. Das kam wiederum dem Bedürfnis nach Entlastung der eigenen Vergangenheit entgegen. Gemäß dem marxistisch-leninistischen Theorem, dass der „Faschismus“ eine Klassen- und keine Rassenfrage gewesen sei und daher nicht Juden und Jüdinnen, sondern Kommunist*innen und Arbeiter*innen die eigentlichen Feind*innen des Hitlerregimes gewesen seien, sah auch die Geschichtspolitik der DDR eine Erinnerung an die Shoah nicht vor: Zwar wurde die Judenvernichtung in der DDR nicht geleugnet, sie wurde jedoch in ihrer eliminatorischen Spezifik verkannt und als Fußnote unter eine allgemeine Verfolgung subsumiert, wobei die offizielle Erinnerung auf den heldenhaften kommunistischen Widerstand verengt wurde. Der nationalsozialistische Antisemitismus wiederum wurde in weiten Teilen der offiziellen, wissenschaftlichen und publizistischen Bearbeitung lediglich zu einem „Instrument der herrschenden Klasse“ im Klassenkampf degradiert; zu einem Ablenkungsmanöver, „um die Unzufriedenheit der Massen […] auf die Geleise eines mörderischen Bruderkampfes gegen die werktätigen jüdischen Massen“ umzulenken (Herf 1998: 37). Großbürgerliche Juden und Jüdinnen wurden dieser Logik zufolge dem Klassenfeind zugerechnet. Mit der in der DDR vollzogenen Verstaatlichung der Produktionsmittel, so die Annahme, habe man die Wurzel von Faschismus, Antisemitismus und Rassenhass – nämlich den Kapitalismus – „mit Stumpf und Stiel“ ausgerottet. In der Logik dieses Antifaschismus-Ideologems konnte es in der DDR keinen Antisemitismus mehr geben.
Dass die Stimmen jüdischer Überlebender, die der Shoah knapp entronnen waren, mit dem idealisierten Bild deutscher Kommunist*innen und der teleologischen Heilsgeschichte, in der der Nationalsozialismus als eine notwendige Stufe des „Kampfes“ auf dem Weg in ein besseres Leben in der DDR betrachtet wurde, zwingenderweise in Widerspruch gerieten, zeigen die zahlreichen Texte jüdischer Autor*innen über die Shoah, die von den DDR-Behörden beanstandet (z. B. Fred Wanders Der Siebente Brunnen), zurückgezogen (z. B. Tadeusz Borowskis Bei uns in Auschwitz) oder erst gar nicht gedruckt wurden (z. B. Primo Levis Ist das ein Mensch?) (vgl. Thiele 2020). Neben der weitreichenden Marginalisierung und Delegitimierung jüdischer Stimmen über die Shoah, der abwertenden Hierarchisierung jüdischer Erfahrung unter die kommunistische, dem folgenschweren Verkennen des nationalsozialistischen Vernichtungsantisemitismus und der Leugnung von realexistierendem Antisemitismus in der Gegenwart beförderten diese institutionalisierten und breitenwirksamen Schuld- und Erinnerungsabwehrstrategien auch Formen von Post-Holocaust-Antisemitismus – einem Antisemitismus, der sich dezidiert „nicht trotz, sondern wegen Auschwitz“ (Henryk M. Broder) artikuliert.
Vor allem die Debatte über Wiedergutmachungsleistungen an Überlebende der Shoah in der DDR war von drastischer antizionistischer Rhetorik – und damit von antisemitischen Stereotypen – durchzogen (Haury 2002: 452). Tatsächlich war die Zurückweisung von Restitutionen das Kernthema des ostdeutschen Antizionismus der 1950er Jahre: Wiedergutmachung für jüdische Überlebende, so hieß es im Prozess gegen Paul Merker, sei die „Verteidigung der Interessen zionistischer Monopolkapitalisten“ (Haury 2016: 25). Die hier offensichtliche Umkehr von Täter und Opfer – die berechtigte Forderung nach Restitution wurde als Ausdruck zionistisch-jüdischer Geldgier gedeutet; die Deutschen als „Opfer“ dieser dargestellt – ist symptomatisch für den sogenannten Schuldabwehr-Antisemitismus: Um sich selbst der Schuld zu entledigen, muss der Nationalsozialismus relativiert, die Thematisierung der Vergangenheit und der Schuld verweigert, die Ansprüche der Opfer diskreditiert werden oder aber die Schuld aufgerechnet werden, etwa indem man die eigentlichen Opfer zu Täter*innen macht (Bergmann 2007: 17). Die Antisemitismusforschung hat dabei belegt, dass es sich bei jenem sogenannten Schuldabwehrantisemitismus (Post-Holocaust-Antisemitismus) nicht um eine völlig neue, vom traditionellen völkisch-rassistischen Antisemitismus gänzlich verschiedene bzw. unabhängige Form des Antisemitismus handelt. Vielmehr resultiert dieser aus der eigenen Nicht-Aufarbeitung der Shoah und aus den abgewehrten und verdrängten antisemitischen Einstellungen des Dritten Reiches in der eigenen Familie – es handelt sich hierbei also um die Kontinuität antisemitischer Denkmuster (Pohl 2010; Imhoff 2019).
Diese Kontinuitäten zeigten sich in der DDR zumeist in chiffrierter Form – verstand sich der selbst ernannte „antifaschistische“ Staat doch als der Teil Deutschlands, der einen radikalen Bruch mit den antisemitischen Einstellungen der Nazizeit herbeigeführt hatte. Literarische Zeugnisse und Ego-Dokumente aus der DDR, wie exemplarisch der eingangs zitierte Brief von Fred Wander, belegen jedoch auch ganz explizit, dass die völkisch-antisemitischen Ressentiments des Nationalsozialismus in der unmittelbaren Nachkriegszeit und weit darüber hinaus noch wirkmächtig waren. In zahllosen weiteren Briefen entrüstete sich Wander, dass jener jungen Generation, die im Nationalsozialismus aufwuchs und sich in der DDR als antifaschistisch gerierte, nicht nur „das Pathos der Empörung […] gegen den Faschismus völlig fehlt“, sondern dass alte antisemitische Ressentiments und autoritäre Denkmuster in ihnen weiterleben (AAdK, W-F 1017, 27.01.1956). Auch in den belletristischen Texten von Holocaustüberlebenden zeigt sich der Nachkriegsantisemitismus deutlich. In Jurek Beckers autobiografisch inspiriertem Roman Der Boxer konstatiert der Protagonist und jüdische Shoah-Überlebende Aron Blank, dass ihm von der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft noch lange nach seiner Befreiung aus dem Konzentrationslager massive Abneigung und Misstrauen entgegengebracht wird: „Es würde lange dauern, bis man sie [die Gesellschaft, A.T.] gezwungen hatte, sich daran zu gewöhnen, dass einer, der so aussah wie er, so unverwechselbar ähnlich dem Bild des Mannes auf dem Steckbrief, frei herumlaufen und dreiste Blicke werfen durfte, dass er nicht entflohen war, sondern befreit.“ (Becker 1976: 15) Es ist davon auszugehen, dass diese fortlebenden Ressentiments mit zunehmender Konstituierung des „antifaschistischen“ Selbstverständnisses der DDR nur noch über den Umweg des Antizionismus und der Israelfeindschaft geäußert werden konnten.
Insofern kann für den Antisemitismus in der DDR bestätigt werden, was eingangs konstatiert wurde: Der aus der Sowjetunion übernommene marxistisch-leninistische Antizionismus stand nicht für sich, sondern verband sich mit jenen nicht aufgearbeiteten und auf dem Umweg der Schuldabwehr artikulierten antisemitischen Ressentiments.
Antizionismus und Israelfeindschaft: die antiisraelische Politik der DDR
In weiten Teilen fand diese Verquickung von marxistisch-leninistischem Antizionismus und genuin deutscher Schuldabwehr auch in der antizionistischen Agitation der DDR gegen den jüdischen Staat statt, die vor allem im Zuge des Sechs-Tage-Krieges im Jahr 1967 an Fahrt aufnahm. Bereits kurz nach der Staatsgründung Israels im Jahr 1948 brachen die Sowjetunion und im Zuge dessen auch die kurze Zeit später gegründete DDR die bis dato solidarischen Verbindungen zu Israel ab und schlugen sich – vor allem aus strategischen Gründen im Kalten Krieg – auf die Seite der arabischen Länder (vgl. Herf 2018: 126; Timm 1997). Bis 1989 paktierte die SED mit palästinensischen (Terror-)Organisationen und Israel feindlich gegenüberstehenden Ländern wie Syrien, Libanon, Irak und Ägypten. Die SED-Führung lieferte große Mengen Waffen, stellte militärische Ausrüstung bereit und bildete deren Armeeangehörige militärisch aus (Herf 2016). Ungeachtet der Tatsache, dass die antiisraelische Politik der DDR in erster Linie strategischen Zielen folgte, insbesondere dem Zweck der diplomatischen Anerkennung durch Staaten außerhalb des Warschauer Paktes, waren die Konsequenzen doch antisemitisch: denn die Waffenlieferungen und militärische Unterstützung halfen mit, Juden und Jüdinnen in Israel zu töten (Herf 2018). Darüber hinaus machte die sozialistische Propaganda gegen den jüdischen Staat die oben genannte Täter-Opfer-Umkehr salonfähig: In zahllosen staatsoffiziellen Reden, darunter mehrfach von den Staatsoberhäuptern persönlich, sowie in der Presse und in Fernsehsendungen wie dem „Schwarzen Kanal“ wurde Israel mit dem nationalsozialistischen Deutschland gleichgesetzt (Escher 2019). Auch in dieser Rhetorik verknüpfte sich die antizionistische Ideologie der Sowjetunion mit dem deutschen Wunsch nach Entlastung von der eigenen Vergangenheit und verband sich zu einem spezifisch (ost-)deutschen Antisemitismus nach Auschwitz.
Ausblick
Wie die Analyse der staatlich-ideologischen Ebene gezeigt hat, waren antisemitische Tendenzen in der DDR nicht, wie zum Teil geglaubt, ein alleiniges Produkt des sowjetischen Sozialismus – zumal der Antisemitismus diesem nicht konstitutiv inhärent war, sondern nur ideologisch nahestand. Vielmehr fiel die sowjetische antizionistische Propaganda auf einen deutschen Boden, der noch durchtränkt war von antisemitischen Ressentiments der Vergangenheit. Diese tradierten sich aufgrund von mangelnder Aufarbeitung und hartnäckiger Abwehr in der ostdeutschen Bevölkerung weiter. Letzteres wird schließlich vor allem dann ersichtlich, wenn man den Blick weg von der staatlichen Ebene und den Führungspersönlichkeiten hin zu den einfachen Bürger*innen lenkt – insbesondere zu denjenigen, die dem kommunistischen Regime kritisch gegenüberstanden. Bezeichnenderweise beschrieb Fred Wander ausgerechnet den DDR-oppositionellen Schriftsteller Erich Loest als seinen „Gegenspieler“ am Literaturinstitut. Er sei, so Wander, ganz besonders erfüllt vom „Gift“ des Nationalsozialismus. Tatsächlich war Loest in seinen jungen Jahren überzeugter Nationalsozialist gewesen und hatte im Dritten Reich sogar einen Antrag auf Aufnahme in die Waffen-SS gestellt. In der DDR und darüber hinaus machte er sich als regimekritischer Autor einen Namen, der wegen „konterrevolutionärer Gruppenbildung“ auch im Gefängnis saß.
Nicht wenige Rechtsextreme, die später in Westdeutschland maßgeblich eine rechtsterroristische Szene aufzubauen halfen, stammten aus Familien in Ostdeutschland, die nachweislich in den Nationalsozialismus verstrickt waren (Förster 2018; Heitzer 2018). Obwohl die Entnazifizierung in der DDR gründlicher vollzogen wurde als in der Bundesrepublik, konnten etliche (ehemalige) Nationalsozialist*innen ein unbehelligtes Leben im realsozialistischen Deutschland führen. Aus solchen Milieus mögen mutmaßlich auch einige der rechtsextremen Jugendlichen erwachsen sein, die in den späten 1980er Jahren in der DDR antisemitische und rechtsextreme Angriffe ausübten. Gerade vor dem Hintergrund dieser Kontinuitäten nationalsozialistischen Denkens in der DDR tut es not, auch das fortgesetzte unkritische Verständnis von „DDR-Dissidenz“ zu hinterfragen und zu differenzieren: Diese rührte eben nicht immer aus dem Wunsch nach mehr Demokratie, sondern kam auch von rechter Seite (Heitzer 2018).
Eine einseitige Verantwortlichmachung der kommunistischen Ideologie für den Antisemitismus in der DDR externalisiert das Problem Antisemitismus „nach Osten“ und verschließt die Augen vor der Tatsache, dass die DDR vor allem auch ein nach-nationalsozialistischer Staat mit einer langen Geschichte deutschen Antisemitismus war.
1 Nach Postones Interpretation von Karl Marx‘ Kritik der politischen Ökonomie sind es aber nicht jene „raffenden“ Kapitalisten, die für die Ausbeutung verantwortlich zu machen sind – dies ist nur der gesellschaftlich notwendige Schein –, sondern die mehrwertbildende Arbeit (Grigat 2007: 280; vgl. Postone 1980).
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