Ich habe ein Gespräch mit einem Protestierenden geführt, einem 28-jährigen Studenten, der mir erzählte, dass in den letzten Jahren die Sensibilität für sexuelle Übergriffe im Iran gestiegen ist, u. a. aufgrund der MeToo-Bewegung. Das heißt, die Debatten, die wir hier führen um Misogynie, um die sexuelle Selbstbestimmung der Frau und aller Geschlechter, kommt überall an und wird überall geführt. Deswegen ist der feministische Aspekt dieser Proteste wichtig – ebenso wie die Tatsache, dass es eine unglaubliche Solidarität gibt, über alle Geschlechter, Ebenen und Altersschichten hinweg. Wir haben Bilder und Videos gesehen, wie Frauen ohne Kopftuch durch die Straßen laufen, obwohl sie wissen, dass es ihr Leben gefährden kann.
Ein Video, das ich besonders mochte, ist das eines jungen Mannes, der mit Blumen durch die Straßen geht und diese Blumen Frauen übergibt mit den Worten: „Danke, dass du die Stadt mit deinen Haaren schöner machst“. Das ist Ausdruck einer Sehnsucht und eines Verlangens nach Freiheit, der zeigt, dass die Unterdrückung der Frau, dass Antifeminismus immer alle Geschlechter berührt und nicht nur Frauen belastet. Männer werden immer davon betroffen sein, wenn Frauen unterdrückt sind und das verstehen diese Menschen im Iran. Sie spüren es jeden Tag und die Solidarität und Aufmerksamkeit, die wir in Deutschland in vielen Protesten, Mahnwachen und Demonstrationen zeigen, ist wichtig. Denn wir sehen einen Befreiungskampf im Iran, der Auswirkungen auf die gesamte Region, auf die ganze Welt haben kann, weil Hasskriminalität und Antifeminismus im Iran strukturell ist.
Wir sehen das beispielsweise in den Gesetzen. Im Iran sind Frauen gesetzlich die Hälfte von Männern wert. Shirin Ebadi, die Friedensnobelpreisträgerin, hat das in ihrem Buch gut gezeigt. Sie beschreibt den Tag, als dieses neue Gesetz verkündet wurde. Sie war vor der Revolution Richterin, eine der ersten Richterinnen im Land, und als die Islamische Revolution geschah, wurde sie abgesetzt und durfte nicht mehr als Richterin arbeiten. Sie erzählt, wie sie am Frühstückstisch sitzt und die Zeitung aufschlägt und da stehen plötzlich die neuen Gesetze, die ihr ganzes Leben von heute auf morgen ändern. Die Aussage einer Frau vor Gericht ist nun nur noch halb so viel wert wie die eines Mannes: Das heißt, es braucht zwei Frauen, um die Aussage eines Mannes aufzuwiegen. Oder auch, dass das Leben einer Frau in Geld gemessen nur halb so viel wert ist. Wenn es zum Beispiel zu einem Unfall kommt und eine Frau und ein Mann verletzt sind oder sterben, dann gibt es für die Familien der Frauen nur halb so viel Geld. Shirin Ebadi hat es so beschrieben: Mein Mann und ich waren an einem Tag noch in einer gleichberechtigten Ehe und am nächsten Tag war er immer noch eine Person, aber ich wurde zu einem Objekt, zu einer persönlichen Habe. Das ist struktureller, gesetzlicher Hass und Antifeminismus. Dagegen gehen die Menschen auf die Straßen.
Es ist nicht nur ihr Kampf – es ist auch unser Kampf, denn die Menschen dort erkämpfen sich Rechte, die wir schon haben, zumindest per Gesetz. Es ist nicht so, als lebten wir hier im feministischen Paradies. Wir sind immer noch in einer patriarchalen Gesellschaft, es werden in Europa und in den USA Faschist*innen an die Macht gewählt. Wir geben momentan immer mehr ein Stück das auf, wofür die Menschen im Iran kämpfen. Es ist wichtig, dass wir verstehen, dass wir in einer Welt der Interdependenz leben. Es geht uns an, was in der Ukraine und im Iran passiert, und dass wir dafür auch die Energie für unseren Kampf gegen Faschismus, gegen Antifeminismus, gegen Hass mit dem Kampf im Iran verbinden können. Damit wünsche viele gute Diskussionen, viel Input, viel Beschäftigung mit diesen unglaublich wichtigen Themen. Und ich freue mich, dass ich zu Ihnen sprechen konnte. Alles Gute!