Keynote: Wenn Feminismus zum „absoluten Feind“ wird – zu den Konturen eines antisemitischen Antifeminismus

Empfohlene Zitierung:

Birsl, Ursula (2023). Wenn Feminismus zum „absoluten Feind“ wird – zu den Konturen eines antisemitischen Antifeminismus. In: Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (Hg.). Wissen schafft Demokratie. Schwerpunkt Antifeminismus & Hasskriminalität, Band 13, Online-Ausgabe. Jena, 34–45.

Schlagwörter:

Antifeminismus, Cultural Backlash, Misogynie, Antisemitismus, Geschlechterkonservatismus

 


Antifeministische Weltanschauungen können als Gegenbewegung zu Prozessen der Flexibilisierung und Liberalisierung von Geschlechterordnungen verstanden werden. Sie sind in Demokratien zwar eine Minderheitsposition, so auch in Deutschland, jedoch eine relativ große mit Mobilisierungspotenzial für antidemokratische Akteur*innen, das diese schon seit Längerem erkannt haben. Hierin liegt allerdings nicht die alleinige Brisanz von antifeministischen Ideologien. Diese liegt gleichfalls in der Feindschaft zu herrschaftskritischen Feminismen. Im vorliegenden Beitrag wird argumentiert, dass ein solcher Antifeminismus als antisemitischer Antifeminismus verstanden werden kann, in dem ein völkisch begründeter Antisemitismus wieder zu Tage tritt.


Einleitung1

In internationalen Einstellungserhebungen ist im zeitlichen Längsschnittvergleich eine zunehmende Öffnung von Gesellschaften gegenüber Frauenrechten, unterschiedlichen sexuellen Orientierungen und Lebensformen zu beobachten. Dies gilt nach einer Sonderauswertung des World Value Surveys (WVS, eine Studie, in der Wertvorstellungen international erhoben und verglichen werden) durch Amy C. Alexander, Ronald Inglehart und Christian Welzel (2016) selbst für Länder und Lebensbereiche, in denen Religion Lebensweisen dominier(t)en. Die Autor*innen führen diese Entwicklung auf insgesamt verbesserte Lebensbedingungen und Wahlmöglichkeiten in der Lebensgestaltung zurück. Eine vertiefte Analyse des WVS und des European Value Surveys (EVS) in relativ stabilen Demokratien verschiedener Weltregionen – auch in Deutschland – zeigt ebenfalls, dass ein liberaleres Verständnis von Geschlechterordnungen seit den 1980er-Jahren politisch-kulturell immer dominanter geworden ist. Es wird jedoch nicht von allen sozialen Klassen und Milieus gleichermaßen getragen (hierzu ausführlicher Birsl 2020) und stößt bei älteren Jahrgängen auf zum Teil massive Abwehrhaltungen. Die Entwicklung emanzipatorischer Wertorientierungen gegenüber den Geschlechterverhältnissen wird hiernach im Vergleich zu anderen Prozessen des Wertewandels als besonders dynamisch, aber auch als besonders konflikthaft bewertet (Alexander und Welzel 2017; Inglehart und Norris 2016, 14). Die Konflikthaftigkeit ist zudem darauf zurückzuführen, dass der Wertewandel mit einem tiefgreifenden strukturellen „Übergang zu einer flexibilisierten Geschlechterordnung“ (Lenz 2018, 24) einhergeht.

Dass sich in den Abwehrhaltungen eine „cultural counter-reaction to the silent revolution“ einer Flexibilisierung und Liberalisierung formiert hat, mit der nach Ronald F. Inglehart und Pippa Norris (2016, 14ff.) u. a. der politische Aufstieg autoritärer, ‚populistischer‘ Akteur*innen2 erklärt werden kann, erscheint zunächst plausibel. Dass sich darin jedoch ebenfalls ein umfassender „Cultural Backlash“ (ebd.) spiegelt, ist nicht anzunehmen. Mehrheitsfähig sind diese Abwehrhaltungen nach bisherigen empirischen Befunden nicht und werden es voraussichtlich auch nicht (mehr) werden. Und dennoch: In der „cultural counter-reaction“ verdichten sich geschlechterkonservative und antifeministische Weltanschauungen als Gegenbewegung zur strukturellen Flexibilisierung und zunehmenden kulturellen Liberalität in den Geschlechterordnungen. In dieser „kulturellen Gegenreaktion“ finden politische und religiöse Akteur*innen in Allianzen zusammen, die in ihren Orientierungen ein breites politisches Spektrum von (säkular) extrem rechts, religiös-fundamentalistisch bis (demokratisch-)konservativ repräsentieren. Besonders prägnant zeigen sich solche Allianzen im Kontext der sog. Lebensschutzbewegung um die „Weltfamilienkonferenz“ oder den „Marsch für das Leben“ (Birsl 2020, 50ff.).

Autoritäre, antidemokratische Akteur*innen und Parteien haben bereits seit Längerem erkannt, welches Mobilisierungspotenzial in den Abwehrhaltungen und der „cultural counter-reaction“ schlummert. Slogans wie „Gott, Nation, Familie“ (Donald Trump, Viktor Orbán, Jair Bolsonaro oder Giorgia Meloni) erweisen sich als wirksam für Wahlkampagnen. Unterschätzt wird oftmals, dass solche Kampagnen gegen die Flexibilisierung und Liberalisierung von Geschlechterordnungen sowie vermeintlicher ‚Gender-Ideologie‘ maßgeblich dazu beitragen, dass Antidemokrat*innen über Wahlen in Regierungsverantwortung gespült werden. Es sind Akteur*innen, deren Ziel es ist, etablierte, wenn auch bereits geschwächte Demokratien von innen auszuhöhlen oder junge Demokratien – etwa im Fall Ungarns3 – in eine autoritäre Transformation zu führen (Birsl 2019).

Nicht alle Akteur*innen, die der „cultural counter-reaction“ zugerechnet werden können, folgen einer dezidiert antifeministischen Weltanschauung – auch nicht zwingend diejenigen, die mit antifeministischen Ressentiments populistisch (Wahl-)Kampagnen starten. Im Nachfolgenden wird zunächst geklärt, was unter Antifeminismus in Abgrenzung zu geschlechterkonservativem Denken, aber auch zu Phänomenen wie der Misogynie verstanden werden kann. Dabei wird aus ideologiekritischer Perspektive argumentiert, dass manifester Antifeminismus ohne Antisemitismus nicht verstanden werden kann, also bei Antifeminismus von einem antisemitischen Antifeminismus gesprochen werden kann. Ziel ist es, die besondere gesellschaftliche und politische Brisanz eines antisemitischen Antifeminismus deutlich zu machen.

Was ist Antifeminismus?

Die Geschichte des Antifeminismus etwa in Europa und Nordamerika ist bislang noch nicht systematisch aufgearbeitet und somit auch noch nicht geschrieben. Es existieren vor allem einzelne, wenn auch erkenntnisgewinnende Fallstudien (stellvertretend Planert 1998; Homering et al. 2019; hierzu Henninger 2020, 11). Der Begriff des Antifeminismus ist keine etablierte Analysekategorie in internationalen Wissenschaftsdebatten, sondern vornehmlich im deutschsprachigen Raum vertreten (hierzu Henninger 2020, 14). Zurückgeführt wird er auf die Essay-Sammlung der Frauenaktivistin Hedwig Dohm „Die Antifeministen. Ein Buch der Verteidigung“ von 1902. Dohm schrieb:

„Die Frauenfrage in der Gegenwart ist eine akute geworden. Auf der einen Seite werden die Ansprüche immer radikaler, auf der anderen die Abwehr immer energischer“ (zitiert über Maurer 2018, 30).

Dohm beschrieb mit diesen beiden Sätzen eindrücklich und pointiert, wie im Anschluss an die Historikerin Helga Grebing (1971)4 demokratietheoretisch sowie ideengeschichtlich Antifeminismus als analytische Strukturkategorie definiert werden kann. Hiernach kann Antifeminismus als eine dem jeweiligen historischen Prozess der Emanzipation, der Universalisierung, der gesellschaftspolitischen Flexibilisierung und Liberalisierung der Geschlechterverhältnisse immanente weltanschauliche Gegenbewegung verstanden werden. Er ist damit gleichzeitig eine weltanschauliche Gegenbewegung zur Demokratisierung von (androzentrischen) Macht- und Herrschaftsverhältnissen im Sozialen und Politischen (Birsl 2018, 381; ausführlich Birsl 2020, 44ff.).

Damit positioniert sich der Antifeminismus gegen einen Feminismus, oder genauer: gegen Feminismen (hierzu Henninger 2020), deren Anliegen sich nicht allein darin erschöpfen, sich mit der hierarchischen Anordnung bipolarer Geschlechterstereotypen und binärer Geschlechterzuweisungen sowie deren gesellschaftlichen Folgen auseinanderzusetzen. Aus herrschaftskritischer Perspektive durchdringen Feminismen alle gesellschaftlichen Verhältnisse und legen androzentrische Macht- und Herrschaftsverhältnisse als Zwangsverhältnis offen (Kurz-Scherf 2002, 45). Letztendlich geht es bei so gedachten Feminismen darum, soziale, geschlechtliche und politische Herrschaftsverhältnisse kritisch zu hinterfragen und zu demokratisieren. Insofern wird unmittelbar einsichtig, wieso herrschaftskritische Feminismen konservative und antifeministische Gegenreaktionen auf den Plan rufen. Geschlechterkonservatives und antifeministisches Denken unterscheiden sich jedoch dahingegen, dass konservative Vorstellungen von Geschlechterordnungen nicht per se antidemokratisch sein müssen, sondern sich deren Träger*innen mit Flexibilisierungs- und Liberalisierungsprozessen ‚arrangieren‘ (können) – und zwar vor allem dann, wenn ein traditionelles Verständnis, etwa von Familie, (noch) nicht grundsätzlich infrage gestellt wird. Antifeministische Weltanschauungen können demgegenüber grundsätzlich als antidemokratisch verstanden werden. Antifeminist*innen „mobilisieren offensiv gegen Feminismen und gegen Gleichstellungspolitik, während sie eine ausschließliche Zweigeschlechtlichkeit von Mann und Frau und eine ungleiche Arbeitsteilung vertreten. Gesellschaftspolitisch beziehen sie verschiedene Positionen von [regressiv, U. B.] neoliberal über rechtspopulistisch bis rechtsextrem“ (Lenz 2018, 21).

Antifeminismus kann allerdings nicht mit Misogynie, also im wörtlichen Sinn mit „Frauenhass“ gleichgesetzt werden, da antifeministische Denkweisen – ähnlich wie im geschlechterkonservativen Denken – naturalisierenden Differenzvorstellungen folgen (hierzu Simon und Kohl 2023, 87f.), die die ungleiche Arbeitsteilung zwischen ‚den zwei Geschlechtern‘ als „Gleichheit in der Differenz“ legitimieren. Demgegenüber beschreibt Misogynie „die Annahme einer ontologischen Minderwertigkeit von Frauen, wie sie seit der Antike in verschiedenen Schriften der Philosophie und Literatur, aber letztlich auch im christlichen Glauben, der Hexenverfolgung und wissenschaftlichen Abhandlungen zum Ausdruck gebracht wurde“ (Maurer 2018, 29; Hervorh. U. B.).

Während sich antifeministische Weltanschauungen von Misogynie ideologiekritisch klarer abgrenzen lassen, sind die Grenzen zu (geschlechter-)konservativem Denken eher fließend. Denn Antifeminismus ist eine antidemokratische Variante des Konservatismus, der nicht bereit ist, sich mit strukturellen und kulturellen Einschreibungen von Emanzipationsbestrebungen zu ‚arrangieren‘. Eine Abgrenzung macht dennoch Sinn, um den Begriff des Antifeminismus als wissenschaftliche Analysekategorie fruchtbar zu machen und davor zu schützen, zum politischen Kampfbegriff zu werden. Und: Im Antifeminismus sind antisemitische Haltungen deutlicher zu erkennen als im Geschlechterkonservatismus.

Konturen eines antisemitischen Antifeminismus, eine Minderheitsposition mit hoher Brisanz5

Antifeministisches Denken der Gegenwart geht oftmals mit antisemitischen Haltungen einher. Dass Antifeminismus und Antisemitismus miteinander verschränkt sind, ist in historischer Perspektive keine neue Erkenntnis (hierzustellvertretend Planert 1998; Stögner 2014), jedoch ist zu fragen, ob manifester Antifeminismus nicht per se antisemitisch ist, also als antisemitischer Antifeminismus zu lesen ist. Antifeminismus und Antisemitismus weisen strukturelle Affinitäten auf (Stögner 2014, 13): Antisemitismus ist kein Ressentiment, Vorurteil oder eine Variante Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, sondern „eine Verbindung aus Weltanschauung und Leidenschaft, eine grundlegende Haltung zu Welt, mit der sich diejenigen, die ihn als Weltbild teilen, alles in der Politik und Gesellschaft, das sie nicht erklären und verstehen können oder wollen, zu begreifen versuchen“ (Salzborn und Kurth 2020, 13). Im Unterschied zum vormodernen Antijudaismus zeichnet sich der moderne Antisemitismus dadurch aus, dass er in Umkehrung aufklärerischen Denkens:

„die Unfähigkeit und Unwilligkeit ist, abstrakt zu denken und konkret zu fühlen. Der Antisemitismus vertauscht beides, das Denken soll konkret, das Fühlen aber abstrakt sein, wobei die nicht ertragene Ambivalenz der Moderne auf das projiziert wird, was der/die Antisemit/in für jüdisch hält (…). Auf der weltanschaulichen Ebene ist Antisemitismus (…) eine dezisionistische Haltung zur Welt, eine radikale bewusste wie unbewusste Entscheidung für den kognitiven und emotionalen Glauben an den Manichäismus der antisemitischen Phantasie“ (Salzborn 2020, 23, 200, Hervorh. i. O.).

Manifester Antifeminismus ist ebenfalls nicht als Ressentiment, Vorurteil oder Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit zu beschreiben, sondern gleichfalls als weltanschauliche Haltung zu gesellschaftlichen Verhältnissen und deren Veränderungen. Auch im Antifeminismus ist das Denken konkret, aber das Fühlen abstrakt. Ein Beispiel bietet ein Akteur, der nicht der radikalen oder extremen Rechten zugeordnet werden kann, sondern eher christlich-konservativ oder -fundamentalistisch orientiert ist: das Forum Deutscher Katholiken e. V. Die Organisation, getragen u. a. von emeritierten Professoren, Priestern und Pfarrern, verfasste 2009 anlässlich einer Podiumsveranstaltung zum Thema „Islam – Herausforderung – Chancen – Gefahren?“ eine Resolution, in der es heißt:

„Nicht die Stärke des Islam ist die gefährlichste Bedrohung Europas, sondern die systematische Verdrängung des christlichen Glaubens aus der Politik und dem öffentlichen Leben, die zu einer geistigen Immunschwäche Europas führt. Im Kampf gegen die ‚Kultur des Todes‘ (internationale Geburtenkontrolle, Abtreibung, Gender-Ideologie) sind die Muslime unsere natürlichen Verbündeten. So müssen sich Christen und Muslime gemeinsam den zahlreichen Herausforderungen stellen, die eine gottferne Zeit uns aufgibt.“ (Hervorh. U. B.).

In dieser Resolution und diesem Zitat tritt die „doppelte Feindschaft“ im Sinn der Kampfschrift „Theorie des Partisanen“ von Carl Schmitt (1963) zu Tage, in der eine Unterscheidung zwischen relativer/vordergründiger und wirklicher/absoluter Feindschaft vorgenommen wird (Schmitt 1963, 56, 63, 87ff., 96; hierzu auch Weiß 2017, 212ff.). ‚Der‘ Islam ist in der Resolution der relative, vordergründige Feind, der zwar durch Einwanderung von Muslim*innen eine Bedrohung darstellt, mit denen es sich aber im Kampf gegen die „Kultur des Todes“, im manichäistischen Denken von Gut und Böse zu verbünden gilt. Diese „Kultur des Todes“ findet ihren Ausdruck in einer vermeintlich „internationale(n) Geburtenkontrolle, Abtreibung, Gender-Ideologie“. Hier ist der wirkliche Feind zu finden, der im Sinn Carl Schmitts zu einem absoluten wird: der Feminismus, der verschwörungsideologisch und damit antisemitisch geframt wird, indem unterstellt wird, er sei auf dem Weg, europäische Kultur und Gesellschaften etwa über „internationale Geburtenkontrolle“ und „Gender-Ideologie“ zu zerstören. Manifester Antifeminismus präsentiert sich hier beispielhaft nicht nur als mit dem Antisemitismus verschränkt, sondern in seiner Struktur als abstrakte Projektionsfläche für modernisierungsbedingte Bedrohungen als antisemitisch.

Im antifeministischen und antisemitischen Denken werden ‚natürliche‘ oder ‚göttliche‘ Ordnungen durch Feminismen und das abstrakt gedachte Judentum infrage gestellt. Das vermeintlich ‚Jüdische‘ steht für Entgrenzung von ‚Weiblichkeit‘, für „Nicht- oder Anti-Identität“ bezogen auf Geschlechtsidentität und bedroht dadurch ethnisch, völkisch und/oder religiös gedachte Kulturen in ihrer Existenz:

„Diese Gemeinsamkeit zwischen den antisemitischen und antifeministischen Stereotypen, dass weder Jüdinnen und Juden noch Feministinnen eine fremde Identität repräsentieren, die doch denselben Konstruktionsregeln folgen würde, sondern die Anti-Identität, ist Grund dafür, warum der Antisemitismus, wenn auch verdeckt, so doch strukturell in den Anti-Gender-Diskurs hineinragt. Das macht sich in der Ähnlichkeit der Stereotypen bemerkbar.“ (Stögner 2019, 31)

In Einstellungserhebungen werden die Verschränkungen von Antifeminismus, Antisemitismus und Rassismus auch empirisch sichtbar und untermauern sowohl den Ansatz von Karin Stögner (2014), Antisemitismus intersektional zu betrachten, als auch das Argument, manifesten Antifeminismus als antisemitischen Antifeminismus zu verstehen – so in der Leipziger Autoritarismus Studie (LAS) 2022. Hiernach vertreten in der Repräsentativerhebung ein Drittel der befragten Männer und knapp ein Fünftel der befragen Frauen manifeste antifeministische Einstellungen. Es sind vor allem ältere Jahrgänge und Befragte mit geringerer Bildung. Eine ähnliche Verteilung zeigt sich bei geschlechterkonservativem Denken, das über eine ‚Sexismus‘-Skala gemessen wird. Mit insgesamt 25 % vertritt nur eine Minderheit der Befragten ein manifestes antifeministisches und 27 % ein geschlechterkonservatives Denken (Überschneidungen in den Einstellungspotenzialen sind anzunehmen, aber in der LAS nicht ausgewiesen). Jedoch korrelieren manifeste antifeministische Positionierungen mit einem traditionellen, im oben definierten Verständnis mit einem modernen Antisemitismus sowie mit Homophobie statistisch signifikant auf einem hohen Niveau (Kalkstein et al. 2022, 254f.). Dass ein solcher manifester, antisemitischer und autoritärer, auch regressiver Antifeminismus auf der Einstellungsebene empirisch nur eine, wenn auch relativ große Minderheitsposition repräsentiert, mindert nicht seine gesellschaftliche und politische Brisanz. Hierin spiegeln sich Transformationsprozesse im Übergang zu einer flexibilisierten Geschlechterordnung mit ihren kulturellen Verwerfungen in einer bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, die aus kritischer polit-ökonomischer Perspektive als Krise, als Bedrohung wahrgenommen werden (Stögner 2019, 19ff.; Henninger et al. 2020) und für antidemokratische Akteur*innen Mobilisierungspotenzial bis in konservativ orientierte soziale Milieus verschiedener Klassenlagen bereithält.

Fazit

Anders als in der historischen Epoche von Hedwig Dohm, in der es grundlegend um universale Frauen- und Bürgerinnenrechte wie das Wahlrecht ging, ist gegenwärtig eher von einer schleichenden strukturellen Flexibilisierung und zunehmenden kulturellen Liberalität in den Geschlechterordnungen auszugehen. Es ist also eine seit den 1980er-Jahren zu beobachtende „Silent Revolution“, wie sie Inglehart und Norris beschreiben, die jedoch erst in den letzten rund 20 Jahren an Konflikthaftigkeit – auch in der medialen Öffentlichkeit – gewonnen hat (hierzu Beck 2020)6. Dabei werden bisher in dieser Transformation der Geschlechterordnungen jedoch die Geschlechterverhältnisse als Macht- und Herrschaftsverhältnisse noch nicht einmal in ihrer androzentrischen Grundstruktur infrage gestellt (hierzu Lenz 2018). Diese Gleichzeitigkeit von Transformation und Beharrung stützt vielmehr einen progressiven Neoliberalismus (Fraser 2017), für den diese androzentrische Grundstruktur in den Geschlechterverhältnissen konstitutiv ist. Geschlechterkonservative und antifeministische Weltanschauungen sind somit nicht allein eine Gegenbewegung gegen die „Silent Revolution“ in den Wertehaltungen gegenüber Frauenrechten, unterschiedlichen sexuellen Orientierungen und Lebensformen, sondern gleichfalls eine regressive (neoliberale) Gegenbewegung zum progressiven Neoliberalismus (Birsl 2018). Die Brisanz an antifeministischen Haltungen liegt in deren antisemitischen Grundierung, in der auch der völkisch begründete Antisemitismus wieder hervortritt.

 

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   Der Beitrag stützt sich auf Diskussionen im Projektteam und Beirat des Projektes „Krise der Geschlechterverhältnisse? Anti-Feminismus als Krisenphänomen mit gesellschaftsspaltendem Potenzial (Akronym: REVERS)“, das von 2017 bis 2020 vom BMBF gefördert wurde und führt diese weiter (Birsl 2020).

2     Genau genommen müsste von Wahlerfolgen regressiv-neoliberal orientierter Akteur*innen gesprochen werden, wie es u. a. bei der Republikanischen Partei und ihren Präsidentschaftskandidaten in den USA, den Tories in U.K., der FPÖ in Österreich, den gegenwärtigen Regierungsparteien in Italien, in Ungarn oder bei Teilen der AfD der Fall ist (zum regressiven Neoliberalismus: Birsl 2018).

3    Vgl. zur Bedeutung von regressiven Geschlechterpolitiken im autoritären Transformationsprozess in Ungarn Perintfalvi 2020.

4     Grebing definierte in ihrem Aufsatz „Positionen des Konservatismus in der Bundesrepublik“ den Konservatismus als Phänomen der bürgerlichen Gesellschaft und als politische Bestrebungen im jeweils historischen Prozess, sich gegen Dynamiken der Demokratisierung von Herrschaftsverhältnissen und von Emanzipation zustellen. Konservatismus ist hiernach eine immanente Gegenbewegung zu Prozessen der Demokratisierung, aber nicht per se antidemokratisch – kann dies aber auch sein (1971, 33).

5     Passagen dieses Kapitels sind aus Birsl 2020 entnommen, überarbeitet sowie aktualisiert.

6     Auf der Ebene der UN lassen sich antifeministische Bestrebungen bereits seit der 4. Weltfrauenkonferenz 1995 in Peking beobachten, bei der es um ein Konzept und die Ziele ging, der Gleichstellung der Geschlechter zu fördern und Frauen und Mädchen zu stärken (hierzu Cupać und Ebetürk 2020).

 


Ursula Birsl, Prof. Dr., ist Professorin für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Demokratieforschung sowie Mitglied des Zentrums für Gender Studies und feministische Zukunftsforschung an der Philipps-Universität Marburg.


 

Literaturverzeichnis

 

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Primärquelle

 

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