Die Verhaftung zweier Ärzt*innen 1931
In der Nacht vom 19. auf den 20. Februar 1931 erschien die Stuttgarter Polizei vor Friedrich Wolfs Wohnung und nahm den bekannten Dramatiker, Arzt und Kommunisten fest. Am Tag darauf ereilte der sozialpolitisch engagierten Ärztin Else Kienle dasselbe Schicksal. Beide waren dafür bekannt, sich öffentlich für das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche und den freien Zugang zu Verhütungsmitteln einzusetzen (BVZ 21.02.1931a). Grund für die Verhaftung war der Vorwurf, dass Wolf schwangere Frauen, die eine Abtreibung erbaten, mit einem Zeugnis der medizinischen Notwendigkeit des Schwangerschaftsabbruchs an Kienle überwies. Seit der Reichsgerichtsentscheidung von 1927 war es zumindest straffrei, einen Abbruch nach medizinischer Indikation durchzuführen. Der Vorwurf gegen die beiden lautete weiter, dass sie durch dieses Vorgehen finanziell profitiert und somit entgegen dem geltenden Abtreibungsgesetz „gewerbsmäßig“ Abtreibungen durchgeführt hätten (RF 22.02.31, 1).
Die Verhaftung der beiden Mediziner*innen führte auf der einen Seite zu Solidaritätsaktionen für ihre baldige Freilassung. Auf der anderen Seite brach eine enorme Pressefehde los: Kienle und Wolf wurden als „jüdische Geschäftemacher reinsten Wassers“ (DF 15.04.1931) bezeichnet, die „Verbrechen gegen das keimende Leben“ (DF 15.04.1931) begehen würden.
Intersektionalität von Ideologien
Daran anschließend stellt sich die Frage, ob diese Diffamierungen als ein Zusammenspiel von Antisemitismus und Antifeminismus verstanden werden können. Die Zusammenhänge zwischen Antifeminismus und Antisemitismus wurden, laut Shulamit Volkov, im ausgehenden 19. Jahrhundert sowohl ideologisch als auch organisatorisch begründet. Sowohl bei Frauen als auch bei Jüdinnen*Juden wurde nach den wesentlichen Unterschieden zum Mann bzw. zum Deutschen gesucht:
„Frauen und Juden wurden als minderwertige und gefährliche Elemente betrachtet, als Feinde der menschlichen Kultur, als Störenfriede der bestehenden Ordnung. […] ‚Freiheit im Gelderwerb‘ auf der jüdischen und ‚Freiheit im Geschlechtsleben‘ auf der Seite der Frauen.“ (Volkov 2001, 75)
Ohne es als solche benennen zu können, erkannte schon 1906 die Frauenrechtlerin Minna Cauer die Verbindungen von Antifeminismus und Antisemitismus. Sie beschwerte sich in den Mitteilungen des „Vereins zur Abwehr des Antisemitismus“ darüber, dass führende Vertreterinnen der Frauenbewegung als Jüdinnen verunglimpft wurden:
„Damit die ganze Bewegung diskreditiert werden sollte, erfand man die unglaublichen Dinge von diesen ‚Jüdinnen‘, von denen nichts anderes zu erwarten sei als Sittenlosigkeit, Frechheit, wüstes Geschrei usw.“ (Cauer 1906, 135)
Anhand dieses Zitats wird deutlich, dass die Frauenbewegung schon zu Anfangszeiten als verschwörerische Erfindung „der Juden“ diskreditiert wurde. Auf der Ebene der Ideologie gibt es strukturelle und diskursive Überschneidungen zwischen Antisemitismus und Antifeminismus (Stögner 2019, 15). Anhand des Konzepts der Intersektionalität von Ideologien der Soziologin Karin Stögner ist es möglich, Antifeminismus und Antisemitismus „nicht als voneinander abgegrenzte Phänomene, sondern gerade in ihrer Überkreuzung zu untersuchen“ (Stögner 2017, 25). So kann man herausarbeiten, wie das eine im anderen fortwirkt. Weder Antisemitismus noch Antifeminismus sagen dabei etwas über reale Jüdinnen*Juden oder Frauen aus – umso mehr über Antisemit*innen und Antifeminist*innen (Stögner 2019, 15).
Antifeminismus und Antisemitismus werden nicht als ein und dasselbe Phänomen betrachtet, sondern es geht darum, die Verschränkungen und Ähnlichkeiten auf struktureller und diskursiver Ebene herauszuarbeiten sowie ideologische und psychologische Dimensionen beider Phänomene zu beleuchten (Stögner 2014, 13). Eine dieser Verschränkungen zeigt sich in Identitätsdiskursen. Antisemit*innen charakterisieren Jüdinnen*Juden als „identitätslose Gestalten“, die die Einheit der „Volksgemeinschaft“ unterminieren würden. Diese Unterminierung der Identität schreiben die Antifeminist*innen ebenso den Feminist*innen zu, die durch ihre Forderungen geschlechtliche Identitäten infrage stellen würden. Hieran zeigt sich die Überschneidung in der Angst vor einem nationalen, kulturellen und geschlechtlichen Identitätsverlust, der durch „Durchmischung“ geschehe (Stögner 2019, 31). Antisemitismus ist dabei nicht als ein bloßes Vorurteil unter vielen, sondern als eine umfassende alternative Weltanschauung, in der sich eine Vielzahl modernitätsfeindlicher Einstellungen vereinen, zu verstehen (Volkov 2000, 18). Antisemitismus als eine Ideologie steht für „ein System von Meinungen, Attitüden und Wertvorstellungen – für eine Denkweise über Mensch und Gesellschaft“ (Adorno 2018, 2). In Abgrenzung zu anderen Ideologien der Ungleichwertigkeit (z. B. Rassismus) funktioniert Antisemitismus nicht entlang binärer Kategorisierungen, sondern bleibt stets widersprüchlich. Beispielsweise werden Jüdinnen*Juden im Antisemitismus sowohl mit dem („Finanz“-)Kapitalismus als auch mit dem Kommunismus identifiziert. Jüdinnen*Juden verkörpern dabei immer ein Extrem, womit ihnen jede Zugehörigkeit zur Mitte verwehrt wird (Stögner 2017, 32).
Weiterhin ist Antisemitismus eine falsche Projektion, d. h. Antisemit*innen projizieren auf „den Juden“ die Anteile ihrer selbst, die sie in der bürgerlichen Gesellschaft unterdrücken müssen: „Regungen, die vom Subjekt als dessen eigene nicht durchgelassen werden und ihm doch eigen sind, werden dem Objekt zugeschrieben: dem prospektiven Opfer.“ (Adorno/Horkheimer 2016, 196). So verweisen die antisemitischen Bilder des „effeminierten“ Juden und der „maskulinisierten“ Jüdin insgeheim auf „ein Jenseits des Geschlechterprinzips, das begehrt, gesellschaftlich aber untersagt und deshalb gehasst und gefürchtet wird“ (Stögner 2019, 30). Um antisemitische Aussagen als solche erkennen zu können, hilft die Erkenntnis, dass Antisemitismus nicht immer offen zutage tritt, sondern durch Chiffren codiert wird, die die Antisemit*innen zu entschlüsseln wissen (Volkov 2000, 33).
Antifeminismus wiederum gibt es seit Anbeginn des Feminismus. In den 1880er-Jahren trat mit den Diskussionen um den Zugang zu höherer Bildung für Frauen im deutschen Kaiserreich erstmals eine bürgerliche Frauenbewegung auf. Analog dazu formierten sich ihre Gegner*innen. Unter dem Vorwand biologischer Differenzen zwischen Männern und Frauen argumentierten sie gegen die Forderungen der Frauenbewegung. Die feministische Theoretikerin Hedwig Dohm (1832–1919) beschrieb 1902 in „Die Antifeministen. Ein Buch der Verteidigung“ das Phänomen und prägte damit diesen Begriff. Antifeminismus ist demzufolge die Ablehnung weiblicher Emanzipationsbestrebungen. Seine Vertreter*innen plädieren für den Rückgriff auf traditionelle Geschlechterrollen.
Im Unterschied zum Sexismus, der jede Weiblichkeit abwertet, bleibt das antifeministische Frauenbild ambivalent. So erfahren Frauen, die ein traditionelles Mutterbild erfüllen, eine Aufwertung. Über ihre Gebärfähigkeit wird ihnen die Verantwortung zur Sicherstellung der nationalen Reproduktion übertragen. Daran wird ersichtlich, dass die Übergänge zu völkischen Vorstellungen der Familie als „Keimzelle des Staates“ fließend sind (Planert 1998, 267). Der Antifeminismus erfüllt ein „fundamentales Bedürfnis nach Ordnungskategorien“ (Planert 1998, 259). Das Festhalten an der Eindeutigkeit der Geschlechter kann dabei als Zufluchtsort vor der sich verändernden Welt verstanden werden. Demzufolge verbirgt sich im Antifeminismus auch eine antimoderne Einstellung.
Antisemitische Berichte über Friedrich Wolf und Else Kienle
Welche antisemitischen Bilder in den Artikeln über die Verhaftung von Else Kienle und Friedrich Wolf 1931 genutzt wurden, möchte ich im Folgenden zeigen.
„Wieder einmal sind jüdische Hände – geschäftig und ungeschickt zugleich – am Werke, der nie verlöschenden Glut des Judenhasses neuen Brennstoff zuzutragen.“ (DNJ 03/1931, 1)
So berichtet Max Naumann in der Zeitschrift „Der Nationaldeutsche Jude“ über die Verhaftung von Else Kienle und Friedrich Wolf. Das spannende an diesem Artikel mit der Überschrift „§ 218 – und die Juden“ ist, dass Naumann einerseits den Antisemitismus, der Wolf und Kienle entgegengekommen ist, verurteilte, sie aber ebenso selbst dafür verantwortlich machte. Naumann war Vorsitzender des „Verbands Nationaldeutscher Juden“, einer kleinen Gruppierung innerhalb des deutschen Judentums, die durch die Abgrenzung von vermeintlich „schlechten Juden“ versuchte, in nationalistischen und antisemitischen Kreisen Anerkennung zu finden. Er stellte antisemitische Vorurteile nicht grundlegend infrage, sondern verstand sie als legitime Kritik an dem Verhalten von Jüdinnen*Juden in Deutschland.
Naumann bemerkte zwar, dass „die unmittelbar Beteiligten [Else Kienle und Friedrich Wolf; Anm. d. Verf.] selbst nicht Juden waren“ (DNJ 03/1931, 1), bescheinigte ihnen aber „Beziehungen zu den erwähnten jüdischen Kreisen“ (DNJ 03/1931, 1). Wolf verkehre über seine Tätigkeit als Dramatiker in jüdischen Kreisen und Kienle – wie sollte es für eine Frau anders sein – über ihr Dasein als „Bankiersgattin“1. Nach Naumanns Auffassung seien es immer „jüdische Intellektuelle“, die bei einem Skandal im Vordergrund stünden. Er bedient damit das antisemitische Bild der jüdischen Intellektuellen, die dem deutschen Geist gegenüberstünden (Nordmann 1995, 255). Weiterhin schrieb Naumann, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis auch der Kampf gegen den § 218 von der Öffentlichkeit als „Judenmache“ angesehen werde. Tatsächlich wurde spätestens in der NS-Propagandaausstellung „Der ewige Jude“ von 1936 jede Bestrebung gegen den § 218 in der Weimarer Republik als von Jüdinnen*Juden initiiert dargestellt (Benz 2011, 116).
In Anbetracht Naumanns nationalistischer Einstellung und seines Anbiederns an antisemitische Bewegungen grenzte seine politische Agenda an Selbstverleugnung. Naumann projizierte die von außen kommenden antisemitischen Bilder auf andere Jüdinnen*Juden, um sich von ihnen abzugrenzen und gleichzeitig in rechten Kreisen Anerkennung zu finden (Hofinger 2017).
Die gefährliche Jüdin
„Sie ist jetzt in den ‚Hungerstreik‘ getreten – Gott, wie grausam sind doch die Gois2 – lassen ein harmloses jüdisches Weib verhungern in der Kerkerzelle usw., man kennt ja die Sprüch [sic]!“ (DF 29./30.03.1931, 5)
Das Zitat stammt aus einem Artikel über Kienles Hungerstreik im Gefängnis aus der badischen NSDAP-Zeitschrift „Der Führer“. In diesem von Ironie und Sarkasmus durchzogenen Text ist auch die Bezeichnung „harmloses jüdisches Weib“ als konträre Aussage zu verstehen. Denn im antisemitischen Wahn ist das „jüdische Weib“ eine Bedrohung – sei es für die Volksgemeinschaft oder für die hegemoniale Stellung des Mannes. Die antisemitischen Bilder der Jüdin reichen von den Vorstellungen des „Mannsweibs“, das die bürgerlichen Geschlechterrollen verkehre, über die sexuell hemmungslose Prostituierte bis hin zum gefährlichen „Flintenweib“ (Jakubowksi 1995, 196). Letztere könne, unberechenbar in ihren Handlungen, jederzeit für das deutsche Volk gefährlich werden. Kienle wird hier zur Stellvertreterin einer imaginierten Bedrohung durch das Judentum im Allgemeinen und der jüdischen Frau im Besonderen (A.G. Gender-Killer 2005, 58).
In einem weiteren Artikel der NSDAP-Zeitung wird Kienles Hungerstreik als „lächerlich“ bezeichnet und ihr wird „hysterisches Gewinsel“ (DF 17.04.1931) unterstellt. Der Vorwurf des „hysterischen Gewinsels“ ist dabei ein besonders eindrückliches Beispiel für die Überschneidungen antisemitischer und antifeministischer Einstellungen. Sowohl im Antisemitismus als auch im Antifeminismus wird die Sprache von Jüdinnen*Juden bzw. Frauen zur „Sprache der Anderen“ (Stögner 2014, 38) deklariert. Beiden wird – im Gegensatz zum Nicht-Juden bzw. Mann – „übertriebene Gestik und Geschwätz“ (Stögner 2014, 38) unterstellt. Sie seien unfähig zur Abstraktion und immer zu emotional in ihren Aussagen (Stögner 2014, 38).
Mit der Bezeichnung von Feministinnen als Hysterikerinnen war es ein Leichtes, Forderungen nach Emanzipation als „wahnsinnig“ abzutun. Das machte sich der Autor des Artikels zunutze und konnte Kienle somit als verrückte oder gar wahnsinnige Jüdin erscheinen lassen.
Kontinuitäten
Die Artikel, die zum Zeitpunkt der Verhaftung der beiden Ärzt*innen in der NSDAP-Zeitung erschienen, haben vorweggegriffen, was ab 1933 Staatsdoktrin wurde. Beispielhaft dafür steht die bereits erwähnte Ausstellung „Der ewige Jude“. Die 1937 veröffentlichte gleichnamige Hetzschrift hat das Engagement von Wolf und Kienle direkt aufgegriffen:
„Schwächung des Wirtsvolkes um jeden Preis, darum also Kampf gegen die Ungeborenen, Kampf gegen den ‚Gebärzwang‘, Kampf für das ungehemmte Sichausleben beider Geschlechter, strafloser Mord am keimenden deutschen Leben – das sind die letzten, uns verhüllten Ziele. Frau Dr. Kienle-Jakubowitz [...] und Dr. Friedrich Wolf [...] zwei schändliche jüdische Verbrecher am deutschen Volkskörper.“ (DeJ 1937, zit. n. Hohmann 1988, 251)
Anhand dieses Zitates zeigen sich erneut die ideologischen Überschneidungen von Antifeminismus und Antisemitismus. Weiterhin wird hier auch die rechte Volkstod-Paranoia deutlich: Der deutsche Volkskörper werde durch den Juden, der als Parasit dargestellt wird, geschwächt. Bei der Aussage, die beiden „jüdischen Verbrecher“ würden das „ungehemmte Sichausleben beider Geschlechter“ fördern, wird deutlich, wie sehr feministische oder auch sexualreformatorische Bestrebungen als von Jüdinnen*Juden gesteuert imaginiert werden. Der Kampf gegen Abtreibungen wurde im Nationalsozialismus somit als Kampf gegen den „Volkstod“ dargestellt.
Antisemitismus der Lebensschutzbewegung
Zum Schluss wird in diesem Beitrag der Antisemitismus der gegenwärtigen „Lebensschutzbewegung“ beleuchtet. Die sogenannte „Lebensschutzbewegung“ umfasst verschiedene politische Gruppierungen, Vereine und Einzelpersonen, die sich gegen Schwangerschaftsabbrüche einsetzen. Die „Lebensschützer*innen“ sind Teil einer antifeministischen Bewegung, die Frauen das Recht auf körperliche Selbstbestimmung abspricht und feministische Errungenschaften, wie die Straffreiheit bei Abtreibungen, revidieren will (Achtelik 2018, 117). Bevor man sich mit den antisemitischen Positionen dieser Bewegung auseinandersetzt, sei vorangestellt, dass sich Antisemitismus nach Auschwitz verändert hat. Insbesondere kam der Schuldabwehr- bzw. sekundäre Antisemitismus dazu. Das heißt, der Holocaust wird wahlweise umgedeutet, geleugnet oder relativiert, um sich der eigenen Schuld zu entledigen (Bergmann 2010, 300).
Daran knüpfen einige Akteur*innen aus der deutschen „Lebensschutzbewegung“ an. Einer davon ist Klaus Günter Annen. Er ist der Betreiber der Internetseite babycaust.de. Auf der Startseite heißt es: „Der Holocaust der Nazis ist der Inbegriff des Grauens im Dritten Reich. Gibt es eine Steigerungsform der grausamen Verbrechen?“ (babycaust.de o. J.) Annen beantwortet das gleich selbst mit „Ja, es gibt sie“ (babycaust.de o. J.) und meint damit Schwangerschaftsabbrüche, die er als „Massenmord an unseren ungeborenen Kindern“ (babycaust.de o. J.) bezeichnet. Weiterhin wirft er allen, die der Shoah gedenken, Heuchelei vor, weil sie nicht den „toten Kindern“ gedenken. Abtreibungen seien ein Massenmord an Unschuldigen: „Im Vergleich der Opferzahlen des Holocaust mit den Opferzahlen des Babycaust waren die ‚Damals‘ in den ‚Anfängen‘!“ (babycaust.de o. J.) Indem Annen Schwangerschaftsabbrüche als „Steigerungsform“ des Holocausts ansieht, relativiert er die Shoah. Weiterhin stellt die Abänderung des Wortes Holocaust zu „Babycaust“ die Singularität der Shoah infrage. Der Begriff „Babycaust“ kommt aus der US-amerikanischen „Lebensschutzbewegung“, etabliert sich aber mehr und mehr in Deutschland. Auch beim jährlich stattfindenden „Marsch für das Leben“ war die letzten beiden Jahre ein Demonstrationsteilnehmer dabei, dessen T-Shirt die Aufschrift „Stoppt den Babycaust“ trug (Opitz 2022).
Doch das bleiben nicht die einzigen Vergleiche zur Shoah. Im bayrischen Dorf Pösing hat 2009 ein katholischer Abtreibungsgegner eigens eine Kapelle zum „Gedenken an die ermordeten Kinder“ errichtet. Dort werden Abtreibungen als „größter Völkermord in der Geschichte der Menschheit“ bezeichnet und Vergleiche zum Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz gezogen. Auf der Website der Kapelle heißt es: „Warum dürfen in Deutschland Kinder in Krankenhäusern und Abtreibungskliniken ‚vergast‘ werden?“ (FranzGraf-Kapelle.de o. J.)
Diese Relativierungen der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen sind ein kalkulierter Tabubruch, erregen Aufmerksamkeit und zeugen von den antisemitischen Einstellungen der „Lebensschützer*innen“. Den Opfern der Shoah wird jegliche Empathie verwehrt und die Singularität der Shoah infrage gestellt (Mendel zit. n. Berendsen 2020, 2). Mit dieser Relativierung geht auch eine Abwehr der eigenen Schuld einher. Die Shoah als einen Massenmord von vielen zu verstehen, erleichtert das eigene Gewissen. Die Gleichsetzungen und Verharmlosungen der „Lebenschützer*innen“ reihen sich ein in eine Vielzahl von Vergleichen und Relativierungen, die dazu dienen, sich von den nationalsozialistischen Verbrechen zu entlasten. Gerade auch in Anbetracht der Rolle der Katholischen Kirche während des Nationalsozialismus sind diese relativierenden Aussagen als eine Form antisemitischer Schuldabwehr zu verstehen (Goldhagen 2002, 62). Weiterhin zeigt sich der Antisemitismus der Abtreibungsgegner*innen in ihren verschwörungsideologischen Aussagen. So ist u. a. auf der Website der „Aktion Lebensrecht für Alle (ALfA) e. V.“ von einer „internationalen Abtreibungslobby“ (ALfA e. V. 2022) die Rede, die mächtig im Hintergrund gegen die Lebensschutzbewegung agiere.
In der 2022 erschienen Broschüre „Hätt‘ Maria abgetrieben. Christlicher Fundamentalismus, vermeintlicher Lebensschutz und ihre Verstrickungen“ hat sich ein Leipziger Recherchekollektiv mit den Aussagen des Vorsitzenden des „Vereins Ärzte für das Leben“ Prof. Dr. Paul Cullen auseinandergesetzt (o.A. 2022, 16 f.). Dieser hat 2015 beim Marsch für das Leben eine Rede mit dem Titel „Quo vadis, Lebensschutz?“ gehalten, die im Nachgang auf kath.net veröffentlicht wurde. Darin sinniert Cullen von einer „Gleichschaltung des öffentlichen Diskurses“. Er ruft seine Gleichgesinnten dazu auf, nicht politisch zu kämpfen, sondern Kulturkampf zu betreiben. Er spricht von „Mächtigen“, deren Ziel es sei, den Menschen radikal zu isolieren. Ihm sollen seine familiären, nationalen, kulturellen und bildungsabhängigen, seine religiösen Bindungen, ja selbst seine geschlechtliche Identität entrissen werden (Cullen 2015). Die Auflösung von Identitäten als Überschneidung antisemitischer und antifeministischer Einstellungen habe ich bereits eingangs erwähnt. Cullens Aussagen spiegeln genau das wider. Wen er als diese Mächtigen ansieht, expliziert er an anderer Stelle:
„Unsere Gegner haben also das gesamte polit-mediale Establishment, fast die gesamte Unterhaltungsindustrie und die Dinosaurier-Medien auf ihrer Seite. Dazu noch große Teile der Wirtschaft, mächtige Finanzinteressen wie die Soros-Stiftung, Chuck Feeney‘s Atlantic Philanthropies, die Bill und Melinda Gates-Stiftung, große Teile der Kirchen und nicht zuletzt das Bildungssystem, insbesondere die Universitäten. Die Abtreibungs- und Euthanasie-Lobby wird von mächtigen Finanzinteressen unterstützt. Der Spekulant und Strippenzieher Georg Soros gilt als einer der reichsten Männer der Welt.“ (Cullen 2015)
Der Name des Investors und Philanthropen Georg Soros fällt immer wieder in Verschwörungskontexten und zeigt, wie Antisemitismus über Chiffren und Codes funktioniert. An dieser Stelle muss nicht mehr offen gesagt werden, dass die Jüdinnen*Juden als Strippenzieher hinter der Abtreibungslobby stünden, sondern es reicht, einen jüdischen Namen zu nennen.
Diese Beispiele zeigen, wie eng Antisemitismus und Antifeminismus miteinander verwoben sind und dass antifeministische Akteur*innen antisemitische Narrative nutzen, um ihre Argumente zu stützen. Für Feminist*innen bedeutet das, den Blick für verschiedene Ideologien der Ungleichwertigkeit zu schärfen und den Antisemitismus der Abtreibungsgegner*innen konsequent zu benennen. Antiemanzipatorischen Bestrebungen Einhalt zu gebieten, kann nur gelingen, wenn ein Verständnis für das Ineinanderwirken verschiedener Ideologien der Ungleichwertigkeit geschaffen wird.
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1 Tatsächlich war Friedrich Wolf Jude. Else Kienle war keine Jüdin, trug aber zeitweise den Nachnamen ihres jüdischen Ehemanns Stefan Jacobowitz. Das führte dazu, dass sie immer wieder als Jüdin wahrgenommen u. angefeindet wurde.
2 Goi ist ein jiddisches Wort, das nicht jüdische Menschen bezeichnet. Der korrekte Plural wäre Goim und nicht „Gois“.
Paula Kreutzmann ist Studentin im Masterstudiengang Kulturwissenschaften. Ihren Bachelor schloss sie in Kulturwissenschaft und Gender Studies an der Humboldt-Universität zu Berlin ab. Paula Kreutzmanns Bachelorarbeit zu „Antisemitismus und Antifeminismus in Debatten um Schwangerschaftsabbrüche“ erhielt den Matthias-Erzberger-Preis 2022 des Weimarer Republik e. V. und der Forschungsstelle Weimarer Republik.
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