Männlichkeit, Gewalt und Misogynie

Empfohlene Zitierung:

Pannemann, Malte (2023). Männlichkeit, Gewalt und Misogynie. In: Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (Hg.). Wissen schafft Demokratie. Schwerpunkt Antifeminismus & Hasskriminalität, Band 13, Online-Ausgabe. Jena, 74–85.

Schlagwörter:

Kritische Männlichkeit, Gewalt, Misogynie, Menschenverachtung, extreme Rechte, Prävention

 


Der folgende Text basiert auf Ausschnitten aus der Masterarbeit „Männlichkeit, Gewalt und Menschenverachtung – Zusammenhänge und Einflussfaktoren“ von Malte Pannemann und befasst sich mit der Frage, wie Gewalthandlungen und Misogynie mit Männlichkeit zusammenhängen. Die theoretische Untersuchung erfolgt unter Bezug auf die Soziologin Raewyn Connell und ihr Hauptwerk „Der gemachte Mann“ sowie auf den Sozialphilosophen Pierre Bourdieu und seine Analyse über „Die männliche Herrschaft“. Zur Veranschaulichung werden Erfahrungen aus der pädagogischen Praxis des Autors verwendet.


Rechtsextremismusprävention braucht kritische Männlichkeitsforschung

Heitmeyer zufolge sind extrem rechte Ideologien bei Männern und FLINTA* ähnlich weit verbreitet. Gewalttäter*innen sind aber zumeist männlich (Heitmeyer 2002, 517). Tatsächlich sind die Mitglieder rechtsradikaler Parteien und Vereinigungen zu etwa 70 % bis 80 % Männer. In Kamerad*innenschaften wird der Anteil auf 90 % geschätzt. Bei den registrierten Straftaten sind ebenfalls 90 % der Täter*innen Männer (Hechler 2012, 83).

Pädagogische Präventions- und Interventionsarbeit sollte daher verstehen, warum Männer sich trotz gleicher ideologischer Voraussetzungen anders verhalten als FLINTA*1, um erfolgreich wirken zu können. Auch verlangt der Umgang mit Homophobie und Sexismus, als Teilaspekte des Syndroms der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit (GMF), eine theoretische Fundierung des verborgenen sozialen Sinns dieser Ausprägungen der Diskriminierung für eine bessere Bearbeitung dieser Haltungen und Handlungen.
Im Folgenden wird zunächst auf die unterschiedlichen Vorstellungen von Gewalt eingegangen, bevor die Herstellung von Männlichkeit, samt deren Auswirkung auf das Geschlechterverhältnis, untersucht wird. Im Weiteren wird die Gewaltbeziehung von Männern untereinander beleuchtet und abschließend werden mögliche Auswege aufgezeigt.

 

Was Gewalt ist

Andere Sprachen haben unterschiedliche Worte für persönlich ausgeübte Gewalt violentia und legitime institutionelle Gewalt potestas (Imbusch 2002, 29). Der Begriff Gewalt kann in der deutschen Sprache ganz verschiedene Bedeutungen haben. Als individuelle Gewalt gilt ein Zwang, dem die Legitimität abgesprochen wird (Bauman 2000, 29). Die Vorstellungen darüber, was legitim ist und was nicht, können aber weit auseinandergehen. Bei den intensivpädagogischen Einzeltrainings von Distanz e. V. zeigt sich regelmäßig, dass Gewalttäter*innen ihr Handeln oft als legitim ansehen und dafür verschiedenste Neutralisierungstechniken nutzen. Das sind Strategien, um sich für eine Tat zu rechtfertigen und Verantwortung, Schuld und Scham von sich zu weisen. Viele unserer Klient*innen verweisen darauf, dass sie sich provoziert gefühlt hätten oder irrtümlich glaubten, in Notwehr gehandelt zu haben. Menschen und Gruppen innerhalb einer Gesellschaft können eigene Normen ausprägen, die den Normen der Gesamtgesellschaft und ihren Gesetzen widersprechen. Während die Täter*innen sich an den Normen ihrer eigenen Gruppe oder ihres Milieus orientieren und ihren Ruf verteidigen, wird dasselbe Verhalten von Außenstehenden als kriminell wahrgenommen (Elwert 2002, 361). Die Erfahrung einer gewaltvollen und autoritären Erziehung steigert das Risiko für eigene Gewalttaten.

 

Herstellung von Männlichkeit

Wenn Männlichkeit einfach gegeben wäre, müsste man nicht zwischen ‚Mann-Sein‘ und ‚Männlich-Sein‘ unterscheiden. Männlichkeit herzustellen ist ein sozialer Prozess und die Analyse dieses Vorgangs fällt daher in den Zuständigkeitsbereich der Sozialwissenschaften und nicht etwa der Biologie (Connell 2015, 124). Es gibt auch nicht die eine, sondern verschiedene Formen von Männlichkeit, die sich in ihrem Handeln unterscheiden lassen. Auf ihre Entstehung haben die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ebenso Einfluss wie die persönlichen Entscheidungen der Subjekte. Weder ist eine bestimmte Form von Männlichkeit festgelegt noch besteht vollkommene Wahlfreiheit. Wechselnde Produktionsverhältnisse erfordern an verschiedenen Orten zu anderen Zeiten unterschiedliche Formen von Männlichkeit. Modernisierungsprozesse können dementsprechend zu Verwerfungen führen und gesellschaftliche Konflikte offenbaren (Connell 2015, 91 und 139f). Beispielsweise wurde im Fordismus das Modell der Kleinfamilie propagiert, mit einer (in Teilzeit) arbeitenden Hausfrau, welche zuständig war für die Reproduktion der Arbeitskraft. Schwule Lebensformen standen im Konflikt dazu und wurden massiv unterdrückt (Connell 2015, 259). Heute hingegen gilt dem Kultursoziologen Andreas Reckwitz zufolge die Offenheit gegenüber Homosexualität als wichtiger Standortfaktor im Wettbewerb um die lockere akademische Mittelschicht (Hansen 2015). Connell (2015, 77f.) illustriert, dass diese Prozesse aktiv politisch mitgestaltet werden. Es wird also eine Männlichkeitspolitik betrieben. Ein bestimmtes Bild davon, was männlich ist und was nicht, wie beispielsweise ein moderner Mann zu sein hat und welche Eigenschaften, Tätigkeiten und Ansichten ihn auszeichnen sollten, wird Connell zufolge ständig neu gezeichnet und über die Medien und die Erziehung transportiert. Es findet also immerwährend eine geschlechterspezifische Erziehung statt, die auf bestimmte Rollenvorstellungen abzielt. Vermittelt wird diese Erziehung nicht nur durch die Pädagogik, sondern auch über Kunst und Kultur, wie Action-Filme, Gangster-Rap und Superhelden-Comics.

Connell (2015, 135f.) folgend sind die Geschlechterverhältnisse dynamisch, weil das soziale Geschlecht sowohl ein Produkt als auch ein Produzent von Geschichte ist, da der Mensch seine Umwelt selbst verändert und damit auch seine eigenen Entwicklungsbedingungen. Diese veränderten Entwicklungsbedingungen wirken demnach auf den Menschen zurück und verändern ihn selbst. Als Beispiel nennt Connell (2015, 135f.) die öffentliche Geschlechter- und Sexualpolitik. Hier ist unmittelbar einsichtig, dass diese Politik von den Menschen selbst gemacht ist und zugleich auch wieder auf die Menschen einwirkt. Connell (2015, 120, 127, 215) zeigt des Weiteren auf, dass die Herstellung von Männlichkeit Abgrenzung von allem verlangt, was als ‚unmännlich‘ identifiziert wird. Die Unterscheidung wird demzufolge auch mit einer Hierarchie verbunden: Männer und FLINTA* werden nicht nur voneinander unterschieden, sondern FLINTA* auch als minderwertig angesehen und so behandelt.

 

Verknüpfung von Männlichkeit und Machtanspruch

Zur normalen und alltäglichen Herstellung und Aufrechterhaltung von Männlichkeit gehört also nicht nur die Abgrenzung von FLINTA*, sondern auch die Abwertung von FLINTA*. Ergänzend macht Bourdieu (2016, 33f.) darauf aufmerksam, dass Männer FLINTA* bei erotischen Beziehungen eher als Objekte denn als Menschen betrachten. Setzten wir die Ausführungen von Connell und Bourdieu ins Verhältnis zu dem Syndrom der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit, wird ersichtlich, dass Sexismus oder Misogynie als GMF-Aspekte Teil der männlichen Sozialisation sind. Hinzu kommt die Abwertung von homosexuellen Männern. Was in der Antike als akzeptable Vorliebe galt, wurde mit der zunehmenden Etablierung der monogamen Ehe in der Kleinfamilie zu einer verachteten Grenzüberschreitung. Kritisiert wird dabei nicht nur die Homosexualität an sich, sondern auch die unterstellte Promiskuität und Pädosexualität, die den Gegenpol zur moralisch aufgeladenen monogamen Ehe darstellt.

Bourdieus (2016, 10, 116, 171) Annahmen über die Ökonomie der symbolischen Güter entsprechend ist das Ringen um Ehre ein weiteres zentrales Moment im Sozialverhalten von Männern. Jungen werden teils bewusst, teils unbewusst regelrecht dazu erzogen, in eine herrschende Rolle hineinzuwachsen. Connell (2015, 129–135) unterscheidet zudem nicht nur zwischen männlich und weiblich, sondern auch zwischen verschiedenen Varianten von Männlichkeit. Leitmotiv ist in Connells (2015, 130f) Modell die hegemoniale Männlichkeit, die sich stetig verändert und immer jene Form von Männlichkeit ist, die im Stande ist, die hierarchische Unterscheidung zwischen Männern und FLINTA* fortzuschreiben und daher stets mit Machtkämpfen verbunden ist. Andere Männlichkeiten werden in diesen zu Gegnern, die bekriegt oder beispielsweise rassistisch oder/und homosexuellenfeindlich unterdrückt werden. Wir ergänzen, dass FLINTA* unterdessen im Duktus von Pick-up-Artists2 Objekte sind, die es zu erobern gilt, während ihnen im Verständnis der Incel-Szene3 ein vermeintliches Recht auf Geschlechtsverkehr abverlangt wird.

FLINTA* sind in unserer Gesellschaft weniger frei und werden stärker ausgebeutet. Beispielsweise werden FLINTA* für dieselbe Arbeit weniger bezahlt als Männer. Typische Frauen*berufe werden generell schlechter entlohnt.4 FLINTA* machen mehr unbezahlte Hausarbeit (DIW 2019) und sind in den Spitzenpositionen von Politik, Wirtschaft und Wissenschaft unterrepräsentiert (Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina 2022). Des Weiteren haben FLINTA* ein erheblich höheres Risiko, Opfer von (sexualisierter) Gewalt zu werden (lpd Ba-Wü 2022). Dieser Zustand lässt sich Connell zufolge (2015, 137) nicht allein mit Erziehung, Überzeugung und Anreizen aufrechterhalten, sondern bedarf als Ultima Ratio auch männlicher Unterdrückung und Gewalt.

 

Geschlechterverhältnisse sind Gewaltverhältnisse

Connell (2015, 133, 136) hebt hervor, dass Männer von einer patriarchalen Dividende profitieren, weil sie derzeit die politische und wirtschaftliche Macht ausüben. Deshalb ist Geschlechterpolitik keinesfalls nur eine Frage von Identität und Privatleben, sondern auch eine der sozialen Gerechtigkeit. Männlichkeit ist laut Connell (2015, 137) eng mit gewalttätigem Handeln verknüpft, denn das Ausmaß sozialer Ungleichheit lässt sich nur aufrechterhalten, indem Männer auf zweierlei Weise ihr Macht- und Gewaltmonopol für sich beanspruchen: Zum einen sind Männer tatsächlich häufiger bewaffnet und gewalttätig als FLINTA*, und zum anderen wird FLINTA* zugeschrieben, sie seien abhängig und ängstlich, wodurch sie in eine passive Opferrolle hineingedrängt werden. Die Gewalt von Männern wiederum spielt sich, so Connell weiter (2015, 137f), auf zwei Ebenen ab. Erstens setzen Männer Gewalt in verschiedenen Formen (einschüchtern, anschreien, vergewaltigen, schlagen, ermorden) gegen FLINTA* ein, um ihre Dominanz abzusichern. Es handeln bei Weitem nicht alle Männer so, doch jene, die so handeln, tun dies in dem sicheren Gefühl, sie würden das Richtige tun und ihre Gewalt sei, wenn schon nicht legal, so doch zumindest legitim. Zweitens finden viele gewalttätige Handlungen unter Männern statt, beispielsweise um Rangkämpfe untereinander auszuführen oder die Unterdrückung von homosexuellen Männern aufrechtzuerhalten (Connell 2015, 137f.). Gewalt ist demnach nicht die Ausnahme oder die Abweichung, sondern ein erwartbarer und fester Bestandteil eines Geschlechtersystems der Konkurrenz unter Männern und der sozialen Ungleichheit zwischen Männern und FLINTA*.

Connell (2015, 130) beschreibt an Gramsci angelehnt, dass eine hegemoniale Herrschaft sich dadurch auszeichnet, dass sie in der Regel allgemein als legitim anerkannt wird und die Beherrschten diese mindestens passiv erdulden oder gar selbst stützen, sodass diese meist ohne offenen Zwang und Gewalt auskommt. Gewalt bleibt aber stets eine drohende Option für den Fall von abweichenden Verhaltensweisen und ist so immer ein Teil der Herrschaft. Ihr offener Ausbruch ist Connell (2015, 138) zufolge eine Krisenerscheinung. Gewalt unter Männern ist demzufolge also ein Infragestellen der bestehenden sozialen Rang- und Hackordnung. Die Gewalt gegenüber FLINTA* ist eine Reaktion auf eine Infragestellung der bestehenden Geschlechterverhältnisse.

Laut Connell (2015, 139) gibt es eine Krise der Geschlechterverhältnisse auf der Ebene der Machtbeziehungen wegen des Auftretens des Feminismus. Hinzu kommt demnach eine Krise auf der Ebene der Produktionsbeziehungen wegen der zunehmenden Frauen*erwerbsarbeit und der strukturellen Arbeitslosigkeit. In Kombination geht damit eine Bastion der Herstellung, Inszenierung und Absicherung von Männlichkeit verloren. Schließlich gibt es Connell (2015, 140) folgend noch eine Krise auf der Ebene der emotionalen Bindung – erstens wegen des offenen Auftretens der Schwulenbewegung und zweitens wegen des zunehmenden Selbstbewusstseins von FLINTA* in Fragen der Sexualität. In Anbetracht dieser multiplen Krise der Geschlechterverhältnisse erwartet Connell (2015, 140) einen enormen Umwälzungsprozess: Es verändert sich nicht nur das Bild von Männern und FLINTA*, sondern die politische, wirtschaftliche und familiäre Situation in einer Dimension, die nicht zu unterschätzen ist. Heute können wir ergänzen, dass auch das zunehmend offene Auftreten von nicht binären und trans Menschen die binäre Geschlechterordnung infrage stellt. Unsere Erfahrung aus der pädagogische Praxis lehrt, dass das Thema LGBTQIA+ bei einigen Jugendlichen zunehmend auf aggressive Ablehnung stößt und teilweise den ersten Grundstein für ein Selbstbild als (extrem) rechts legt. Connell (2015, 91f.) führt aus, dass eine Reform oder Modernisierung der Geschlechterverhältnisse nicht bloß eine Frage der Änderung persönlicher Verhaltensweisen oder des Aufstellens politischer Forderungen ist. Berücksichtigt werden müssen demzufolge auch die gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungen, denn diese können bestimmte Prozesse erschweren, erleichtern, nahelegen oder sogar erzwingen. Die Veränderungen sollten sowohl gesellschaftliche Institutionen als auch persönliche Verhaltensweisen betreffen. Es reicht nicht aus, sich nur mit einem der beiden Felder zu beschäftigen.

 

Der Wettbewerb zwischen Männern um die Ehre

Bourdieu (2016, 86 f.) weist auf eine permanente innere Anspannung bei Männern hin, die sich zu einer Gewaltbereitschaft steigern kann. Männer befinden sich demnach ständig in einer Arena, in der ernste Spiele des Wettbewerbs um Ehre und Anerkennung ausgetragen werden. Es gelte, sich einer bestimmten Vorstellung von Männlichkeit als würdig zu erweisen. Ein Klient formulierte eindrücklich, dass er Sorge habe, als ‚Pussy‘ zu gelten, wenn er eine Provokation nicht mit Gewalt beantworte. Der Ehrbegriff soll hier nicht dahingehend missverstanden werden, dass es allein um Phänomene wie bspw. Blutrache geht. Auch der Wettkampf um die besten Leistungen im Sport, in der Schule oder im Büro können Bourdieu (2016, 138) zufolge als Kampf um Ehre begriffen werden, wenn sie auch ungleich zivilisierter sind. Bourdieus Wahl des Wortes Spiele sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese auch den Akt der Tötung und den Krieg beinhalten können. Zwar profitieren Männer von der von ihnen ausgeübten Herrschaft, zugleich sind sie aber genötigt, die Spiele um die Ehre mitzuspielen. Nicht nur die FLINTA* sind der männlichen Herrschaft unterworfen – auch die Männer sind im System dieser Herrschaft gefangen (Bourdieu 2016, 122).

Da das Ringen um Dominanz und Ehre alltäglicher Bestandteil der männlichen Sozialisation ist, ist auch die Gewalt als letzte konsequente Option omnipräsent im männlichen Alltag. Die sozialanthropologische Gewaltforschung nimmt laut Elwert (2002, 342) erstens an, dass Gewalt häufig keine emotionale Entladung, sondern ein geplantes und zweckrationales Handeln zur Bearbeitung eines Konfliktes ist, und zweitens, dass Gewalt immer eine Handlungsoption ist, die aber in jeder Gesellschaft gehemmt und eingebettet ist. Bringen wir die Erkenntnisse von Bourdieu und Elwert mit den Eindrücken aus der pädagogischen Praxis zusammen, lässt sich zusammenfassen, dass solange andere Möglichkeiten bestehen, das Spiel auszutragen, die Gewaltoption in der Regel nicht zur Anwendung kommt. Je weniger Möglichkeiten ein Mann sieht, an den Spielen erfolgreich teilzunehmen, desto kürzer ist der Weg bis zum Einsatz von Gewalt. Je deklassierter ein Mann im sozialen System verortet ist, desto essenzieller ist es, kein Spiel auszusetzen und jedes konsequent zu Ende zu spielen.

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, diesen Kampf um die Ehre auszufechten. In der Arbeit mit Jugendlichen können wir beobachten, dass je nach persönlichen Ressourcen bei diesen Auseinandersetzungen Wissen, teure Accessoires, Beleidigungen oder Fäuste zum Einsatz kommen. Je weniger ein Mann dabei auf ökonomisches, soziales oder kulturelles Kapital zurückgreifen kann, desto kürzer ist der Weg zur Gewalt als Ultima Ratio der Auseinandersetzung. Aus diesem Grund sind vor allem marginalisierte Jungen und junge Männer in körperliche Streitigkeiten und Kämpfe verwickelt. Dementsprechend häufiger werden sie auch in pädagogische und erzieherische Maßnahmen wie soziale Trainingskurse verwiesen. Viele von ihnen sprechen davon, sogenannte ‚Respektschellen‘ (ein Schlag ins Gesicht o. gegen den Kopf) zu verteilen, um gegenüber anderen ihre Stellung zu behaupten. Tatsächlich verbreiten sie damit aber nur Angst bei anderen und gewinnen keinen echten Respekt.

Diese Gewaltaffinität kann neben der Misogynie und Homosexuellenfeindlichkeit ein Andockpunkt für extrem rechte Ideologien und Gruppen sein, die legitimierend und verstärkend wirken. Einige Männer leben in einem ständigen Kriegszustand, bei dem jeder schräge Blick, jede Beleidigung, jede als Herausforderung oder Respektlosigkeit wahrgenommene Handlung eines anderen unweigerlich einen Ausbruch von Gewalt nach sich zieht. So ist dann auch bei den Klienten im Rahmen der Arbeit des Vereins Distanz e. V. das Einfordern von Respekt ein allgegenwärtiges Thema. Jede tatsächliche oder vermeintliche Herausforderung verlangt eine Reaktion. Rangordnungen und Machtkämpfe bestimmen das Denken und ein dementsprechendes Verhalten wird offenbart. Ab einem gewissen Ausmaß wird dieses Verhalten von der Gesellschaft zwar als delinquent sanktioniert, zugleich gibt es aber immer wieder Einflüsse und Inhalte, z. B. in Form von Sportwettbewerben, Musik, Filmen und Videospielen, die genau diesem Rollenbild entsprechen. Den Menschen wird Bourdieu (2016, 90–92) zufolge ein bestimmter Habitus eingeprägt, jenes verinnerlichte soziale Gesetz, das scheinbar alternativlose Handlungsempfehlungen beinhaltet. Dieser Habitus zeigt sich an ihrem Verhalten und Denken. Ihr eigenes Auftreten und Agieren wird ohne einen offensichtlichen äußeren Zwang letztlich durch diesen Habitus und die damit verbundenen Vorstellungen bestimmt.

 

Kampf der Amor fati – Zurückdrängen von Gewalt und Abwertung

Bourdieu (2016, 91) präzisiert, dass der Habitus die Männer nicht zu einer bestimmten Handlung zwingt. Hier kann gendersensible Pädagogik ansetzen, indem sie Vor- und Nachteile der eingeschliffenen Verhaltensweisen mit den Klienten abwägt, Phasen der aufkommenden Aggression gemeinsam untersucht, andere Reaktionsmöglichkeiten erfragt und alternative Verhaltensmuster anbietet. Bourdieu (2016, 91) betont, dass es möglich ist, eine Entscheidung gegen das Naheliegende zu treffen, allerdings erscheinen die Handlungen dem Individuum in der Regel als unvermeidlich oder als selbstverständlich, sodass sie ohne Überlegung oder Prüfung akzeptiert und ausgeführt werden. Ein Klient äußerte beispielsweise auf die Frage nach alternativen Handlungsoptionen, dass er noch nie auch nur ansatzweise darüber nachgedacht habe, sein Verhalten oder seine Meinung zu ändern. Diese Selbsterkenntnis war der Türöffner dafür, das eigene Verhalten proaktiv umzugestalten und sich nicht selbst weiter den eigenen Gewohnheiten auszuliefern. Männer werden aber laut Bourdieu (2016, 132f.) von frühester Kindheit an dazu erzogen, die gesellschaftlichen Spiele um Dominanz und Herrschaft anzuerkennen und sie leidenschaftlich unhinterfragt mit zu spielen. Der Mensch ist aber das erste Wesen, das sich selbst verändern kann, indem er die ihn prägende Umwelt verändert. Die gesellschaftlichen Bedingungen, die die Männlichkeit hervorbringen, können genauso überwunden werden, wie eine Aufhebung der dichotomen und hierarchischen Geschlechterverhältnisse denkbar ist. Es gilt, die Dinge von ihrer Wurzel her zu betrachten, wenn die Intervention wirksam sein und nicht nur die Symptome bearbeiten soll. Von Anfang an präventiv tätig zu sein hieße, die Herstellung von Männlichkeit kritisch zu begleiten und Alternativen zu destruktiven Formen der Selbstaufwertung anzubieten. Hier liegt das Potenzial zur Veränderung und die Möglichkeit, durch Interventionen habituelle Muster zu irritieren.

Wir denken, dass die Pädagogik dazu einen Beitrag leisten kann, wenn sie sich über die Herstellung der Geschlechterverhältnisse im Klaren ist und sowohl gendersensibel als auch genderreflektierend und genderirritierend arbeitet. Gendersensibles Arbeiten bedeutet, sich bewusst zu sein, welchen Entfaltungs- und Handlungsspielraum dem Individuum beim Aufwachsen und im Alltag aufgrund des (zugeschriebenen) Geschlechtes von seiner Umwelt (Familie, Freund*innen, Werbung, Produktgestaltung, Schule etc.) vorgelebt und zugestanden wird. Genderreflektierendes Arbeiten heißt, dass eine bewusste Auseinandersetzung angestoßen wird über Werte, Erwartungen und Verhaltensweisen, um einen Abgleich von Rollenzuschreibungen mit eigenen Bedürfnissen, Wünschen und Zukunftsvorstellungen zu ermöglichen. Genderirritierendes Arbeiten meint, dass die Pädagog*innen durch Aussagen, Verhaltensweisen, Methodengestaltung etc. mit genderspezifischen Werten, Erwartungen und Rollenvorstellungen brechen, sich also nicht geschlechterstereotyp verhalten. Über diese Irritation von als selbstverständlich angenommenen Vorstellungen kann eine Reflexion über diese Selbstverständlichkeiten angestoßen werden. Zudem können vielfältige Gendervorstellungen vermittelt werden. Genderirritierendes Arbeiten sollte allerdings authentisch sein.

Pädagogische Ansätze sollten allerdings die Mahnung Connells (2015, 298) beachten, dass es nicht allein darum gehen darf, die individuellen Verhaltensweisen anzupassen. Für eine nachhaltige Veränderung müssen auch die prägenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen verändert werden. Es handelt sich also nicht nur um einen pädagogischen, sondern auch um einen gesellschaftspolitischen Auftrag.

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1    FLINTA* steht für Frauen, Lesben, Inter, Non-Binary, Trans und agender* und ist der Versuch, einen Ausdruck für eine Personengruppe zu finden, die nicht cis-männlich ist.

2    Dt.: Aufreiß-Künstler. Versuchen mit verschiedenen Methoden und psychologischen Tricks, fremde Frauen* zum Sex zu überreden.

3    Involuntary celibate (unfreiwillig zölibatär) lebende Männer machen Frauen* und den Feminismus verantwortlich für ihre Enthaltsamkeit.

4    Neuste Studie zum Gender-Pay-Gap: www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2023/01/PD23_036_621.html.

 


Malte Pannemann studierte Erziehungswissenschaft sowie Bildung, Kultur und Anthropologie. Er arbeitet bei Distanz e. V. in Weimar im Rahmen eines Bundesmodellprojektes zur Rechtsextremismusprävention und führt u. a. intensivpädagogische Einzeltrainings mit rechtsextrem Einstiegsgefährdeten und rechtsextrem orientierten Jugendlichen durch. Zuletzt publizierte er über „Aufsuchende Distanzierungsarbeit – Zielgruppe, Zugang und methodischer Ansatz“ im Sammelband „Stadt und Rassismus – Analysen und Perspektiven für eine antirassistische Urbanität“ von Frank Eckardt & Hamidou Maurice Bouguerra (Hg.).


 

Literaturverzeichnis

 

Bauman, Zygmunt (2000). Alte und neue Gewalt. Journal für Konflikt- und Gewaltforschung 2(1), 25–42.

Bourdieu, Pierre (2016). Die männliche Herrschaft. 3. Aufl. Frankfurt am Main, Suhrkamp.

Connell, Raewyn (2015). Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten. 4. Aufl. Wiesbaden, Springer.

Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina e. V. (Hg.) (2022). Frauen in der Wissenschaft: Entwicklungen und Empfehlungen. Online verfügbar unter www.leopoldina.org/fileadmin/redaktion/Publikationen/Nationale_Empfehlungen/2022_Leopoldina_Stellungnahme_Frauen-in-der-Wissenschaft_Web.pdf (abgerufen am 05.05.2023).

DIW (2019). Wochenbericht 10/2019. Online verfügbar unter www.diw.de/de/diw_01.c.616037.de/publikationen/wochenberichte/2019_10_3/auch_an_erwerbsfreien_tagen_erledigen_frauen_einen_grossteil_der_hausarbeit_und_kinderbetreuung.html (abgerufen am 05.05.2023).

Elwert, Georg (2002). Sozialanthropologisch erklärte Gewalt. In: John Hagan/Wilhelm Heitmeyer (Hg.). Internationales Handbuch der Gewaltforschung. Wiesbaden, Westdt. Verlag, 330–367.

Hansen, Axel (2015). Offen für Wachstum. Die ZEIT vom 27.05.2015. Online verfügbar unter www.zeit.de/wirtschaft/2015-05/homosexuelle-wirtschaft (abgerufen am 05.05.2023).

Hechler, Andreas (2012). Männlichkeitskonstruktionen, Jungenarbeit und Neonazismus-Prävention. In: Bernard Könnecke/Katharina Debus/Klaus Schwerma/Olaf Stuve (Hg.). Geschlechterreflektierte Arbeit mit Jungen an der Schule. Texte zu Pädagogik und Fortbildung rund um Jungenarbeit, Geschlecht und Bildung. Berlin, Dissens e. V., 74–91.

Heitmeyer, Wilhelm (2002). Rechtsextremistische Gewalt. In: John Hagan/Wilhelm Heitmeyer (Hg.). Internationales Handbuch der Gewaltforschung. Wiesbaden, Westdt. Verlag, 501–546.

Imbusch, Peter (2002). Der Gewaltbegriff. In: John Hagan/Wilhelm Heitmeyer (Hg.). Internationales Handbuch der Gewaltforschung. Wiesbaden, Westdt. Verlag, 26–57.

lpd Ba-Wü (Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg) (2022). Dossier Gewalt gegen Frauen. Online verfügbar unter www.lpb-bw.de/gewalt-gegen-frauen (abgerufen am 05.05.2023).