Online-Gespräch „… Nur halb so viel wert wie ein Mann“

Empfohlene Zitierung:

Jasim, Dastan/Sahebi, Gilda/Oghalai, Bahar/Tahirovic, Anne (2023). Online-Gespräch „... Nur halb so viel wert wie ein Mann“. In: Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (Hg.). Wissen schafft Demokratie. Schwerpunkt Antifeminismus & Hasskriminalität, Band 13, Online-Ausgabe. Jena, 100–109.

Schlagwörter:

Autoritarismus, Antifeminismus, Ressentiment, Feindbilder, Männlichkeit, Sozialpsychologie, Leipziger Autoritarismus Studie

 


Im Rahmen der Planungen für die Fachtagung „Antifeminismus und Hasskriminalität“ wurde schnell klar, dass wir, wenn wir über Antifeminismus und Hasskriminalität sprechen, über den Iran nicht schweigen können. Im Iran ist Antifeminismus Ideologie, Struktur und System. „Jin, Jiyan, Azadî“ („Frau, Leben, Freiheit“) ist ein Slogan, der seit dem Tod der 22-jährigen kurdischen Iranerin Jina Mahsa Amini nach ihrer Verhaftung Mitte September 2022 durch die Sittenpolizei nicht mehr verstummt. Die von Frauen angeführten Proteste haben sich rasch auf das ganze Land ausgeweitet, die iranische Bevölkerung ist in großen Teilen auf die Straßen gegangen und demonstriert und kämpft nach wie vor für Demokratie, Freiheit und Selbstbestimmung. Im Rahmen unseres Online-Gesprächs am 23. November 2022 wurden die Geschehnisse im Iran in Geschichte und Gegenwart eingeordnet. Das Podium bestand aus Dastan Jasim (Research Fellow am GIGA Institut für Nahost-Studien und Doktorand im GIGA Doctoral Programme), Gilda Sahebi (Journalistin und Ärztin) und Bahar Oghalai (feministische Sozialwissenschaftlerin mit Fokus auf migrantisch-feministischem Aktivismus), die Moderation übernahm Anne Tahirovic, Geschäftsführerin des IDZ.


 

Anne Tahirovic1 
Zum Einstieg möchte ich fragen, womit Ihr euch im Kontext des Themas aktuell beschäftigt?

Bahar Oghalai
In den letzten Tagen beschäftige ich mich mit der Situation in Kurdistan. Da beobachten wir gerade eine extreme, unfassbare Gewalt der Sicherheitskräfte gegen die protestierenden Menschen, nicht nur auf der Straße, sondern auch in ihren Häusern. Wir beobachten zeitgleich auch den unfassbaren Mut der Menschen dort und hierdurch wird klar: Es gibt kein Zurück mehr zur „Normalität“ angesichts der Gewalt der Islamischen Republik. Wir wissen auch, sollten irgendwann die Proteste zurückgehen, wird die Islamische Republik mit aller Gewalt versuchen, gegen die Protestierenden vorzugehen und sie im Nachhinein für ihre Proteste zu bestrafen. Deshalb ist es wichtig, jetzt von hier aus weiter dranzubleiben, weiter zu informieren, sich weiter für die Menschen vor Ort einzusetzen.

Dastan Jasim
Auf der einen Seite beschäftige ich mich vor allem seit dem Tod von Jina Mahsa Amini mit der Lage in Kurdistan sowie der Menschenfeindlichkeit, dem Hass und der Manipulation im Iran. Also es ist, als ob man, bevor man zwei informative Sachen sagen kann, drei falsche Narrative des islamischen Regimes wegfegen muss – auch von ihren Handlangern hier in Deutschland, die überall versucht haben, medialen Platz einzunehmen. Auf der anderen Seite beschäftige ich mich mit dem Krieg in Rojava und mit dem, was die türkische Armee dort gerade treibt. Und mit der unrühmlichen Rolle, die Deutschland spielt: mit einer Nancy Faeser, die zu Besuch in Ankara war, mit einer Regierung, die keine Iran-Strategie hat, mit einer Politik, die aus Makulatur versucht, einen feministischen Schein zu wahren, die aber mit dabei zusieht, wie Frauen im Iran systematisch vergewaltigt werden.

Gilda Sahebi
Ich glaube, man kann sich gerade mit nichts anderem beschäftigen, hat jede wache Minute keine anderen Gedanken. Das geht seit neun Wochen so und jetzt die letzten Tage ist es nur noch purer Horror. Aus den letzten Tagen haben wir wenige Videos bekommen, die dafür aber absolute Grausamkeiten gezeigt haben. Ich habe ganz viele Hilfeschreie von Leuten außerhalb Kurdistans bekommen, die gesagt haben: „Bitte macht was, dort wird gerade massakriert, die Menschen werden umgebracht!“ Ich gucke mir auch die deutsche und europäische Politik immer intensiv an und da passiert viel zu wenig. Die aktuelle Kriminalisierung von Kurd*innen macht natürlich das iranische Regime happy. Das finden wir leider in der NATO genauso wie im Iran und da braucht es viel Änderungen in der Politik.

Anne Tahirovic
Wenn wir über die Proteste und den Antifeminismus im Iran sprechen, möchte ich über antifeministische Kontinuitäten im Iran wie auch im sogenannten Westen reden. Wofür steht der Slogan „Jin, Jiyan, Azadî“?

Dastan Jasim
„Jin, Jiyan, Azadî“ bedeutet übersetzt „Frau, Leben, Freiheit“, auf Persisch ist es „Zan, Zendegi, Āzādi“. Es ist ein Slogan, der seinen Ursprung in der kurdischen Frauenbewegung hat, vor allem in dessen Analyse, dass die kurdische Frage zunächst mit der nationalen Frage angefangen hat, aber sich im Laufe der Zeit immer mehr herauskristallisiert hat, dass die Unterdrückung der Frau ein Pfeiler jeglicher anderer Ausbeutung ist und dass eben ohne eine freie Frau ein freies Leben nicht möglich ist. Unter diesem Slogan ist schließlich der Kampf gegen den IS geführt worden – also der Kampf, der jenseits eines militärischen oder territorialen Kampfs auch ein Kampf darum war, was für einen Mittleren Osten wir eigentlich haben, was für politische Systeme da herrschen, wie dort Menschen, Frauen und Minderheiten behandelt werden.

Anne Tahirovic
Es handelt sich hier nicht um die ersten Proteste von Frauen im Iran seit 1979. Könnt Ihr kurz die Geschichte der Proteste nachzeichnen?

Bahar Oghalai
Bevor ich auf die Proteste eingehe, müsste ich in aller Kürze einige Grundpfeiler der Misogynie der Islamischen Republik nachzeichnen, um dann erläutern zu können, wie es zeitgleich seit dem ersten Tag der Herrschaft der Islamischen Republik auch feministischen Widerstand gegen diese Strukturen gegeben hat. Das Prominenteste davon ist der obligatorische Hijab, der symbolisch für die Disziplinierung und die Kontrolle der Körper von Frauen und Queers steht. Wir haben es in der Islamischen Republik mit extrem diskriminierenden Familiengesetzen zu tun, ebenso mit einer aktiven Verdrängung, Informalisierung und Ausbeutung der weiblichen Arbeitskraft. Der prominenteste Fall ist der Femizid an Jina Mahsa Amini, aber eigentlich hat es schon immer einen aktiven, staatlich ausgeübten Femizid im Iran gegeben – und zwar parallel zu einer Entkriminalisierung von Femiziden in anderen nicht staatlichen Kontexten. Wir haben es seit über 40 Jahren mit der gesetzlichen Verankerung von Kinderehen und unterschiedlichsten Formen der Misogynie bzw. des Antifeminismus im Rahmen des Regimes zu tun, zugleich mit der Kontrolle der Reproduktion im Kontext der iranischen Gesellschaft. Schwangerschaftsabbrüche sind kriminalisiert worden und es gibt eine aktive Blockade des Zugangs zu Verhütungsmitteln. Gegen diese misogynen Phänomene und die antifeministische Ideologie hat es seit dem ersten Tag der Herrschaft der Islamischen Republik feministischen Widerstand gegeben. Frauen sind bereits in den ersten Tagen nach der Revolution auf die Straße gegangen und haben gegen den obligatorischen Hijab protestiert und kontinuierlich zivilen Ungehorsam ausgeübt. Wenn wir uns allein schon die Bilder angucken, wurde sich nie an den Dresscode gehalten, der vom Staat ausgesprochen wurde. Das ist natürlich immer weiter verstärkt worden. Wir haben es über diese vier Jahrzehnte zum Beispiel mit der aktiven Präsenz von Frauen in den unterschiedlichsten Bereichen der Gesellschaft zu tun – seien es die Universitäten, der Arbeitsmarkt oder der Kunst- und Kulturbereich, trotz des Versuches, Frauen aus diesen Bereichen zu verdrängen. Was wir jetzt in den letzten Wochen beobachten, ist der Höhepunkt dieser unterschiedlichsten Protestformen und eine Radikalisierung im besten Sinne der feministischen Forderungen.

Anne Tahirovic
Wie unterscheiden sich die Kontinuitäten des Antifeminismus im Iran vom sogenannten Westen?

Bahar Oghalai
Sie unterscheiden sich durch die enorme Gewalt der Islamischen Republik, also die Intensität der Gewalt gegen Frauen, die wir dort beobachten. Die Ideologie dessen mag islamistisch begründet sein, aber es gibt sehr viele globale Kontinuitäten in der Logik des Antifeminismus und zentraler Elemente von antifeministischen Diskursen. Es findet sich ein starker Fokus auf die Disziplinierung und Kontrolle des Körpers von Frauen und Queers. Das sind Tendenzen, die wir durch den starken Rechtsruck beispielsweise auch in den USA und in Europa beobachten.

Dastan Jasim
Auf der einen Seite sind es sehr ähnliche Mechanismen und Framings, mit denen gearbeitet werden. Aus politikwissenschaftlicher Sicht würde ich sagen, dass der Westen konsequent nie auf der Seite derjenigen stand, die sich im Mittleren Osten für Frauen, auch institutionell, eingesetzt haben. Im Iran wurde die ganze Zeit der Schah und diese Art von Fake-Progressivismus unterstützt und behauptet, dass dies quasi das „zurückgebliebene Volk“ voranbringe. 1978 gab es das ganze Jahr über Proteste, die dann in die Islamische Revolution geführt haben. Und damals war Khomeini noch im Pariser Exil und hier in Europa, im Westen haben sich dann Staatsmänner zusammengetan und festgestellt, dass eine Regierung durch einen Khomeini im Kontext des Kalten Krieges immer noch besser wäre als eine Regierung von Marxisten.

Anne Tahirovic
Ich möchte den Blick gern auf die aktuelle Situation richten und fragen: Wofür protestieren die Menschen im Iran?

Gilda Sahebi
Sie protestieren für alles, für das Leben. Viele Menschen sagen: „Lieber sterben, als so zu leben!“ Ich spüre zum ersten Mal seit 43 Jahren, dass die Menschen in der Diaspora sich trauen, offen etwas zu sagen. Früher stand dem immer die Angst entgegen, dass man entweder auf dem Schirm des Regimes ist oder man nicht mehr zurück in den Iran kann. Meines Erachtens liegt das daran, dass auch hier verstanden wurde, dass die Menschen im Iran es ernst meinen und es keine Alternative mehr gibt.

Bahar Oghalai
Wichtig ist, dass die Menschen zum ersten Mal aussprechen, dass sie dieses Regime nicht wollen und es nicht für reformierbar halten. Die Anliegen der Menschen sind unterschiedlichster Natur – von Freiheit über materielle Fragen bis zur Minderheitenunterdrückung. Das sind alles Anliegen, die jetzt zum ersten Mal zusammenfinden.

Anne Tahirovic
Mich interessieren drei weitere Punkte: Was ist das Besondere am aktuellen Geschehen? Woher kommt dieser Mut, das eigene Leben und das der Familienmitglieder zu riskieren? Und woher stammt die Angst in der Diaspora?

Gilda Sahebi
Der Mut entspringt daraus, wie Menschen und insbesondere Frauen im Iran behandelt werden. Erklären kann ich den Mut nicht, weil er unbegreiflich groß ist. Und Mut kann man nur haben, wenn man Angst hat und diese überwindet. Die Menschen vor Ort sind sich der Risiken sehr bewusst. In Bezug auf die Diaspora: Ich selbst war seit 24 Jahren nicht mehr im Iran und das ist wie ein Loch in der Seele, weil ich da nicht hin kann. Das ist für viele Menschen im Ausland so. Es ist ein Schmerz, dass man nicht dorthin kann, wo die Familie ist, wo man her stammt, wo man die Sprache spricht, Traditionen und Rituale kennt. Man kann nicht zurückkehren, weil man getötet oder inhaftiert werden könnte. Auch die Familie kann man nicht sehen, weil es praktisch unmöglich ist, ein Visa zu bekommen. Dass trotz dessen Menschen, die nie etwas gesagt haben, jetzt etwas sagen, zeigt, wie groß das ist, was gerade passiert.

Bahar Oghalai
Revolutionen haben immer ein Momentum, das nicht hundertprozentig zu erklären ist. Und das ist auch das Schöne an Revolutionen. Deswegen sind wir alle erstaunt über den Mut der Menschen, die auf die Straße gehen. Was ich sagen kann ist zum einen, dass es eine feministisch geführte Revolution ist. Es hat mit einem Femizid an einer kurdischen Frau und mit der unfassbaren Wut über diesen Femizid angefangen. Zum anderen haben die Proteste in Kurdistan angefangen, also in einer marginalisierten Region des Landes und von da aus haben sich die Proteste über das ganze Land verbreitet und auch eine Solidarisierungswelle erzeugt. Das besondere an der Bewegung ist, dass es eben nicht im Zentrum des Landes angefangen hat, sondern in einer Region, die schon vor der Islamischen Republik von Unterdrückung und staatlicher Gewalt betroffen war. Es ist wichtig zu betonen, dass verschiedene Forderungen endlich zusammenfinden: materielle Fragen, Fragen der Umweltverschmutzung sowie menschenrechtliche Fragen, etwa Unterdrückung von Minderheiten. Diese verdeutlichen, dass es über die Islamische Republik hinaus darum geht, einen genuinen gesellschaftlichen Wandel zu erzielen. Es geht über einen Regimewechsel hinaus um die Forderung nach einer anderen Form des Zusammenlebens, des Gestaltens von Gesellschaft, von Beziehungen, von Arbeit, Produktion usw.

Anne Tahirovic
Welche Rolle spielen die Kurd*innen in dieser Revolution?

Dastan Jasim
Zur Rolle der Kurd*innen muss man mit vergangenen Protesten beginnen. Die einzigen Regionen, die sich nach 1979 territorial gegen die Islamische Republik gewehrt haben, waren die kurdischen Regionen. Die aktuellen Proteste sind Anti-Regime. Kurdistan war schon immer Anti-Regime und das sieht man auch in der Geschichte der Islamischen Republik. Diese hatte mit einer Sache Glück im Unglück – nämlich dass sie kurz nach ihrer Gründung einen fast zehn Jahre andauernden Krieg mit dem Irak geführt hat, welcher die komplette Legitimation des Landes geworden ist. Dieser Krieg ist bis heute die Legitimation für das Nuklear-Programm des Irans und aus ihm kommt die ganze Führungselite der Islamischen Republik. Wenn wir über die Diaspora reden, müssen wir auch darüber reden, dass die Islamische Republik seit ihrer Gründung eine Rekordanzahl an Morden im Westen begangen hat, für die sie noch nicht mal richtig belangt wurde. Beispielsweise wurden 1992 kurdische und iranische Oppositionelle beim Mykonos-Attentat in Berlin ermordet. Es wurde jahrelang keine richtige Aufklärung vorgenommen, weil es Deutschland wichtiger war, die wirtschaftlichen Beziehungen mit dem Iran aufrechtzuhalten. Das iranische Agent*innen- bzw. Spitzelsystem ist tief und sehr weit gehend. Allerdings gab es immer wieder Versuche, die Situation zu ändern. Mohammad Chātami war etwa von 1997 bis 2005 an der Macht und als Reformist bekannt. Viele Frauen haben ihm ihre Stimme gegeben, weil sie dachten: ‚Vielleicht kann er zumindest grundsätzliche Rechte wiederaufbauen.‘ Aber die Forderungen wurden nicht durchgesetzt. Mahmud Ahmadineschād ist durch Wahlfälschung, Populismus, Betrug und Lügen an die Macht gekommen. Das bereits anlaufende Iran-Atomprogramm wurde weitergeführt. Auch da hat der Westen komplett verschlafen, etwas dagegen zu machen. Man muss berücksichtigen, dass der Iran eins der reichsten Länder der Welt ist. Trotzdem sind die Öl- und Spritpreise sehr hoch und Strom sowie Wasser unbezahlbar, während der Iran in sechs verschiedenen Ländern Krieg führt. Gewissermaßen sind in den letzten Jahren alle zu Kurd*innen geworden, denn alle sind marginalisiert und werden schlecht behandelt. Der Vorteil der Kurd*innen ist gewesen, dass sie die letzten Jahrzehnte immer schon in der Illegalität arbeiten mussten und dadurch eine andere Organisationsform haben. Und das ist, glaube ich, der Knackpunkt, an dem auch der Erfolg dieser Opposition hängen wird. Wir haben eine neue Generation, die protestiert, aber leider auch hohe Todeszahlen.

Anne Tahirovic
Und welche Rolle spielen soziale Medien im aktuellen Geschehen?

Gilda Sahebi
Ich glaube, die Rolle ist dieses Mal pragmatisch, ohne viel Romantisierung oder etwas wie „Twitter-Revolution“. Unter anderem drehen Menschen unter Lebenseinsatz Handyvideos und schicken die raus, weil für sie sehr wichtig ist, dass hingeguckt wird. Denn bisher wurde nie hingeguckt. 2019 bei den Aban-Protesten, bei denen mehrere Hundert Menschen innerhalb weniger Tage umgebracht wurden, gab es hier quasi keine Berichte. Jetzt bietet sich durch die sozialen Medien die Chance, dass man den Alltag im Iran mit Sorgen, Problemen, aber auch schönen Zeiten und Partys endlich sieht. Und die Menschen im Iran organisieren sich und tauschen Informationen sehr schnell aus. Sie treffen sich in Twitter-Spaces oder äußern sich offen regimekritisch über Instagram.

Anne Tahirovic
Welche Zukunftsszenarien sind vorstellbar?

Dastan Jasim
Es gibt drei Säulen, die massiv beeinflussen, ob das Ganze eine Revolution wird oder nicht. Die erste ist die Kontinuität und der Einklang der Proteste im Iran: Die Proteste müssen mindestens bis nächsten Herbst kontinuierlich und vereinheitlicht weitergehen, auch auf die aktuell dezentrale Art und Weise. Dabei müssen die Proteste organisatorisch zusammenwachsen und es muss intern eine Art von Institutionalisierung stattfinden. Die zweite Säule ist die internationale Bühne, dabei sind auch die Rolle Russlands und Chinas wichtig. Wir wissen, dass das die zwei Länder sind, mit denen der Iran den meisten Handel betreibt und von denen die Devisen kommen; gerade die Exporte der Schahed-Drohnensysteme vom Iran sind auch von außenpolitischer Relevanz. Der Iran hat seit 2019 einen 25-jährigen Vertrag mit China zur vergünstigten Exportierung petrochemischer Produkte und Öl und China hat ein großes Interesse, dass nicht gestreikt wird und keine Instabilität auftritt. Es bleibt abzuwarten, wie China sich verhalten wird. Die dritte Säule ist, wie die Opposition im Westen handelt. Die Opposition in der Diaspora ist zwar zahlenmäßig eine kleinere Gruppe als die Leute im Iran, aber sitzt in vielen Sachen am längeren Hebel. Die Opposition in der Diaspora bekommt Einladungen und Inklusion in bestimmte Zirkel, die Leute dort nicht haben. Das hat man bereits 1978/79 in Paris gesehen: Jemand, der eigentlich nicht als der Favorit galt, ist es geworden, weil die Diaspora versagt hat. Dadurch wurde ein Mann nach vorn gebracht, der das ganze Land in die Hölle geschickt hat. Die zentrale Frage ist, ob die Opposition dazu in der Lage ist, ein konkretes politisches Programm vorzulegen und darüber redet, welches Wirtschaftssystem und welches politische System dieses Land haben soll. Auch die demokratische Kultur ist ein wichtiger Pfeiler und wird beeinflussen, ob es eine Revolution wird und wenn ja, welche Art.

Gilda Sahebi
Im Ausland höre ich in letzter Zeit immer wieder das Stichwort „Militärputsch“ oder „Bürgerkrieg“ von verschiedenen Stellen und die können sich nicht gut im Iran auskennen. Denn es ist ein sehr komplexes Machtsystem mit der Revolutionsgarde als stärkstes Militär und diese wird nicht gegen sich selbst putschen. Mit dem Begriff „Bürgerkrieg“ muss man aufpassen, weil das Regime Propaganda betreibt, weil das Regime aus einer Revolution heraus einen Bürgerkrieg inszeniert, indem sie Kurd*innen töten, diese als Separatist*innen bezeichnen und sagen: ‚Wir säubern die Region von Terroristen‘.

Anne Tahirovic
Iranische Freundinnen von mir meinen, dass das Schweigen der politischen Linken in Deutschland unfassbar laut sei. Wie seht Ihr das?

Bahar Oghalai
Ja, dem kann ich zustimmen. Ich glaube, das Schweigen ist so laut, weil die Angst vor einer Miss-Interpretation der Anteilnahme in Richtung anti-muslimischer Rassismus stark ist und das finde ich sehr bedauerlich. Zum einen finde ich das aus strategischen Gründen unklug, feministische Solidarität sowie eine Positionierung gegen Misogynie und Antifeminismus im Iran beispielsweise AfD-Anhänger*innen zu überlassen, die dann die Revolution im Iran instrumentalisieren, um hier weiterhin anti-muslimischen Rassismus zu schüren. Gerade als linke Feministinnen: Es ist unsere Aufgabe, Solidarität zu zeigen, denn Femizide gibt es nicht nur dort, sondern auch hier. Die unterschiedlichen ideologischen Begründungen sollten nicht davon ablenken, dass wir uns international gegen jegliche Form von misogyner Gewalt und Menschenrechtsverletzungen aussprechen sollten.

Anne Tahirovic
Ein gutes Schlusswort, vielen Dank, und in diesem Sinne: „Jin, Jiyan, Azadî!“

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1    Das Online-Gespräch wurde transkribiert, das Transkript im Anschluss redaktionell bearbeitet (insbesondere gekürzt und sprachlich/stilistisch geglättet).

 


Dastan Jasim, Doctoral Fellow am German Institute for Global and Area Studies in Hamburg, promoviert zur politischen Kultur von Kurd*innen im Iran, Irak, Syrien und der Türkei. Sie publiziert regelmäßig zu Politik und Sicherheit in allen Teilen Kurdistans in akademischen Formaten, aber auch in Policy-Formaten sowie Zeitungen wie der Analyse & Kritik.

Gilda Sahebi, im Iran geboren und in Deutschland aufgewachsen, ist ausgebildete Ärztin und studierte Politikwissenschaftlerin. Sie arbeitet als freie Journalistin mit den Schwerpunkten Antisemitismus und Rassismus, Frauenrechte, Naher Osten und Wissenschaft. Sie ist Autorin für die taz und den Spiegel und arbeitet u. a. für die ARD.

Bahar Oghalai ist feministische Sozialwissenschaftlerin und interessiert sich für die Intersektionen von Feminismus und Rassismuskritik. Sie forscht und lehrt an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin und an der Universität Koblenz. Sie publiziert regelmäßig zu feministischen Bewegungen in WANA.

Anne Tahirovic ist Geschäftsführerin des IDZ Jena und Leiterin des Bereichs „Wissenstransfer“.