Disability Mainstreaming
Disability Mainstreaming ist in erster Linie ein (politisches) Konzept, welches das Ziel hat, die Rechte von Menschen mit Beeinträchtigungen in allen politischen und gesellschaftlichen Bereichen als Querschnittsaufgabe zu berücksichtigen (Spörke 2013, 81). Als noch junger Begriff lehnt er sich an den des Gender Mainstreamings an und ist in der englischen Originalversion der UN-Behindertenrechtskonvention in der Präambel explizit verankert. In der offiziellen deutschen Übersetzung findet sich diese Begrifflichkeit nicht wieder. Die Schattenübersetzung des Netzwerks Artikel 3 e. V. verweist diesbezüglich auf notwendige Korrekturen und Änderungen der vorliegenden deutschen Fassung.1
In diesem Zusammenhang soll es nicht um die Schaffung separierter Strukturen, sondern zunächst um die Einbindung betreffender Menschen in bestehende gehen. Grundlage dafür ist die Anerkennung der Heterogenität von Fähigkeiten und Bedürfnissen von Menschen mit Beeinträchtigungen mit gleichzeitiger gesamtgesellschaftlicher Perspektive auf die Notwendigkeit des Erkennens und Abbaus von Teilhabebarrieren. Dabei steht, entgegen dem medizinischen/individuellen Modell von Behinderung (siehe Waldschmidt 2022, 95ff.), nicht die individuelle körperliche Struktur im Fokus des Handelns, sondern das Verständnis, dass Umweltbarrieren und ableistische Prozesse eine gelingende Partizipation behindern.
Disability Mainstreaming baut grundlegend auf den Leitlinien Nicht-Diskriminierung, Gleichberechtigung, Partizipation, Zugänglichkeit und Sensibilisierung auf. Es wird angestrebt, diese in allen Lebensbereichen, wie Arbeit, Gesundheit, Kultur, Bildung und Politik, zu gewährleisten. So sollen betreffende Menschen aktiv an Planungs-, Umsetzungs-, Evaluierungs- und Monitoringprozessen beteiligt werden, um die Möglichkeit zu erhalten, mit ihren Bedürfnissen und Forderungen berücksichtigt zu werden. Dazu benötigt es eine unbedingte barrierefreie physische Umgebung sowie gelingende Möglichkeiten zur Kommunikation und Information (Grüber 2010, 34f.).
Neben technischen Lösungsmöglichkeiten spielen in diesem Zusammenhang auch die Bewusstseinsbildung und Sensibilisierungsprozesse in der Gesellschaft und bei entscheidungstragenden Personen eine notwendige Rolle.
Die Umsetzung von Disability Mainstreaming benötigt eine systematische Implementierung der Prinzipien von Inklusion vor allem in politischen sowie verwalterischen Bereichen. Dazu ist in erster Linie eine manifeste politische Verpflichtung zur Inklusionsförderung betreffender Menschen notwendig, die sowohl auf nationaler als auch auf landes- und kommunaler Ebene implementiert werden müssen. Diese Aspekte sollten anschließend eine Konsolidierung auf institutioneller Ebene finden, indem es zur Schaffung von Verantwortlichkeiten und Strukturen kommt, die maßgeblich zur Umsetzung des Disability Mainstreamings beitragen (Grüber 2010, 36f.; Wacker 2013, 32).
Auch wenn Disability Mainstreaming als vielversprechendes Konzept und Instrument anerkannt wird, zeigen sich einige Herausforderung in der konkreten Umsetzung (Wacker 2013, 41f.). So besteht die Gefahr, dass ein Mangel an Bewusstsein und Verständnis für die Belange betreffender Menschen besteht und es zu einer Erschwerung von Maßnahmen im Zuge von inklusiven Prozessen kommt. Zudem bedarf es für die gelingende Implementierung dieser Querschnittsaufgabe einer Erhöhung von Ressourcen, die unter Umständen nicht immer leicht zu beschaffen sind. Ferner könnten zu hohe bürokratische Hürden und ein etwaiger Widerstand gegen die notwendigen Veränderungen die Umsetzung verlangsamen oder behindern. Dieses Konzept und Instrument kann als wegweisend verstanden werden, mit dem Ziel, die Rechte und Bedürfnisse von Menschen mit Beeinträchtigungen in bestehende Diskurse zu implementieren und die Gesamtgesellschaft auf inklusive Weise zu transformieren. Durch eine systematische Implementierung von Prinzipien der Inklusion in allen Lebensbereichen wird es möglich, Barrieren abzubauen und eine umfassende Teilhabe zu fördern. Jedoch sind Sensibilisierungsprozesse sowie Antidiskriminierungsarbeit, politische Verpflichtungen und der Einsatz angemessener Ressourcen notwendig, um diese Prinzipien zu verwirklichen (Grüber 2010, 35f.).
Das Design für Alle
Das Design für Alle (im amerikanischen: „Universal Design“) ist ein Konzept, welches eingesetzt wird, um Programme, Produkte, Umgebungen und Systeme so zu gestalten, dass diese durch so viele Personen wie möglich genutzt werden können. Es bietet somit die Grundlage zur Umsetzung von Disability Mainstreaming. Geprägt wurde der Begriff des Universal Designs durch Ronald L. Mace und geht mit der Gründung des Center for Universal Design im Jahr 1989 einher (Sagramola 2016, 23). Es baut vor allem darauf auf, dass diese Nutzung weitestgehend ohne weitere Adaptionen und Spezialisierungen funktioniert. Dabei ist das Design für Alle konzeptionell von der „Barrierefreiheit/Nutzbarkeit“ und dem „Zugänglichen Design“ abzugrenzen, welche dennoch einzelne Parameter des Gesamtkonzeptes des Designs für Alle darstellen (siehe Abb. 1).
Abbildung 1: Parameter des Designs für Alle; nach Burgstahler 2021, modifiziert und übersetzt
Das „Zugängliche Design“ und die „Barrierefreiheit/Nutzbarkeit“ sind maßgeblich rechtliche Standards bzw. DIN-Normen, welche zwar Diskriminierung reduzieren und soziale Teilhabe ermöglichen, jedoch nur für Menschen mit Beeinträchtigungen entwickelt wurden und meist Minimal- oder Speziallösungen darstellen (z. B. im Bereich Architektur, Sozialraumentwicklung). Hingegen ist das Design für Alle ein Konzept, welches für alle Menschen, unabhängig dem Vorliegen einer Beeinträchtigung, entwickelt und als gesamtgesellschaftliches Konzept verstanden wird. Es geht folglich um ein Design, welches Menschen mit unterschiedlichen Fähigkeiten, Altersstufen und Hintergründen gleichermaßen zugänglich ist (Sagramola 2016, 23).
Das Konzept des Designs für Alle bietet somit die Möglichkeit zur Herstellung einer umfassenden Barrierefreiheit. Es ist eine gestalterische Möglichkeit, Produkte, Umgebungen, Dienstleistungen und Technologien so zu konzipieren, dass diese von einem breiten Spektrum an nutzenden Personen in Anspruch genommen werden kann. Es basiert in diesem Zusammenhang auf sieben Prinzipien2, welche im Gestaltungsprozess Berücksichtigung finden sollen:
- Gleichwertige Nutzung: Die Gestaltung der Produkte und Umgebungen sollte so sein, dass alle Personen die gleiche Möglichkeit zur Nutzung haben, ohne die Notwendigkeit einer speziellen Adaption oder das Erforderlich-Sein von Hilfsmitteln.
- Flexibilität in der Nutzung: Die unterschiedlichen Bedürfnisse und Fähigkeiten der Personen werden berücksichtigt, weswegen vielfältige Nutzungsoptionen und Adaptionsmöglichkeiten angeboten werden.
- Intuitive und einfache Handhabung: Die Nutzung von Produkten oder Dienstleistungen ist einfach zu verstehen und zu bedienen. Es wird kein umfassendes Vorwissen oder eine Einführung in die Benutzung benötigt.
- Informationsverständlichkeit: Die notwendigen Informationen sind unmissverständlich und eindeutig kommuniziert, sodass alle Personen diese Informationen leicht verarbeiten können.
- Fehlertoleranz: Produkte und Dienstleistungen sind fehlertolerant konzipiert. Es bietet den Personen die Möglichkeit, Korrekturen vorzunehmen, ohne dass negative Konsequenzen zu erwarten sind.
- Geringer körperlicher Aufwand: Die Gestaltung erfolgt so, dass der körperliche Aufwand zur Nutzung minimal bleibt und es zu einer Unabhängigkeit von körperlichen Gegebenheiten kommt.
- Größe und Raum für den Zugang: Produkte und Dienstleistungen werden derartig bereitgestellt, dass alle Personen diese uneingeschränkt erreichen und nutzen können.
Anwendung findet dieses Konzept in einer Vielzahl von Bereichen, beispielsweise in der Architektur, in der Produktgestaltung, bei Verkehrssystemen und in der Kommunikation. Neben der flächendeckenden Bereitstellung von barrierefreien Zugangsmöglichkeiten zu Gebäuden durch Rampen und Aufzüge gehört auch die Bereitstellung von Barrierefreiheit durch visuelle und akustische Elemente im öffentlichen Verkehr und der barrierefreie Zugang zu Informationen via Webseiten zu den Möglichkeiten. In der konkreten Umsetzung ist es möglich, auf diverse Herausforderungen zu treffen, denn in der sehr idealistischen Berücksichtigung aller individuellen Bedürfnisse und Fähigkeiten einer sehr breiten Gruppe von nutzenden Personen kann sich die Gestaltung als hoch komplex offenbaren. Es ist nicht abwegig, dass Kompromisslösungen während des Design-Prozess gefunden werden müssen, da es nahezu unmöglich ist, allen individuellen Voraussetzungen der nutzenden Personen zu entsprechen (Henderson 2013, 71). Eben diese teils sehr speziellen Anpassungen können zu einem erhöhten Ressourcenbedarf führen, was einen Mehrbedarf an finanziellen Ressourcen mit sich bringen kann. Jedoch ist dem entgegenzusetzen, dass ein entsprechendes Konzept, welches von Anfang an an den Bedarfen der Nutzenden konzipiert wird und potenzielle Fehlentscheidung und die damit verbundenen Kosten zur Korrektur vermeiden kann, im Zuge der Nachhaltigkeit als positiv zu bewerten ist. Insgesamt bietet das Konzept eine vielversprechende Herangehensweise, welche zur inklusiven Gestaltung der Gesellschaft beiträgt, in der allen Menschen uneingeschränkte Teilhabemöglichkeiten zur Verfügung stehen. Unter der Berücksichtigung der sieben Prinzipien in der Gestaltung von Produkten, Dienstleistungen, Umgebungen und Programmen wird die Zugänglichkeit und Nutzbarkeit für eine breite Gruppe von nutzenden Personen verbessert. Neben den möglichen Herausforderungen stellt es dennoch eine wichtige Weiche auf dem Weg zu einer barrierefreien und inklusiven Gesellschaft.
Die Integration von Disability Mainstreaming und vom Design für Alle in den Prozess der Sozialraumorientierung
Die Sozialraumorientierung ist ein interdisziplinäres Handlungskonzept in der Sozialen Arbeit und der Sozialplanung. Der Fokus liegt hierbei auf der Gestaltung von Lebensräumen, in welchen Menschen leben und interagieren. Kern des Konzeptes ist der zielgerichtete und aktive Einsatz von Ressourcen und Potenzialen des jeweiligen Sozialraums und den zugehörigen Akteur*innen zur Lösung von beispielsweise sozialen Problemen vor Ort (Becker 2020, 25f.; Fürst und Hinte 2020, 12).
Für eine gelingende kooperative, multidisziplinäre Zusammenarbeit ist eine Konkretisierung eines gemeinsamen Verständnisses von „Sozialen Räumen/Sozialraum“ maßgebend. So können sozialräumliche Konstellationen prinzipiell als sich stetig (re-)produzierende, relative Gewebe in sozialer Praxis definiert werden. Sie zeichnen sich durch Vielfältigkeit sowie eine hohe Reziprozität aus und werden durch menschliches Handeln bestimmt (Kessl und Reutlinger 2022, 11). Um inklusive Prozesse in Sozialräumen zu ermöglichen und zu implementieren, bedarf es folglich einer kooperativen Prozessplanung sowie -umsetzung vor Ort und der Anerkennung der Dynamik von Sozialräumen. Sie sind grundsätzlich (regional) verschieden und veränderbar, sowohl auf persönlicher als auch gesellschaftlicher Ebene. Inklusive Sozialräume ermöglichen maßgeblich Partizipations-, Mitgestaltungs- und Teilnahmeprozesse (inkl. Teilhabe/Teilgabe) für alle innewohnenden Menschen, unabhängig von Alter, Geschlecht, sexueller Identität, Beeinträchtigung, Herkunft, Religion und Familienbiografie (Drechsler 2019, 24).
Die Integration der Konzepte des Disability Mainstreamings und des Designs für Alle eröffnet eine Vielzahl an nutzbaren Potenzialen und möglichen Synergien. So bietet das Konzept der Sozialraumorientierung einen geeigneten Rahmen, um die Prinzipien des Designs für Alle in die Gestaltung von sozialen Räumen zu integrieren. Eine barrierefreie Infrastruktur und Dienstleistungen sollten beispielsweise in die Stadtplanung einbezogen werden, wodurch sich die Möglichkeit ergibt, eine inklusive Umgebung für alle Bewohner*innen zu schaffen. Durch die Integration des Konzeptes Disability Mainstreaming ist es möglich, Menschen mit Beeinträchtigungen aktiv in die Gestaltungsprozesse des jeweiligen sozialen Raums einzubinden und die persönlichen Erfahrungen und Bedürfnisse zu berücksichtigen. Dadurch erhalten sie die Möglichkeit, an (Entscheidungs-)Prozessen teilzuhaben, die die eigene Lebensumgebung betreffen, was unweigerlich in einer faktischen Partizipation3 mündet.
Eine Schlüsselkomponente für erfolgreiche inklusive Prozesse ist die Sensibilisierung und Bewusstseinsbildung der Gesellschaft bezüglich Teilhabebeeinträchtigungen. Durch gezielte Bildungsmaßnahmen in den Sozialräumen eröffnet sich die Möglichkeit des Vorurteils-, Diskriminierungs- und Barriereabbaus und der gleichzeitigen Förderung eines positiven Verständnisses von Diversität und Heterogenität.
Herausforderung für diese Prozesse zeigen sich in der etwaigen Komplexität in Bezug auf Abstimmungs- und Koordinierungsprozesse zwischen den betreffenden Personen und Institutionen sowie in der Notwendigkeit des Bereitstellens entsprechender Ressourcen, um inklusive Maßnahmen umsetzen zu können. Insgesamt kann die Integration von Disability Mainstreaming und vom Design für Alle in die Prozesse der Sozialraumorientierung vielfältige Handlungsmöglichkeiten in Bezug auf die Herstellung inklusiver Lebensräume mit uneingeschränkten Teilhabe ermöglichen. Durch engmaschige Kooperationen verschiedener Akteur*innen sowie gezielte Sensibilisierungsprozesse kann eine inklusive Gesellschaft gefördert werden, welche Heterogenität als Ressource anerkennt. Notwendig ist jedoch eine klare politische Verpflichtung, zudem sind ausreichend zur Verfügung stehende Ressourcen sowohl personeller, finanzieller als auch räumlicher Art und eine kontinuierliche Bewusstseinsbildung unerlässlich. Die Synergien, welche durch eine gelingende Umsetzung entstehen, leisten einen wichtigen Beitrag zu einer nachhaltigen und inklusiven Gesellschaft, in der alle Menschen gleichberechtigt, unabhängig und selbstbestimmt leben können.
Gemeinsame Ziele: eine integrative und praxisorientierte Analyse
Den diskutierten Konzepten ist die Förderung inklusiver Strukturen und die Gewährleistung umfassender Partizipation aller Menschen gemein. Eine selbstverständlichere Verbindung dieser Konzepte mit gesellschaftlichen Diskursen und Transformationsthemen eröffnet die Möglichkeit einer ganzheitlichen Herangehensweise, die inklusive Prozesse grundlegend auf diversen Ebenen fördert. Dabei liegt ein Schwerpunkt auf der Stärkung von Empowerment und der Partizipation betreffender Menschen. Disability Mainstreaming betont in diesem Zusammenhang den unbedingten Einbezug von Menschen, deren Lebensrealität durch gesellschaftliche Hindernisse beeinflusst wird, in Entscheidungs- und Planungsprozesse. Durch eine sozialräumliche Orientierung kommt es zur Integration aller in die aktive Gestaltung ihres eigenen sozialen Umfeldes. In diesem Rahmen spielen vor allem Sensibilisierungsprozesse und Antidiskriminierungsarbeit entscheidende Rollen. Dies macht eine Veränderung von Denkweisen und die Anerkennung von Heterogenität erforderlich. Gezielte Bildungs- und Sensibilisierungsmaßnahmen bieten die Möglichkeit, ein positives Verständnis von Vielfalt zu fördern und Vorurteile auf individueller und institutioneller Ebene abzubauen. Dabei ist die Barrierefreiheit ein wichtiger Parameter. Teilhabehindernisse sind abzubauen, so die Forderung des Disability Mainstreaming-Konzeptes. Aus diesem Grund müssen vor allem inter-, multi- und transdisziplinäre Kooperationen angestrebt werden.
So sollten verschiedene Fach- und Erfahrungsexpert*innen zur Entwicklung barrierefreier Angebote, Dienstleistungen, Gebäude etc. unter Berücksichtigung verschiedenster Bedarfslagen beitragen, um inklusive Lösungen zu entwickeln und maßgeblich verstetigen zu können.
Inklusive Prozesse in der Praxis: demokratische Beteiligung durch Barrierefreiheit auf allen Ebenen
In Bezug auf demokratische bzw. politische Prozesse zeigt sich die Umsetzung inklusiver Prozesse vor allem in der Ermöglichung politischer Partizipation durch umfassende Barrierefreiheit. Disability Mainstreaming fokussiert den Einbezug von betreffenden Menschen in allen politischen Entscheidungsprozessen, durch beispielsweise die Schaffung barrierefreier Wahllokale sowie sprachlich adaptiertes Informationsmaterial, um eine gleichberechtigte und fähigkeitsunabhängige Teilnahme an Wahlen gewährleisten zu können. Zudem braucht es eine Ermöglichung der aktiven Beteiligung in (bestehenden) politischen Gremien, Beiräten und Ämtern. Unter dem Einsatz des Designs für Alle können politische Informationen und Diskurse in diversen Formaten (Nutzung komplexitätsreduzierter Sprache, barrierefreie Webseiten, alternative Kommunikationsmittel) bereitgestellt werden, die für alle Bürger*innen zugänglich sind. In Bezug auf eine sozialräumliche Orientierung kann durch die Implementierung inklusiver Veranstaltungen resp. Diskussionsforen eine umfassendere Partizipation von beteiligten Personen sichergestellt werden. Dies heißt auch, dass nicht nur einzelne Veranstaltungen selbst barrierefrei (baulich, kommunikativ, strukturell) aufbereitet werden, sondern ebenso alle damit verbundenen vor- und nachgeschalteten Abläufe (z. B. Raumzugangsmöglichkeiten, barrierefreie Anreisemöglichkeiten im Sozialraum).
Eine Verbindung aller drei Konzepte kann maßgeblich dazu beitragen, eine politische Landschaft zu schaffen, die inklusiv ausgerichtet ist, die Heterogenität der Bürger*innen widerspiegelt und gewährleistet, dass für alle die Möglichkeit besteht, an demokratischen Prozessen zu partizipieren. Sie kann demzufolge nicht nur die Barrierefreiheit in politischen Strukturen fördern, sondern bietet die Möglichkeit, ein demokratisches Empowerment und die Partizipationsmöglichkeiten aller Mitglieder der Gesellschaft manifestieren.
Herausfordernde Perspektiven für eine gelingende Kooperation von Fachkräften und Selbstvertretungen?
Die Integration aller drei Konzepte ist naturgemäß mit Herausforderungen, vor allem hinsichtlich der Ressourcenverteilung, verbunden. Jedoch bietet diese integrative Herangehensweise die Möglichkeit, die Vision einer inklusiv ausgerichteten Gesellschaft zu fördern und Barrieren abzubauen.
Inklusive Prozesse können in ihren einzelnen Bestandteilen nicht isoliert betrachtet werden, sondern fordern grundsätzlich eine umfassende, kontextgebundene und integrative Herangehensweise zur gelingenden Umsetzung.
Fixpunkt inklusiver Prozesse ist die Kooperation von Fachleuten aus unterschiedlichsten Disziplinen (Bildung, Gesundheit, Pädagogik, Architektur, Stadtplanung etc.) und den Verbänden sowie Vereinen der Selbstvertretung. Es bedarf folglich einer gemeinsamen Sprache, eines gemeinsamen Verständnisses zur effektiven Zusammenarbeit, die vorurteilsfrei und respektvoll gestaltet wird. Dabei gilt es vor allem Machtungleichgewichte aufzulösen und eine Kultur der Zusammenarbeit und Mitbestimmung auf allen Ebenen zu fördern, sodass Fachkräfte und Selbstvertretungen gleichermaßen an Prozessen beteiligt und in ihrer jeweiligen Expertise anerkannt werden. Verbände und Vereine der Selbstvertretung und Fachkräfte können unterschiedliche Interessen und Perspektiven aufweisen. Durch eine gelingende kooperative Zieldefinition und grundlegende Lösungsorientierung kann eine positive Zielerreichung gewährleistet werden. Die Überwindung aller Herausforderungen bedarf eines bewussten und stetigen Dialogs zwischen allen beteiligten Personen sowie die Schaffung von barrierefreien Räumen für konstruktive Diskussionen.
Die Erkenntnisse dieser integrativen Analyse sollen dazu beitragen, das Verständnis für die Bedeutung von Inklusion und Barrierefreiheit zu stärken und Handlungsoptionen aufzeigen, wie inklusive Prozesse verwirklicht werden können. Die Integration der drei Konzepte bietet einen vielversprechenden Ansatz, um eine Gesellschaft zu gestalten, in der Diversität als Ressource verstanden und in der allen Menschen eine selbstbestimmte Lebensführung ermöglicht wird.
1 Vgl. die Schattenübersetzung (Präambel, S. 7), Netzwerk Artikel 3 e. V. unter: https://www.nw3.de/attachments/article/130/BRK-Schattenuebersetzung-3-Auflage-2018.pdf.
2 Copyright 1997 NC State University, The Center for Universal Design (https://design.ncsu.edu/research/center-for-universal-design/).
3 Teilhabe wird hier als das Einbezogensein in eine bestimmte Lebenssituation verstanden, Partizipation als die Beteiligung von Menschen an Entscheidungsprozessen und Einflussnahme auf Ergebnisse (Straßburger und Rieger 2014, 230).
Julia Fischer, Heilpädagogin B. A., Sonder- und Integrationspädagogin M. A., Doktorandin, Erziehungs- und Bildungswissenschaft, Universität Marburg/Vorstand LIGA Selbstvertretung Thüringen e. V.
Literaturverzeichnis
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Becker, Martin (Hg.). (2020). Handbuch Sozialraumorientierung. Stuttgart, Verlag W. Kohlhammer.
Burgstahler, Sheryl (2021). Universal Design: Process, Principles, and Applications. How to apply universal design to any product or environment. DO-IT Seattle, University of Washington. Online verfügbar unter www.washington.edu/doit/sites/default/files/atoms/files/Universal_Design_04_12_21.pdf (abgerufen am 13.11.2023).
Drechsler, Christiane (2019). Begegnungs-Räume: Begegnung und Beziehung in Inklusionspartnerschaften: alternative Formen der Gestaltung von Beziehungen in inklusiven Sozialräumen. Dornach, Verlag am Goetheanum.
Fürst, Roland/Hinte, Wolfgang (Hg.). (2020). Sozialraumorientierung 4.0: Das Fachkonzept: Prinzipien, Prozesse & Perspektiven. Wien, Facultas.
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Kessl, Fabian/Reutlinger, Christian (Hg.). (2022). Sozialraum: Eine elementare Einführung. Wiesbaden, Springer VS.
Sagramola, Silvio (2016). Design for all (Behinderung für alle). forum-Dossier 366, 23–26.
Spörke, Michael (2013). Disability Mainstreaming. In: Lars Bruhn/Jürgen Homann (Hg.). UniVision 2020: Ein Lehrhaus für alle, Perspektiven für eine barriere- und diskriminierungsfreie Hochschule. Freiburg, Centaurus.
Straßburger, Gaby/Rieger, Judith (Hg.). (2014). Partizipation kompakt: für Studium, Lehre und Praxis sozialer Berufe. Weinheim Basel, Beltz Juventa.
Wacker, Elisabeth (2013). Überall und nirgendwo – „Disability Mainstreaming“ im kommunalen Lebensraum und Sozialraumorientierung als Transformationskonzept. In: Minou Banafsche/Ulrich Becker/Elisabeth Wacker (Hg.). Inklusion und Sozialraum, Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, 25–47.
Waldschmidt, Anne (Hrsg.). (2022). Handbuch Disability Studies. Wiesbaden, Springer Fachmedien.