Die Wirksamkeit des Trialogs zur Entstigmatisierung von Menschen mit psychischen Krisenerfahrungen am Beispiel des Vorurteilsfrei e. V.


In diesem Beitrag werden die Gründung, Ziele und Einzelprojekte des Vorurteilsfrei e. V. dargestellt. Das Autor*innenteam mit vielfältigen Perspektiven auf psychische Krise berichtet von der praktischen Umsetzung von Projekten zur Entstigmatisierung von Menschen mit psychischen Krisenerfahrungen. Die Bedeutung von Stigmatisierung wird vorab theoretisch eingeordnet, um anschließend das Beteiligungsformat des Trialogs darzustellen. Es werden die Projekte mit Polizeikräften in Ausbildung und bei der Problematisierung der sozialrechtlichen Regelung der Blockfrist beschrieben und durch Erfahrungswerte von Projektteilnehmer*innen beleuchtet. Insgesamt zielen die trialogischen Aktivitäten des Vorurteilsfrei e. V. auf eine Stärkung, Gestaltung und Schaffung von inklusiven, nicht stigmatisierenden Strukturen für Menschen mit psychischen Krisenerfahrungen ab.


 

Empfohlene Zitierung:

Vorurteilsfrei e. V. (2024). Die Wirksamkeit des Trialogs zur Entstigmatisierung von Menschen mit psychischen Krisenerfahrungen am Beispiel des Vorurteilsfrei e. V. In: Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (Hg.). Wissen schafft Demokratie. Schwerpunkt Behindernde Gesellschaft, Band 15. Jena, 190–201.

Schlagwörter:

Stigmatisierung, partizipative Forschung, Blockfrist, Trialog, Polizeiintervention

 

Die trialogische Initiative Vorurteilsfrei e. V.

Die trialogische Initiative Vorurteilsfrei e. V. versucht die gesellschaftliche Akzeptanz von psychischen Krisenerfahrungen zu verbessern und Stigmatisierung gegenüber betroffenen Menschen zu verringern.

Die Gründung als trialogische Arbeitsgruppe erfolgte 2021 und wurde in Vereinsstrukturen überführt. Die Gruppe arbeitet prozessorientiert, auf Basis von Konsensentscheidungen und unter Leitung von Menschen mit eigener Krisenerfahrung. Das gewählte Beteiligungsformat des Trialogs vereint a) Perspektiven von Menschen mit eigener Krisenerfahrung, b) Perspektiven von deren Angehörigen und Freund*innen und c) Perspektiven von Menschen, die professionell im psychosozialen und psychiatrischen Hilfssystem arbeiten (Sozialarbeit, Psychiatrie, Psychotherapie, etc.). Dieser wirkungsvolle Ansatz zur Entstigmatisierung ermöglicht Partizipation nicht nur in Forschungsprojekten, sondern kann auch in zivilgesellschaftlichen, institutionellen und politischen Arbeitsprozessen aktiv zu einer offeneren und inklusiveren Gesellschaft beitragen. Die Erkenntnisse der Forschung zu Stigmatisierung verdeutlichen, dass die Arbeit zur Entstigmatisierung nur durch und mit eigenen Erfahrungen mit psychischen Krisensituationen erfolgreich und nachhaltig gelingt (Dalky 2012; Pomowski 2018; Corrigan 2012). Die Arbeit wird als praktische Umsetzung der vorhandenen Forschungsergebnisse gelebt und soll den wissenschaftlichen Diskurs mit seiner Perspektivenvielfalt bereichern.

Stigmatisierung als vielfältig behinderndes Phänomen

An dieser Stelle wird das Phänomen der Stigmatisierung konzeptuell beleuchtet, um die Wirkmächtigkeit dieser Strukturen zu verdeutlichen und damit die Arbeit des Vorurteilsfrei e. V. theoretisch zu skizzieren.2

Der Prozess der Stigmatisierung von Menschen mit psychischen Krisenerfahrungen kann grundlegend als eine abwertende Haltung und Reaktion aufgrund von Vorurteilen und Stereotypen beschrieben werden, die mit psychiatrischen Diagnosen in Verbindung stehen (Corrigan et al. 2005). Stigmatisierung ist ein dynamischer Prozess, wie bevölkerungsrepräsentative Langzeiterhebungen zeigen. Für Menschen mit der Diagnose Depression ist seit dem Erhebungsbeginn in den 1990er-Jahren das Verständnis stärker und die Ablehnung geringer geworden. Jedoch zeigt sich eine Zunahme der Stigmatisierung für Menschen mit der Diagnose Schizophrenie und Abhängigkeitserkrankungen, denen mit stärkerer Ablehnung und geringerem Verständnis begegnet wird (Schomerus et al. 2022). Die Konsequenzen können – diagnoseunabhängig – einen schwerwiegenden zusätzlichen Leidensdruck verursachen und zu einer „zweiten Erkrankung“ werden (Finzen 2013, 7).

Man unterscheidet zwischen öffentlicher Stigmatisierung, Selbststigmatisierung und struktureller Stigmatisierung, die sich wechselseitig beeinflussen und je nach Art des Stigmas unterschiedlich bedeutsam werden (Phelan et al. 2008). Öffentliche Stigmatisierung basiert auf Stereotypen, die mit Vorurteilen verbunden werden und anschließend zur Diskriminierung führen. Beispielweise kann die Annahme von Inkompetenz und Unzuverlässigkeit, die mit psychischer Krisenerfahrung assoziiert wird, zur Benachteiligung im sozialen und beruflichen Umfeld führen (Rüsch et al. 2005). Selbststigmatisierung beruht auf der Übernahme von Vorurteilen auf die eigene Person. Folgen können sozialer Rückzug, Selbstvorwürfe sowie Schuld- und Schamgefühle sein (Gaebel et al. 2017). Die strukturelle Stigmatisierung betrifft gesetzliche und institutionelle Vorgaben, die zu einer Benachteiligung aufgrund der Klassifizierung als erkrankter Mensch führen können. Eine berufliche Laufbahn als Beamt*in oder der Abschluss von Versicherungsverträgen wird dadurch verweigert. Diese Stigmatisierungsprozesse haben gesellschaftlich vielfältige Funktionen – zur eigenen Identitätssicherung, zur Gruppenbildung und sie dienen als Kontrollfunktion gegenüber stigmatisierten Personen (Rüsch et al. 2021, 58–66).

Der Trialog als inklusives Beteiligungsformat

Durch den Trialog soll eine gleichberechtigte und wertschätzende Begegnung aller Perspektiven entstehen, die wechselseitiges Lernen voneinander ermöglicht (Bock 2013). Auf diese Weise können nachhaltig tragfähige Lösungen in allen relevanten Themenbereichen der Versorgung, Forschung und Politik erarbeitet werden. Im Kontext der Vereinsarbeit von Vorurteilsfrei e. V. ist der Trialog fest verankert. Durch kontinuierliche und sensible Kommunikation wurden Unsicherheiten ernst genommen und gemeinsame Bewältigungsstrategien entwickelt, die recovery-orientierte Ansätze2 einfließen lassen (Amering und Schmolke 2012; Zuaboni 2019). Vor allem die flexible und bedürfnisorientierte Gestaltung der Abläufe und Diskussionen führen zu einem konstruktiven und unterstützenden Umfeld. Als Grundsatz für alle Treffen gilt ein Leitfaden für einen sicheren Arbeitsraum, der gemeinsam erarbeitet wurde.

Trialog aus Betroffenenperspektive

Juna Kern, als Betroffene von psychischen Krisenerfahrungen und Sozialarbeiterin, beschreibt nachstehend ihre ambivalenten Erfahrungen mit dem Trialog als Beteiligungsformat:

„In meinem beruflichen Alltag in der sozialpädagogischen Familienhilfe hatte ich bereits vor meiner eigenen Krisenerfahrung Kontakt mit Arbeitsprozessen im Trialog. Allerdings war diese Arbeit stark von institutionellen Regularien beeinflusst und nur als Trialog auf dem Papier sichtbar.

Bei meinem Engagement für Vorurteilsfrei e. V. war ich durch diese Erfahrungen sensibilisiert. In der Vereinsarbeit ist mir und anderen Mitgliedern immer wieder deutlich geworden, wie wichtig es ist, unsere eigenen Erfahrungen und Betroffenheit als wertvolle Ressource einzubringen. Die Beobachtung, dass psychiatrische Fachkräfte dazu neigen, sich auf eine betont theoretische Perspektive zu beschränken, die eine Distanz zu den tatsächlichen Erfahrungen der Betroffenen schafft, habe auch ich während meiner Klinikaufenthalte erlebt. Oftmals fühlte ich mich machtlos gegenüber einer großen Anzahl von Ärzt*innen, während der Visiten oder bei Gruppenangeboten mit Teilnahmepflicht.

Mit diesen Erfahrungen sind die Teilnahme am Polizeiprojekt und am Forschungsprojekt mit einer Universitätsklinik wichtige Schritte, um einen Trialog und die damit verbundene Entstigmatisierung zu leben. Die Erfahrung, trotz eigener Herausforderungen aktiv zu werden und von einer passiven zu einer aktiven Rolle zu wechseln, hat dazu beigetragen, meine seelische Gesundheit schrittweise zu verbessern. Ich habe ähnliche Gedanken auch bei anderen Betroffenen wahrgenommen.

Durch mein Engagement hatte ich zum ersten Mal seit vielen Jahren das Gefühl, dass meine Pläne und Ideen realistisch umsetzbar sein könnten. Ein weiteres Motiv war der Wunsch, meine berufliche Tätigkeit wieder stärker zu leben. Mir fehlte der wissenschaftliche Aspekt, der theoretische Teil meiner Arbeit, der mir in den letzten Jahren aufgrund meiner Krankheit verloren gegangen war.

Es reicht nicht aus, nur über Partizipation zu diskutieren. Stattdessen muss ein kontinuierlicher Austausch auf Augenhöhe zwischen allen Beteiligten stattfinden. Im Rahmen der Arbeit von Vorurteilsfrei e. V. durfte ich erfahren, wie Psychiater*innen auf Augenhöhe kommunizieren und sich ernsthaft für die gemeinsame Verbesserung der stigmatisierenden Strukturen einsetzten. Ich wünsche mir, dass trialogisches Arbeiten auf allen Ebenen der Versorgung und Forschung zu psychischen Krisenerfahrungen selbstverständlich eingebunden wird.“

Trialog aus psychiatrischer Perspektive

Klara Bednasch, Psychiaterin und Gründungsmitglied der Initiative Vorurteilsfrei, berichtet nachstehend von Ihren Erfahrungswerten mit einer trialogischen Beteiligung:

„Ich nehme vorrangig die Rolle der ‚Professionellen‘ ein und fühle mich in dieser Rolle gesehen und wertgeschätzt. Dabei stellt sich gelegentlich ein schlechtes Gewissen ein, weil ich nicht das Gefühl habe, dies verdient oder erarbeitet zu haben. Vielmehr zeigt sich dadurch aber wiederum, wie grundlegend das Vorhandensein von Respekt und Wertschätzung, Offenheit und Neugier als Kernelemente des Trialogs, die Begegnung und das voneinander Lernen ermöglichen. Dazu erscheinen mir ein fester Rahmen und ein sicherer Raum – tatsächlich im pragmatischen Sinn – notwendig für den Austausch. Darüber hinaus gelten aber vor allem ganz simpel gewöhnliche Regeln eines Gruppengesprächs, wie ‚sich ausreden lassen‘ und ‚einander zuhören‘. Für mich persönlich sollte dieses Momentum, das im Trialog entsteht, so gewöhnlich wie möglich sein.

Als Herausforderung sehe ich, die eigenen Privilegien präsent zu halten und diese zu reflektieren, mich nicht darauf ‚auszuruhen‘. Dabei hilft es mir, eigene Krisenerfahrungen zu vergegenwärtigen.

Im Rahmen der Polizeiintervention des Vorurteilsfrei e. V. habe ich einige Erfahrungen aus dem Klinikalltag teilen können, mit dem Ziel, auf das Krankenhaus als hochsensiblen Raum aufmerksam zu machen. Damit hatte sich der Großteil der Polizeischüler*innen offenbar noch nicht auseinandergesetzt, sodass sich der Aspekt bereichernd darstellte. Gleichzeitig habe ich eine Tendenz der Polizeischüler*innen festgestellt, sich mit Fragen eher an mich zu wenden. Ich möchte ungern Unsicherheit unterstellen, die möglicherweise davon abhielt, Betroffene anzusprechen. Für die folgenden Interventionen konnte ich dies in die Diskussion innerhalb der Vorbereitungsgruppe einbringen. Eine solche Tendenz werden wir zukünftig früher anzusprechen, um den Trialog wirksam in allen Interventionsveranstaltungen gleichberechtigt einzubringen.

Ich halte es für notwendig, den Trialog fest zu etablieren. Insbesondere in der Forschung wünsche ich mir das und halte es für notwendig, um den wissenschaftlichen Horizont zu erweitern und so der routiniert stattfindenden und durch sogenannte ‚Profis‘ vorgenommenen Selektion von Fragestellungen entgegenzuwirken. Die Entwicklung von Fragestellungen von Personen, die auf das Hilfesystem angewiesen sind, kann diese nur bereichern. Zudem habe ich selbst bei diesem Projekt schon unvergleichliche Einblicke erhalten, die ich bisher keinem Buch und keinem Paper entnehmen konnte, welche mich aber dennoch in meiner täglichen Praxis weiterbringen. Dafür bin ich so dankbar, dass ich die trialogische Forschung in Zukunft am liebsten noch fester verankert sähe in der transnationalen und internationalen Wissenschaft.“

Arbeitsschwerpunkte des Vorurteilsfrei e. V.

Die Inhalte der Arbeit liegen in der betroffenengeleiteten Forschung und Interventionen, der sozialrechtlichen Regelung der Blockfrist (limitierter Krankengeldanspruch) und Veranstaltungen. Nachfolgend werden die Projekte mit der Polizei und im Bereich des Sozialrechts zur Bearbeitung der Blockfrist genauer dargestellt. Dabei vermitteln Erfahrungsberichte praktische Einblicke in die Arbeit.

Betroffenengeleitete Forschung und Intervention

Zu Beginn der Arbeit des Vorurteilsfrei e. V. wurde das betroffenengeleitete Forschungsprojekt mit Polizeischüler*innen geschaffen. Fokus liegt dabei auf der Erfassung der Wirksamkeit der angebotenen trialogischen Intervention in Bezug auf Stigmatisierung von Menschen mit psychischen Krisenerfahrungen während des Polizeikontakts.

Relevanz des polizeilichen Einsatzkontakts mit Menschen in psychischer Krisensituation

Der polizeiliche Einsatzkontakt mit Menschen in psychischer Krisensituation kommt häufig vor. Aktuelle Erhebungen zeigen, dass etwa 35 % der Kontakte mehrfach wöchentlich und 44 % mehrfach monatlich auftreten, wobei viele dieser Einsätze konfliktreich sind. Die Polizei selbst nimmt eine Zunahme dieser Einsätze wahr: 45 % berichten eine moderate und 34 % eine starke Zunahme (Wittmann 2021). In diesen Einsätzen kommt es zu einem überproportionalen Gebrauch von Schusswaffen mit tödlichen Folgen (Bock et al. 2015; Finzen 2014).

Ein weiteres Problem besteht darin, dass Polizist*innen im mittleren Dienst oft nicht spezifisch für den Umgang mit psychisch krisenbehafteten Personen ausgebildet sind. Weder die Einsatztrainer*innen noch die Ausbildenden verfügen über tiefergehende Fachkenntnisse im Umgang mit psychisch auffälligem Verhalten. Eine umfassendere theoretische Auseinandersetzung mit dem Thema ist jedoch Teil des Bachelorstudiums im gehobenen Polizeivollzugsdienst (Haendschke 2022, 875).

Intervention bei Polizeikräften in Ausbildung

Das von Menschen mit eigener Krisenerfahrung geleitete Forschungsprojekt zur Wirksamkeit von trialogischen Interventionen bei Polizeischüler*innen aus Leipzig orientiert sich an den Ergebnissen der trialogischen Polizeischulungen durch Irre Menschlich e. V. sowie durch das Anti-Stigma Bündnis BASTA (Pomowski 2018; Wittmann et al. 2021) und startete 2021. Zur Erfassung von allgemeinen und stigmatisierenden Haltungen von Polizeischüler*innen wurden ein Fragebogen erstellt, welcher vor und nach der Intervention erhoben wird. Ein wesentlicher Fokus der Erstellung wurde auf das Einbringen relevanter Erfahrungswerte von Menschen mit psychischer Krisenerfahrung im Polizeikontakt gelegt. Die Interventionen erfolgen in Zusammenarbeit mit der Betroffeneninitiative Durchblick e. V. Der Ablauf umfasst eine geleitete Führung durch das Sächsische Psychiatriemuseum und anschließend einen trialogischen Austausch zwischen Polizeischüler*innen, Professionellen, Angehörigen sowie Personen mit psychischen Krisenerfahrungen. In diesem wird über die Tragweite sowie wirksame Lösungsansätze und -strategien im Kontakt von Menschen in psychischer Krise während eines Polizeieinsatzes diskutiert. Die Ergebnisse der Befragung und die Rückmeldung der Teilnehmenden bestätigen die bisherigen positiven Forschungsergebnisse in diesem Bereich und deuten einerseits auf eine Reduktion der stigmatisierenden Haltungen von Polizeischüler*innen und anderseits auf den großen Schulungsbedarf in diesem Bereich hin. Darüber hinaus wird die aktive Teilnahme durch Menschen mit eigener Krisenerfahrung als selbstwirksam und bestärkend beschrieben.

Die Blockfrist als strukturelle Stigmatisierung

Im Bereich des Sozialrechts konnte die Regelung der sogenannten Blockfrist als strukturelle Stigmatisierung für Menschen mit länger andauernder Krisenerfahrung identifiziert werden. In der Sozialgesetzgebung ist ein Krankengeldanspruch von maximal 78 Wochen aufgrund derselben Erkrankung innerhalb eines Zeitraums von drei Jahren verankert (SGB V §48). Dies kann zu einer Aussteuerung führen, die nicht nur ein Ende der Krankenversicherung, sondern auch den Wegfall von Sozialleistungen bedeutet. Für betroffene Menschen bedeutet dies einen Wegfall von lebenswichtigen Leistungen und eine komplexe sozialrechtliche Konstellation, die in der Regel zu weitreichenden Konsequenzen und zu einer deutlichen Verschlechterung der gesamten Lebenssituation der Betroffenen führen kann.

Seit 2021 wird an einer Stellungnahme gearbeitet, die diesen Umstand als unzumutbar für Menschen in einer langen Krankheitsphase beschreibt und zielgerichtete, ressourcenorientierte Lösungen fordert. Der Grundgedanke der Blockfrist ist weder zeitgemäß noch der UN-BRK entsprechend und stigmatisiert Menschen mit chronischem bzw. rezidivierendem Krankheitsverlauf. Es sind Kooperationen mit relevanten Organisationen der Selbsthilfe und psychosozialen Versorgung geplant, um eine Petition für eine entsprechende Gesetzesänderung vorzubereiten

Auswirkungen der strukturellen Stigmatisierung der Blockfrist

Der nachfolgende Erfahrungsbericht mit der Blockfrist von Jeplahodin Maiwald* zeigt die Herausforderungen, denen sich Menschen mit psychischen Krisenerfahrungen stellen müssen, und die Notwendigkeit, das Sozialsystem transparenter und unterstützender zu gestalten:

„Ich erinnere mich, wie die Blockfrist in einem Nebensatz während eines meiner unzähligen Beratungs- oder Behördengespräche erwähnt wurde. Der Ton war ernst: ‚Aber passen Sie wohl auf die Blockfrist auf.‘ Aus Angst vor einer Blamage wagte ich keine Nachfrage, um nicht als inkompetent oder uninformiert zu gelten. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt keine Ahnung, welcher Weg vor mir lag. Nach 66 Tagen in der geschlossenen Klinik, 254 Tagen auf der offenen Station und einem Rehabilitationsaufenthalt nach meinem Rückfall wurde mir klar, dass der folgende Behördendschungel, die komplexen Anträge und die vielfältigen Anlaufstellen des deutschen Sozialsystems eine Herausforderung sein würden.
An eine aktive Auseinandersetzung mit spezifischen Regelungen, wie der Blockfrist, war zu diesem Zeitpunkt nicht zu denken. Die Schwere meiner postpsychotischen Depression belastete mich schwer. Sie vernebelte meinen Geist, raubte mir die Luft zum Atmen und beschwerte mich in all meinem Sein mit Bleigewichten. Früh aufzustehen und mich für den Tag fertigzumachen, schien eine schier unmögliche Aufgabe. Ich führte ein Tagebuch, um die banalsten Alltagserrungenschaften festzuhalten und mir vor Augen zu führen, dass ich Fortschritte machte.

Doch die Unsicherheit über meine berufliche Zukunft und die Sorge darüber, wie ich meinen Lebensunterhalt bestreiten sollte, nagten weiterhin an mir. Der Besuch bei einem Gutachter der BfA brachte weitere Ängste und Unsicherheiten mit sich. Trotzdem erhielt ich die Nahtlosigkeit bewilligt, allerdings unter der Auflage, einen Rentenantrag zu stellen.

Die Zeit verging, und ich kämpfte weiterhin mit bürokratischen Hürden und der Unsicherheit über meine Zukunft. Die Mitteilung über meinen Grad der Behinderung und die Möglichkeit einer Werkstatt für Menschen mit dem Status der Behinderung machten mir bewusst, wie sehr meine Erkrankung mein Leben beeinflusste. Ich fühlte mich unverstanden und alleingelassen in meinem Bestreben, wieder in den Arbeitsmarkt einzusteigen.

Die Feststellung der Gutachter, dass ich mich von meinen beruflichen Träumen verabschieden und eine neue berufliche Richtung einschlagen müsse, traf mich hart. Trotzdem entschied ich mich gegen die Eingliederung in eine Werkstätte für Menschen mit dem Status der Behinderung und für die Fortsetzung meines beruflichen Weges.

Fünf Jahre später blicke ich zurück und sehe, dass ich die Blockfrist überwunden habe. Trotz der Unsicherheit und des Drucks, innerhalb der Frist zu bestehen, nahm ich ein Jobangebot an und zog meinen Rentenantrag zurück. Doch dieser berufliche Neuanfang war geprägt von Angst – der Angst, wieder zu erkranken innerhalb der noch laufenden Blockfrist. Ein ganzes Jahr musste ich noch im Job bestehen, um nicht an dieser starren Frist des Sozialsystems zu scheitern. Es stresste mich zusätzlich und machte mich verletzlich, es war wie neben einem Abgrund laufen zu müssen. Diesen Ärger teilte ich irgendwann mit einem nahestehenden Menschen. Dieser Mensch animierte mich für mein sozialpolitisches Engagement. Seit der Gründung als Arbeitsgruppe Vorurteilsfrei setzte ich mich für die Problematisierung der Blockfrist ein und koordiniere die gemeinsame Arbeit, um gemeinsam und langfristig eine Veränderung herbeizuführen.“

Fazit

Die Erkenntnisse und Erfahrungen zeigen, dass die Einbindung persönlicher Perspektiven und die Schaffung inklusiver Arbeitsstrukturen entscheidend für den Erfolg von Projekten im Bereich der Entstigmatisierung von Menschen mit psychischer Krisenerfahrung sind. Der Vorurteilsfrei e. V. setzt sich dafür ein, diese Erkenntnisse nicht nur in der Forschung, sondern auch in der gesamten Gesellschaft zu verankern.
Alle Ergebnisse und Prozesse werden frei zugänglich auf der Website (www.vorurteilsfrei.org) zur Verfügung gestellt und sollen zu einer Umsetzung der UN-BRK in der Gesellschaft beitragen.


 

Im Gedenken an Aljoscha Priese

 

 

1 Für eine tiefergehende theoretische Auseinandersetzung verweisen wir insbesondere auf die Dissertationsschrift von Svenja Thornau (Thornau 2023).

2 Recovery im Sinne individueller und ressourcenorientierter Wege, um mit einer persönliche Krisenerfahrung umzugehen. Selbstbestimmung, Partizipation und Empowerment nehmen eine wesentliche Bedeutung ein, während diese Faktoren in konservativen Therapieansätzen einen geringen Stellenwert einnehmen (Amering und Schmolke 2012).

 


Nicolai Hojka, Perspektiven aus eigener Krisenerfahrung und als Angehöriger, Projektkoordinator Forschung und Intervention und Vorstand Vorurteilsfrei e. V.
Jeplahodin Maiwald*, Perspektiven aus eigener Krisenerfahrung, Sachbearbeiterin, Projektkoordinatorin Blockfrist Vorurteilsfrei e. V.
Juna Kern*, Perspektiven aus eigener Krisenerfahrung und als Angehörige, Sozialarbeiterin
Klara Bednasch, Ärztin in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums in Leipzig
Elisabeth Fukerider, Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin für Verhaltenstherapie (in Ausbildung), Perspektiven als Angehörige, Schatzmeisterin Vorurteilsfrei e. V.

Alle Autor*innen sind Gründungsmitglieder des Vorurteilsfrei e. V. und engagieren sich in diesem Rahmen für die betroffenen-geleiteten und partizipativen Forschungsprojekte und weitere Aktivitäten. *Pseudonyme: Die Namen sind dem Autor*innenteam bekannt.


 

Literaturverzeichnis

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Zuaboni, Gianfranco (2019). Recovery und psychische Gesundheit. Grundlagen und Praxisprojekte. Köln, Psychiatrie Verlag.

Ich hoffe, dies entspricht Ihren Erwartungen. Wenn Sie weitere Fragen oder Anliegen haben, stehe ich gerne zur Verfügung.

Hier sind die Einträge mit Absätzen dazwischen, unverändert:

Amering, Michaela/Schmolke, Margit (2012). Recovery. Das Ende der Unheilbarkeit. 5. Aufl. Bonn, Psychiatrie Verlag.

Bock, Thomas (2013). Trialog als Grundhaltung. In: Peter Weiß/Andreas Heinz (Hg.). Gleichberechtigt mittendrin - Partizipation und Teilhabe. Tagungsdokumentation Berlin, 6./7. November 2012. Bonn, Aktion Psychisch Kranke, 62–76.

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Bundesministerium für Justiz (1988). Das Fünfte Buch Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Krankenversicherung. SGB V, vom Zuletzt geändert durch Art. 5 G v. 20.12.2022 I 2759.

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Rüsch, Nicolas/Heland-Graef, Martina/Berg-Peer, Janine (2021). Das Stigma psychischer Erkrankung. Strategien gegen Ausgrenzung und Diskriminierung : wissenschaftsbasiertes Sachbuch. München, Elsevier.

Schomerus, Georg/Schindler, Stephanie/Sander, Christian/Baumann, Eva/Angermeyer, Matthias C. (2022). Changes in mental illness stigma over 30 years - Improvement, persistence, or deterioration? European Psychiatry 65 (1), e78. doi.org/10.1192/j.eurpsy.2022.2337.

Thornau, S.W.U. (2023). Zwischen Stigmatisierung und disease comfort – Krankheitskonzepte und ihre Implikationen für Psychiatrieerfahrene. Freie Universität Berlin.

Wittmann, Linus (2021). Braucht die Polizei multiprofessionelle Ansätze für die Interaktion mit psychisch erkrankten Menschen? Poliz Wiss 01:24–29. Poliz Wiss 01, 24.

Wittmann, Linus/Dorner, Robert/Heuer, Imke/Bock, Thomas/Mahlke, Candelaria (2021). Effectiveness of a contact-based anti-stigma intervention for police officers. International Journal of Law and Psychiatry 76, 101697. doi.org/10.1016/j.ijlp.2021.101697.

Zuaboni, Gianfranco (2019). Recovery und psychische Gesundheit. Grundlagen und Praxisprojekte. Köln, Psychiatrie Verlag.