Politischer Aktivismus, Inklusion und Intersektionalität
Politischer Aktivismus zeigt sich in Deutschland aktuell u. a. durch die Fridays-for-Future-Bewegung zum Thema Klimakrise. Aktivist*innen mit Behinderungserfahrungen bringen dabei die Lage von Menschen mit Behinderungen im Zusammenhang mit der Klimakrise in die Diskurse ein. Deren besondere Betroffenheit zeigte sich beispielsweise durch den Tod von zwölf Bewohner*innen einer Einrichtung der Lebenshilfe bei der Flutkatastrophe im Ahrtal 2021: Menschen mit Behinderungen können bei Katastrophen nicht so leicht flüchten, sind ggf. schwerer mobilisierbar und evakuierbar. Bestimmte Ressourcen und Mobilität sind demnach bei extremen Wetterereignissen notwendige Fähigkeiten, bei denen Menschen mit Behinderungen benachteiligt sind (EU General Assembly 2022). Auch während der Corona-Pandemie wurde deutlich, dass die Situation von Menschen mit Behinderungen bei den Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie nicht ausreichend berücksichtigt wurde (u. a. das Risiko eines schweren Verlaufs, Besuchsverbote in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe) (DIMR 2021). Das Thema Triage im Rahmen der Pandemie zeigte die Bedeutung des Einbezugs von Menschen mit Behinderung im Rahmen politischer (und medizinischer) Entscheidungen: Das Bundesverfassungsgericht wies darauf hin, dass die Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen oft von unbewussten Stereotypisierungen geprägt sei und hierdurch das Risiko einer Benachteiligung behinderter Menschen vonseiten der Ärzt*innen mit sich bringen könne (vgl. BVerfG, 16.12.2021). Umso wichtiger ist es demnach, Betroffenenverbände einzubeziehen.
Politischer Aktivismus bedeutet Partizipation von Bürger*innen an politischen Prozessen. Politisch aktive Menschen mit Behinderungen (auch: Inklusions-Aktivist*innen) oder in Betroffenenverbänden organisierte Menschen mit Behinderung erweitern dabei die Perspektiven zugunsten der Beachtung menschlicher Vielfalt. Diese Form der Partizipation kann ein bedeutsamer Teil der Weiterentwicklung von Demokratien zugunsten von mehr Gleichberechtigung sein. Das zeigt auch ein historischer Blick in die westdeutsche Behinderten- und Frauenbewegung: Menschen mit Behinderungen prangerten in der mit der subversiven Bezeichnung „Krüppelbewegung“ benannten Emanzipationsbewegung bereits in den 1970er-Jahren Benachteiligungen und Stigmatisierungen behinderter Menschen an und legten damit den Grundstein für die Entstehung der UN-Behindertenrechtskonvention (BRK), die im direkten Zusammenhang mit jahrzehntelang andauerndem politischen Aktivismus steht (Degener 2015). Das Motto der UN-BRK „nothing about us – without us“ kommt also nicht von ungefähr, sondern ist historisch begründet und spiegelt zugleich die Notwendigkeit des Einbezugs der Perspektive von Menschen mit Behinderung bei allen sie betreffenden Belangen wider. Etwa zur gleichen Zeit forderte die zweite Welle der Frauenbewegung in Westdeutschland mehr Gleichberechtigung und prangerte Gewalt und Benachteiligung an. Sie brachte die Gesellschaft dazu, über den sozialen Anteil von Geschlecht (gender) als Ungleichheitsfaktor nachzudenken, der heute (weitgehend) selbstverständlich ist.
Frauen mit Behinderungserfahrungen, die sich weder im Mainstream der Frauenbewegung der 1970er-Jahre noch im Rahmen der Behindertenbewegung mit ihren Themen und Anliegen repräsentiert sahen, beschrieben ihre mehrdimensionalen Diskriminierungserfahrungen. Diese (sowie auch migrantische, jüdische und Schwarze Frauen) zeigten hiermit nicht nur die Bagatellisierung oder Nicht-Beachtung ihrer Lebenssituationen im Mainstream der Emanzipationsbewegungen auf. Sie legten damit auch den Grundstein für Weiterentwicklungen in Forschungszusammenhängen: Nach der Entstehung und Etablierung der Gender Studies ist u. a. hierdurch angestoßen inzwischen eine Weiterentwicklung zur Intersektionalitätsforschung1 zu verzeichnen (Schramme 2022). Nicht nur eine Kategorie (Geschlecht oder Behinderungen) prägt demnach die Lebenslagen, Partizipations- und Teilhabechancen, aber auch Diskriminierungserfahrungen von Personen, sondern ihre Wechselwirkungen. Beim Thema Klimakrise, aber auch beim Thema Inklusion zeigt sich die Bedeutung einer intersektionalen Ausrichtung. Denn es spielen neben Behinderung auch das Geschlecht sowie mögliche weitere Kategorien wie Klasse, Ethnie/Nation, sexuelle Identität, Religionszugehörigkeit etc. eine Rolle. Der Einbezug Betroffener ist intersektional auszurichten, um nicht die Interessen bestimmter Personen mit Behinderung (z. B. mit Lernbehinderungen oder queers mit Behinderungen) als Spezialinteressen abwerten zu können, wie es u. a. im Rahmen politischer Bewegungen (s. o.) der Fall war.
Politischer Aktivismus war und ist vielfach der ausschlaggebende Motor für gesellschaftliche Veränderungen und Weiterentwicklungen. Im Angesicht erstarkender rechtspopulistischer Tendenzen steht auch der Erhalt demokratischer Werte im Fokus. Inklusion ist ein aktuelles demokratisches Anliegen. Dieses wird im folgenden Kapitel unter Einbezug biografischer Erfahrungen von Menschen mit Behinderung thematisiert und im Zusammenhang zu politischem Aktivismus erläutert.
Institutionelle Inklusion: Partizipation und Potenzial für politischen Aktivismus
Deutschland tut sich in vielerlei Hinsicht schwer damit Inklusion umzusetzen, so auch im Bildungssystem. Auch wenn im Schuljahr 2020/2021 z. B. die Inklusionsquote in Thüringer Schulen bei 45,6 % lag (TMBJS 2021), wird ein großer Teil der Schüler*innen mit Förderbedarf weiter an „Förder“schulen unterrichtet. Eine Abschaffung des „Förder“schulsystems zugunsten eines inklusiven Bildungssystems scheint, schaut man sich aktuelle Schulpraxis und -politik in Thüringen an, weit entfernt. Die AfD geht noch einen Schritt weiter und behauptet in ihrem Parteiprogramm, dass die UN-BRK „Förder- und Sonderschulen keineswegs in Frage“ stelle und „die Forderung, behinderten Kindern Teilhabe am Bildungssystem zu garantieren“ damit „bereits umfassend und erfolgreich erfüllt“ sei. Auch wird eine „ideologisch motivierte Inklusion“ beschrieben, die alle Kinder am Lernerfolg hemme (AfD 2016). Die UN-BRK stellt jedoch das „Förder“schulsystem sehr wohl infrage (vgl. u. a. Artikel Netzwerk 3 e. V. 2018) und der Lernerfolg aller Kinder in integrativen Klassen ist seit Langem wissenschaftlich belegt: Es gibt im Rahmen institutioneller Bildung bereits vielfältige Erfahrungen mit dem gemeinsamen Lernen von Kindern mit und ohne Behinderungserfahrungen (vgl. u. a. Eberwein und Knauer 2009; Müller und Prengel 2013), die im Zusammenhang mit einer Elternbewegung für Integration ab den 1970er-Jahren in Deutschland stehen. Der politische Aktivismus von Eltern behinderter Kinder führte zur Gründung erster integrativer Kindergartengruppen und später Schulklassen und legte damit den Grundstein für die Integrationspädagogik in Deutschland. Die Integrationspädagogik bietet empirisch belegte didaktisch-methodische Ansätze für die Umsetzung von Inklusion2 im Bildungssystem. Inklusion ist des Weiteren spätestens mit der Ratifizierung der UN-BRK (in Deutschland 2009) ein demokratisch legitimiertes Menschenrecht, keine Ideologie.
Im Rahmen der Integrationspädagogik wurden auch die Perspektiven von Eltern, Wissenschaftler*innen, Politiker*innen und Pädagog*innen in die praktische Umsetzung einbezogen. Die Perspektiven der sogenannten „ehemaligen Integrationskinder“ selbst, die bereits seit den 1970er-Jahren Erfahrungen mit dem Regelschulsystem gemacht haben, wurden dabei jedoch lange außen vorgelassen. Die Studie „Biografische Erfahrungen mit Integration (Inklusion) in Kindergarten und Schule aus der Rückschau behinderter Frauen und Männer“ (Schramme 2019) macht diese Perspektiven sichtbar. Im Rahmen der Studie gaben insgesamt 36 Personen (n=36) – 20 Frauen und 16 Männer mit unterschiedlichen Behinderungserfahrungen der Geburtenjahrgänge 1965 bis 1984 – im Rahmen von leitfadenstrukturierten Interviews Auskunft zu ihren Erlebnissen in Regelkindergarten und -schule in verschiedenen Bundesländern (Auswertung: Qualitative Inhaltsanalyse n. Mayring [2015]). Die folgenden Beispiele sollen das mögliche Potenzial von biografischen Erfahrungen mit Integration/Inklusion im Bildungssystem für die Partizipation an politischen Prozessen und für eine Weiterentwicklung von demokratischen Gesellschaften aufzeigen.
Zunächst zeigt sich schon im Kindergarten die große Bedeutung der Integration für gesellschaftliche Teilhabe über die Kindergartengruppe hinaus. So berichtet eine Interviewpartnerin mit Körperbehinderung:
„Ich wurde von keinen Kindern ausgeschlossen, die Kindergärtnerinnen haben mich normal aufgenommen [...]. Also ich bin froh, dass ich im Regelsystem gestartet bin. Und dass die Kindergärtnerinnen auch immer mitgezogen haben. Und wenn man sich im Dorf getroffen hat oder so, dass die einen auch begrüßt haben und so. Die haben mich auch nie besonders, als etwas Besonderes behandelt. [...]. Da hab ich mich nicht so speziell gefühlt.“ (Schramme 2019, 94)
Das „sich nicht speziell Fühlen“ resultierte für die Befragte aus sozialen Interaktionen (mit Kindergärtnerinnen und Kindern) und führte zu dem Gefühl des „Normalseins“ (Schramme 2021, 87). Die Aussage einer anderen Interviewpartnerin spitzt die Ausführungen noch zu:
„Bis ich so zehn oder neun war, ich kam mir gar nicht behindert vor. [...] Ich habe immer gedacht, es gibt Kinder, die fahren, und es gibt Kinder, die laufen und ich bin bei denen, die fahren.“ (Schramme 2021, 87)
Alle Interviewpartner*innen, die positive Erfahrungen mit Integration gemacht haben, eint demnach eine frühe Phase des Gefühls, „normal“ zu sein. Dies kann ein Indikator dafür sein, dass sie nicht daran zweifeln, auch einen Anspruch auf ein „normales“ Leben zu haben, mit Menschen mit und ohne Behinderungserfahrungen befreundet zu sein, in allgemeine Bildungseinrichtungen zu gehören und Teil der Gesellschaft zu sein (Schramme 2021). Der o. g. politische Aktivismus der Eltern im Rahmen einer Integrationsbewegung und deren Bild von Integration als Menschenrecht tragen einen Teil zu dieser Überzeugung bei. Dennoch sollte die innerpsychische Bedeutung des „normalen“ Aufwachsens behinderter Menschen auch in der Bedeutsamkeit für politischen Aktivismus nicht unterschätzt werden.
Weiterhin wurden die Interviewpartner*innen dazu befragt, wie viel Relevanz sie ihrer bis dato integrativen Bildungslaufbahn beimessen. Zwei Frauen mit Körperbehinderungserfahrung sagen dazu Folgendes:
„Als EXTREM wichtig, weil die Gesellschaft und die Welt ist einfach nicht hundertprozentig behindertengerecht. [...]. Und mit dieser/ mit den Schwierigkeiten die das Regelkindergarten, Regelschule und so weiter, das Regelleben mit sich bringt. Mit diesen Schwierigkeiten konfrontiert zu werden, ist EXTREM wichtig, finde ich, weil, wenn man in einem Kindergarten für Körperbehinderte ist, in einer Schule für Körperbehinderte ist, auf dem zweiten Arbeitsmarkt nur unterkommt. Und dann, wenn man plötzlich mit der realen Welt, in Anführungszeichen, konfrontiert ist es SO ein Schock und so schwierig.“ (Schramme 2019, 191)
„Ich habe relativ früh gelernt und früher als viele andere, wie es ist, mit Frustration umzugehen. [...] und wenn ich jetzt auf einer Sonderschule gewesen wäre, die total optimiert für Rollstuhlfahrer ist, wäre die Frustration vielleicht erst mit 18 gekommen. Und umso härter.“ (Schramme 2019, 191)
Die Interviewpartner*innen beschreiben hier die Bedeutung ihrer schulischen Integrationserfahrungen für ein Zurechtkommen in einer Gesellschaft, die nur wenig Rücksicht auf Menschen mit Behinderung nimmt. Explizit als Folge ihrer Integrationserlebnisse erwähnen zwölf Interviewpartner*innen ihr hohes Maß an Selbstbewusstsein bzw. ihre mentale Stärke sowie die Fähigkeit, eigene Grenzen realistisch einschätzen zu können, und ein hiermit einhergehendes großes Maß an Selbstständigkeit:
„Und ich habe immer meine Meinung gesagt und bin ein relativ, war immer relativ laut. Was heißt laut, aber jedenfalls nicht auf den Mund gefallen. Was, glaube ich, auch damit zu tun hat, dass ich/ dadurch, dass ich in dieser nicht behinderten Umgebung aufgewachsen bin, ich halt relativ früh gelernt habe, mich mit Worten durchzusetzen oder um Hilfe zu fragen oder einfach zu sagen: Ich will das und ich will das und ich will das.“ (Schramme 2019, 192)
Insbesondere hier sind relevante Ansätze für die Selbstvertretung zu sehen. Dennoch sind diese Erfahrungen nicht nur positiv zu sehen: Einige Personen geben an, dass sie sich „durchkämpfen“ mussten und sie mitunter auch darunter gelitten haben. Die Aussagen der Betroffenen zeigen weiterhin, wie Inklusion im Bildungssystem mittelfristig zur Sensibilisierung für Benachteiligungen insgesamt führen kann. Einige Interviewpartner*innen beschreiben explizit, wie ihre institutionelle Integration nicht nur ihnen selbst, sondern auch den Kindern und Jugendlichen ohne Behinderungserfahrungen wichtige Erkenntnisse bzgl. einer heterogenen Gesellschaft und menschlicher Vielfalt einbrachte, die auch in Bezug auf Demokratieentwicklungsprozesse relevant sein können:
„Eine meiner Thesen ist auch, dass ich sage, dass auch nicht Behinderte ein Recht darauf haben, mit Behinderten zusammen zu leben. Und nicht immer nur, dass es um die Behinderten geht. [....] Und je früher wir das lernen, diesen Prozess, also Vielfalt zu bewältigen und auch anzunehmen für uns, desto leichter wird es uns fallen in Zukunft in einer bunten Welt voller Herausforderungen, die glaube ich, eher komplexer wird als einfach, damit umzugehen. Und das meine ich jetzt nicht nur auf Behinderte bezogen, sondern auch auf Transgender, Migration, Sprache, also da gibt es ja tausend vielfältige Momente.“ (Schramme 2019, 195f.)
Zusammenfassend kann aus den Aussagen der Interviewpartner*innen mit Blick auf die Bedeutung von Inklusionserfahrungen für politischen Aktivismus Folgendes festgehalten werden:
- Erfahrungen des unbedingten Dazugehörens, Teil der Gemeinschaft zu sein, von Anfang an, kann zu innerpsychischen Sensibilisierungen für die (ungerechten) Ausgrenzungen aufgrund von Behinderungen im weiteren Lebensverlauf führen;
- Erfahrungen im Regelschulsystem ohne „künstlich“ barrierefreien Schonraum zeigen früh die Bedeutung von Barrieren und Ideen zum Umgang hiermit auf und außerdem das Lernen der (in dieser Gesellschaft notwendigen) Durchsetzung von eigenen Interessen. Dies jedoch hat auch Schattenseiten (Überforderungen, ständige „Kämpfe“);
- Inklusion im Bildungssystem erlaubt allen Beteiligten die Erfahrung der Normalität von Vielfalt und kann zu mehr Bewältigung dieser, Toleranz und positiven Umgang hiermit führen.
Alle drei Aspekte haben einen direkten Zusammenhang zu Demokratieentwicklung: Denn schon von Anfang an zu lernen, dass Gesellschaft heterogen ist, alle Menschen mit unterschiedlichen Voraussetzungen dennoch zusammenleben und lernen und die gleichen Chancen bekommen können, ist ein grundlegendes Anliegen demokratischer Gesellschaften. Was dies für politischen Aktivismus und weitere Handlungen im Sinne einer demokratischen Gesellschaftsentwicklung bedeutet, wird im folgenden Teil behandelt.
Handlungsempfehlungen für eine inklusive Demokratieentwicklung
Inklusion im Bildungssystem erscheint, schaut man sich die Aussagen der Interviewpartner*innen der Studie an, als ein relevanter Faktor für demokratische Gesellschaftsentwicklungen und auch für politischen Aktivismus: Denn dieser benötigt eine für Ungleichheiten sensibilisierte Haltung, die davon ausgeht, dass alle Menschen gleichberechtigter Teil der Gesellschaft sind. Auf einer Handlungsebene im Zusammenhang mit politischem Aktivismus ist es relevant, sich selbst als handlungsfähiges Subjekt mit der Fähigkeit, gegebene Umstände verändern zu können, zu erleben. Die Studie zeigt, dass diese Haltungen und Handlungsfähigkeiten im Rahmen einer inklusiven Bildung bei allen Beteiligten gefördert werden können. „Förder“schulen stehen daran gemessen im Gegensatz zu demokratischen Bestrebungen, etwa der gleichberechtigten Teilhabe und Partizipation aller Menschen, und sind nicht nur die Grundlage für die Exklusion von Menschen mit Behinderung über die Lebensspanne sowie hierüber begründete wenige gemeinsame Berührungspunkte von Menschen mit und ohne Behinderung. Als „Alternative“ zu inklusiver institutioneller Bildung lässt ihre Anwesenheit darüber hinaus Raum, Inklusion im Bildungssystem als Menschenrecht im Sinne der UN-BRK infrage zu stellen.
Aktuelle demokratische Themen, wie die Klimakrise und der erstarkte Rechtspopulismus, benötigen Bündnisse verschiedener Aktivist*innen, denn es geht hier nicht nur um das Risiko des Abbaus der Rechte bestimmter Personengruppen, sondern um den Erhalt und die Stärkung der Demokratie an sich. Neue Bündnisse müssen jedoch Intersektionalitäten beachten: So können beispielsweise Frauen- und Gleichstellungsrechte nur inklusiv sein, wenn die Lagen aller Frauen (und die Perspektiven von LGBTIQA+3) Berücksichtigung finden. Themen wie die Klimakrise können nur gerecht bearbeitet werden, wenn alle Perspektiven einbezogen werden. Inklusion ist intersektional zu denken. Politischer Aktivismus zugunsten von ganzheitlicher Demokratieentwicklung ist demnach nur inklusiv und intersektional möglich.
Politischer Aktivismus ist dabei weiterhin als Teil informeller politischer Bildung und aktiver Aneignung von Demokratie und Partizipation an politischen Prozessen zu verstehen. Zu diesen Prozessen müssen Menschen mit Behinderung Zugang bekommen können – zum einen über eine sichergestellte physische Barrierefreiheit. Dazu gehört beispielsweise, Demonstrationen so zu planen, dass Menschen mit verschiedenen Behinderungen teilnehmen, partizipieren und zu Wort kommen können (z. B. auch durch die Organisation von Dolmetscher*innen oder Assistenz). Dies gilt auch für aktuelle aktivistisch-politische Bestrebungen gegen Rechts und ebensolche Bündnisse. Zum anderen ist die Schaffung eines Bewusstseins bei Menschen mit und ohne Behinderung für die Bedeutung von (gemeinsamem) politischem Aktivismus und sich hier einzubringen zu unterstützen; bestenfalls im Rahmen eines inklusiven Bildungssystems und darüber hinaus an allen Orten, die informelle Bildungsarbeit leisten (Jugendzentren, Vereine etc.), welche ebenso inklusiv und barrierefrei zugänglich sein müssen.
Zusammenfassend sollte politischer Aktivismus sensibilisiert für intersektionale Ungleichheiten sein und dem inklusiven Motto „nothing about us – without us“ folgen. Denn eine Demokratieentwicklung, die alle Menschen und ihre Diversität bedenkt, kann nicht nur die meisten Menschen einbeziehen, sondern befähigt auch mehr Menschen, sich an Erhalt und Entwicklung dieser zu beteiligen. Dies umzusetzen, ist als aktuelle Herausforderung an Demokratien zu verstehen.
1 Der Ansatz entstammt vor allem dem Black Feminism und der Kritik Schwarzer Frauen am Mainstream-Feminismus in den USA.
2 Da der Begriff Inklusion erst im Zusammenhang mit der UN-BRK (2009) in Deutschland Verwendung findet, kann hier nur von den Integrationserfahrungen der Befragten ab den 1970er-Jahren gesprochen werden. Doch auch wenn der Begriff Inklusion umfassendere und menschenrechtlich fundierte Partizipation meint, so sind viele der damaligen integrativen Anliegen und Erfahrungen als inklusiv zu verstehen.
3 Dies ist eine Abkürzung für Lesbian, Gay, Bisexual, Trans*, Inter*, Queer, Agender und weitere Personengruppen und Identitäten.
Sabrina Schramme, Prof. Dr., Professorin für Inklusive Pädagogik an der Hochschule Nordhausen sowie Diversitätsbeauftragte; Lehr- und Forschungsschwerpunkte: Inklusive Pädagogik, Intersektionalitätsforschung, soziale Ungleichheit, Macht und Herrschaftsverhältnisse, biografische Forschung, biografische Perspektiven über die Lebensspanne, Disability, Gender- und Queer Studies, Diversität und Sensibilisierung für Diversität.
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