Europa befindet sich in einer Krise, die auch die deutsche Gesellschaft erfasst hat.1 Die Furcht vor der Völkerwanderung von Bürgerkriegsflüchtlingen und Migranten, die aus schierer existentieller Not kommen, die Beschwörung der Gefahr, die angeblich von Zuwanderern überhaupt und vom Islam besonders ausgeht, ist Bestandteil des Alltags geworden. Die Hassparolen der Ideologen und Fanatiker finden den Nährboden in existenziellen Ängsten. Die Adressaten sind resistent gegen rationale Argumente, denn Bedrohungsszenarien und Verschwörungsfantasien sind wirkungsvoller als Vernunft und Logik. Die Rezepte der Ausgrenzung, mit denen im 19. Jahrhundert Demagogen ähnlichen Herausforderungen zu begegnen versuchten, haben in die Katastrophen des 20. Jahrhunderts geführt. Sie wieder zu verwenden gegen andere Minderheiten anstelle der Juden wäre fatal. Denn es geht nicht nur um Menschen- und Bürgerrechte von Minderheiten, sondern um die demokratische Gesellschaft, die aus der Erfahrung nationalsozialistischer Diktatur gegründet wurde.
Die öffentliche Vergewisserung einer Gemeinschaft über ihre Werte, über Demokratie und Toleranz, gegen Ausgrenzung und Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer Herkunft, Religion, Kultur, Armut, Hautfarbe ist notwendig. Denn mit der Stigmatisierung und Ausgrenzung von Minderheitenbeginnt, was im Völkermord endet. Hass löst keine Probleme, sondern schafft nur größere als die, die man durch Feindschaft zu lösen glaubt. Das gilt angesichts der Flüchtlinge, die derzeit bei uns Schutz und Hilfe suchen. Das Gedenken an Auschwitz muss die Erinnerung an die ‚Flüchtlingsströme‘ einschließen, die der Nationalsozialismus in Bewegung setzte, erst durch die Vertreibung politisch Andersdenkender, dann der Juden, schließlich im Exodus der zwölf Millionen Heimatvertriebenen, die als Folge nationalsozialistischer Herrschaft nach 1945 verjagt wurden.
Wir erinnern uns an das Schicksal der Flüchtlinge aus Nazideutschland, an die Demokraten und anderen politischen Gegner Hitlers (von Kommunisten bis zu Konservativen), die ins Exil gejagt wurden. Wir erinnern uns an die deutschen Juden, wenn wir heute Flüchtlinge willkommen heißen. Die Welt verhielt sich einst gleichgültig gegenüber der Not der Juden. Im Juli 1938 fand in Evian am französischen Ufer des Genfer Sees eine Internationale Konferenz statt, die den Problemen der jüdischen Auswanderung aus Deutschland gewidmet war. Eingeladen hatte der amerikanische Präsident Roosevelt, gekommen waren Vertreter von 32 Staaten und vieler jüdischer Organisationen. Außer der Etablierung eines „Intergovernmental Committee on Political Refugees“ (IGC) mit Sitz in London und der vagen Zusicherung einiger Staaten, die bestehenden Einwanderungsquoten könnten in Zukunft voll ausgeschöpft werden, geschah jedoch nichts, was die Emigrationsmöglichkeiten der Juden aus Hitlers Machtbereich verbessert hätte.
Die Ängste und Sorgen von Bürgern vor Zuwanderern müssen ernst genommen werden, ebenso die von Juden, die vor einer Zunahme des Antisemitismus warnen, weil Muslime aus Syrien nicht unbedingt Freunde Israels sind. Aber der historische Augenblick, der uns ein Stück vom Odium des Barbarentums nimmt, war der, als den Hilfsbedürftigen und Schutzsuchenden an Deutschlands Grenzen die Arme geöffnet wurden. Dass die Aufnahme Probleme schafft, dass es schwierig ist, stand fest. Aber auch, dass es zu schaffen ist, nach zwölf Millionen Heimatvertriebenen, die Deutschland im ersten Nachkriegsjahrzehnt integriert hat, nach vier Millionen DDR-Flüchtlingen, die von der Bundesrepublik aufgenommen wurden, nach zwei Millionen Spätaussiedlern aus Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion.
Im Frühjahr 2013 entstand als Reflex auf die Euro-Krise eine neue Partei rechts des etablierten Spektrums: die „Alternative für Deutschland“ (AfD). Mit beträchtlichem Erfolg bündelte sie zunächst Protestpotenzial gegen den Euro und gegen Brüssel; sie gewann Anhänger mit dem populistisch intonierten Sehnen nach der Wiederkehr des Nationalstaats. Mit dem Plädoyer gegen Zuwanderung und zur Bewahrung „abendländischer Kultur“, mit Feindseligkeit gegen Muslime und Parolen gegen eine als bürgerfeindliches Trugbild denunzierte „political correctness“ zog die AfD ins Europaparlament und dann in die Landtage von Thüringen, Brandenburg, Baden-Württemberg, Sachsen-Anhalt, Rheinland-Pfalz, Mecklenburg-Vorpommern und Berlin.
Zur veränderten politischen Szenerie in Deutschland gehört die Türöffner-Funktion der auf Demagogie basierenden randständigen rechten Gruppierungen für den Rechtsextremismus. Das zeigt die skurrile Dresdner Bewegung, die es schafft, ohne Programm, ohne überzeugendes Personal mit einem dubiosen Anführer aus dem kriminellen Milieu Missmutige auf die Straße zu bringen. Wutmenschen demonstrieren montäglich gegen die Idee der Toleranz, offenbaren ein krudes Weltbild aus Fremdenhass und Zorn gegen die Obrigkeit, zeigen sich als frustrierte Underdogs, die sich von Partizipation ausgeschlossen fühlen, weil sie das System der repräsentativen Demokratie nicht verstehen wollen und die Möglichkeiten politischer Teilhabe, die geboten sind, verschmähen und verachten.
Das auftrumpfende Unbehagen, das die „Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ (PEGIDA) unter der geklauten Parole „Wir sind das Volk“ demonstrieren, hatte außer dem Missmut über komplexe und schwer verständliche politische Strukturen ursprünglich kein Programm. Verschwörungsfantasien lenken die Wut gegen Politiker und Bürokraten, beschwören Argwohn gegen die Medien. Die Probleme Europas und die Realität der Globalisierung erzeugen den Wunsch nach nationalstaatlicher Wärme und Geborgenheit, das bedeutet aber auch Ausgrenzung und Abwehr von Fremden. Als gemeinsamer Nenner gefühlter Ängste und plagender Sorgen dient das Feindbild Islam. Scharfmacher hantieren mit den Versatzstücken rechter Ideologie, predigen Fremdenhass, Islamfeindschaft und Nationalismus, sie bedienen damit Existenzängste und Frustrationen ihrer ratlosen Klientel.
Wenn „Ausländer raus“ gegrölt wird, wenn Wohnheime brennen, wenn bei einer PEGIDA-Veranstaltung ein Galgen für die „Volksverräterin“ Merkel herumgetragen wird (die Polizei scheint ihn nicht bemerkt zu haben), dann artikulieren Politiker und Medien im Schulterschluss Abscheu vor Rechtsextremen, verurteilen gar die Demonstrierenden als „Pack“. Aber sie haben lange nicht verstanden, dass sich die Mitte nach rechts bewegt hat.
Trotzdem sind Rechtspopulisten, die sich in Sekten zusammenfinden und wieder auseinanderlaufen, die sich spalten und neue Bünde gründen, nicht „das Volk“. Sie sind randständig, bieten dem Rechtsextremismus das Einfallstor und kultivieren die Schmähung des Gegners anstelle von Diskurs, genügen sich in stummer Verweigerung, statt Argumente auszutauschen und pflegen Gemeinsamkeit durch Hasstiraden. Die Abwesenheit jeder konstruktiven Idee ist ersetzt durch stumpfes Räsonieren und Wutgeheul. Für PEGIDA-Mitläufer wie für Anhänger der AfD und ähnliche Gruppierungen im bürgerlichen Gewand, die sich nicht als Rechtsradikale verstehen und die nicht Neonazis genannt werden wollen, gilt: Mit Hassparolen wird man kriminell; Volksverhetzung, Beleidigung, Rassismus ist nicht Politik.
Was bedeuten die Erfolge der AfD? Sind sie ein Sieg der irrationalen Verweigerer? Ist es ein Rechtsruck in Deutschland? Dem professoralen Gründer der AfD folgte eine Parteichefin, die ihre Gefolgschaft beherrscht, Parolen ausgibt, Sprachregelungen verkündet, die politischen Inhalt (über den Zorn gegen Zuwanderer hinaus) ersetzen. Frauke Petry ist das stets angestrengt wirkende, schnell sprechende, Ratlosigkeit und Unruhe verbreitende Gesicht einer Partei, deren sonstiges Personal überwiegend unbekannt und farblos ist und deren Programm nur Protest artikuliert. Bislang haben die Mandatsträger und Funktionäre vor allem chauvinistische und völkische oder nationalkonservative, auch antisemitische und v.a. islamophobe Phrasen gedroschen und demonstriert, dass sie gegen alles sind, was sie als Obrigkeit, System und Establishment empfinden.
Die AfD ist als europakritische Partei gegründet worden von einem Ökonomieprofessor, der den Euro abschaffen wollte und die abgestandene Ideologie nationalstaatlicher Enge propagierte. Die AfD hat sich nach seinem Rauswurf im Sommer 2015 radikalisiert, hat mit der Flüchtlingskrise ihr Thema und ihre Wähler gefunden. Sie schillert im politischen Spektrum von deutschnational bis rechtsextrem, außer Muslimfeinden sind auch Antisemiten vertreten, das einigende Band ist Fremdenfeindschaft. Die AfD bedient damit eine Klientel der bürgerlichen Mitte und deren rechten Rand, die von trotzigem Patriotismus bis zum Extremismus reicht, das Rechtsradikalen als Einfallstor dient und der amorphen Empörungsbewegung „PEGIDA“ als parlamentarischer Flügel. Umgekehrt artikuliert die AfD Politikverdrossenheit im Wutgebrüll der Fremdenfeinde vor Asylbewerberheimen, sieht sich als Opfer der „Lügenpresse“ und bedient Frustrierte und Furchtsame, Ratlose und Erschrockene mit Parolen. Das ist keine Politik. Umso mehr sind demokratie- und politikfähige Parteien gefordert.
Wenn Umfragen ergeben, dass eine Mehrheit der Deutschen den Islam als „fanatische und gewalttätige Religion“ sieht, dann beruht diese Erkenntnis nicht auf der Beschäftigung mit Inhalten und Lehrmeinungen, nicht auf Kenntnis von Koran und Sunna, nicht auf dem Studium von Geschichte und Kultur des Islams. Die Umfrage spiegelt vielmehr Angst und Abneigung, stimuliert durch Ressentiments, deren Tradition weit zurückreicht. Die stereotype Wahrnehmung der anderen Kultur gründet sich auf überlieferte Konnotationen und Assoziationen, die Kerne der Argumentation im Diskurs über den Islam bilden und nicht mehr hinterfragt werden, weil sie Bestandteil überlieferten „Wissens“ sind.
Die derzeit mit mehr Leidenschaft als Sachkenntnis beschworene Gefahr einer „Islamisierung Europas“, ausgetragen in Kopftuchdebatten, artikuliert im Verlangen nach Minarettverboten, agiert mit hasserfüllten Tiraden in der Blogger-Szene, demonstriert von der Bewegung „PEGIDA“ auf der Straße, greift auf jahrhundertealte Deutungsmuster zurück. Feindschaft gegen den Islam argumentiert seit dem Mittelalter mit schlichten Thesen der Abwehr, die durch Koran-Polemik Religion und Kultur des Islams als inhuman denunzieren und durch kulturrassistische Postulate den Muslimen generell negative Eigenschaften zusprechen. Ein großer Teil der aktuellen „islamkritischen“ Diskurse hat erhebliche fremdenfeindliche Züge, bedient Überfremdungsängste, argumentiert durchgängig mit religiösen Vorbehalten, die seltsamerweise in den säkularisierten Gesellschaften Europas mit großem Ernst vorgetragen und nachempfunden werden.
Idealtypisch ist die Argumentation eines unreflektiert-überzeugten islamophoben Jungakademikers, der seine Botschaft mit dem Bekenntnis, er sei Doktorand an der Universität Bremen, einleitet: „In den letzten Jahren sind Millionen von Muslimen als Flüchtlinge bzw. ökonomische Migranten zu uns gekommen. Hierdurch hat sich der Anteil der Muslime in Deutschland und Europa signifikant erhöht und er wird bei der jetzigen Politik weiter steigen. Dies sind Tatsachen und sie wären für uns kein Problem, wären der Islam und unsere demokratische Grundordnung nicht grundsätzlich inkompatibel. So laut es unsere Medien auch proklamieren mögen: Das Lesen des Korans oder der Scharia […] zeigen unmissverständlich auf, dass Islam Gewalt ist, nicht Frieden.“ Die Strategie des islamfeindlichen Diskurses zielt dahin, ‚den Islam‘ als Einheit erscheinen zu lassen, für die islamistischer Terror typisch sein soll.
Überfremdungsängste, wurzelnd in der Furcht vor als „anders“, „fremd“, damit als unverträglich mit dem Eigenen und bedrohlich für das Eigene definierter Wahrnehmung sind sozialpsychologisch erklärbar. Sie haben eine lange Tradition mit wechselnden Objekten der Abneigung und Ausgrenzung. Die Stereotype in der Wahrnehmung von Minderheiten dienen der Selbstvergewisserung der Mehrheit und der Festschreibung des niedrigen sozialen Status der jeweiligen Minderheit.
Die als negativ empfundenen Eigenarten der „Anderen“, kulturell, ethnisch, religiös oder wie auch immer definiert, dienen der Hebung des eigenen Selbstbewusstseins. Sie fixieren es durch die Gewissheit, dass die Fremden nicht integrationsfähig oder assimilationsbereit oder von ihrer Konstitution her kriminell, asozial und aggressiv sind bis hin zu Verschwörungsfantasien, nach denen eine Minderheit – einst die Juden, jetzt wahlweise Muslime oder Juden – die Herrschaft über die Mehrheit anstrebt. In der Geschichte der Judenfeindschaft ist die stereotype Vermutung seit Jahrhunderten verbreitet und wird immer wieder reproduziert, nach der „die Juden“ zu viel Einfluss in der Finanzwelt, in der Kultur, in den Medien oder sonst wo, wahrscheinlich sogar in allen Bereichen von Staat und Gesellschaft hätten und dass sie diesen Einfluss zum Schaden der Mehrheit, aber zum eigenen Nutzen, unablässig ausübten. Muslimfeindschaft hat ähnliche Stereotype wie beispielsweise das Streben nach Vorherrschaft, nach Eroberung und Überwältigung mit dem Ziel der Dominanz des Islams über Europa.
Der sensationelle Erfolg eines Buches mit dem Titel „Deutschland schafft sich ab“ ist ein Symptom für die Emotionen, die in Deutschland von der Mehrheit der Minderheit der Zuwanderer, insbesondere den Muslimen, entgegengebracht werden. Das Buch, gespickt mit Tabellen und Statistiken, will beweisen, dass Deutschland ausstirbt bzw. überfremdet wird, weil dumme Muslime mehr Kinder bekommen als kluge Deutsche. Das von Islamfeinden begeistert gelobte Pamphlet Thilo Sarrazins lebt von populistisch vorgetragenem Sozialdarwinismus. Das Buch bedient in der Mehrheitsgesellschaft verbreitete Ängste, die uralte Furcht vor Überfremdung, die einen Kulturrassismus hervorbringt, der sich gegen unerwünschte Minoritäten richtet.
Die Terrorakte des elften Septembers 2001 in New York, begangen im Namen des Islams, die verbrecherischen Taten fanatischer Aktivisten, die Religion missbrauchen, die Drohungen islamistischer Extremisten, gewannen erheblichen Einfluss auf die Emotionen und den Intellekt westlicher demokratischer Gesellschaften. Das islamistische Feindbild „Westen“, im arabischen und islamischen Kulturkreis von Demagogen propagiert, wird im Westen von Demagogen mit dem Feindbild „Islam“ erwidert. Es folgt den gleichen Konstruktionsprinzipien. Feindbilder bedienen verbreitete Sehnsüchte nach schlichter Welterklärung, die durch rigorose Unterscheidung von Gut (das immer für das Eigene steht) und Böse (das stets das Fremde verkörpert) und darauf basierender Ausgrenzung und Schuldzuweisung zu gewinnen ist. Feindbilder, die eine Welt beschwören, welche nur gut und böse bzw. schwarz oder weiß kennt, lindern politische und soziale Frustrationen und heben das Selbstgefühl. Feindbilder sind Produkte von Hysterie, sie konstruieren und instrumentalisieren die Zerrbilder über die Anderen. Wenn wir Hysterie als weitverbreitete Verhaltensstörung definieren, die u. a. durch Beeinträchtigung der Wahrnehmung, durch emotionale Labilität, durch theatralischen Gestus und egozentrischen Habitus charakterisiert ist, dann erklären sich Phobien gegen andere Kulturen oder ganz unterschiedliche Minderheiten in der eigenen Gesellschaft als Abwehrreflexe.
Gegen Demagogen, die jenseits der Realität agieren, hilft nur Vernunft. Notwendig ist Aufklärung mit dem Ziel, Einsicht in schwierige Zusammenhänge zu gewinnen, um rational mit Problemen umzugehen, auf Vernunft und Logik gegründete Politik zu treiben und zu verstehen. Das ist immerwährendes Gebot des Zusammenlebens. Aufklärung ist eine Haltung, kein schnell wirkendes Wundermittel. Gegen den Krakeel Ratloser, Verführter, habituell Unzufriedener, die sich von Populisten gängeln lassen, hilft keine einmalige Anstrengung, kein „Aufstand der Anständigen“, kein Ruck, keine Aufwallung, sondern stetige und alltägliche Aufklärung als demokratisches Prinzip. Das ist mühsam aber erfolgreich, wie die bisherige deutsche Geschichte nach Hitler lehrt. Vernunft muss aber jeden Tag aufs Neue durchgesetzt werden.
1 Dieser Text basiert auf einem Beitrag aus dem von Wolfgang Benz herausgegebenen Buches „Fremdenfeinde und Wutbürger – Verliert die demokratische Gesellschaft ihre Mitte?“ (2016).