Einleitung
Hasskriminalität (bzw. hate crime) umfasst Gewalt- oder Eigentumsdelikte, die durch Vorurteile geleitet sind. Das heißt, es geht um bestimmte, nämlich kriminelle Formen vorurteilsbasierter Diskriminierung. Die Bundesregierung (2014: 1f.) definiert:
Dem Themenfeld ‚Hasskriminalität‘ werden politisch motivierte Straftaten zugeordnet, wenn die Umstände der Tat oder die Einstellung des Täters darauf schließen lassen, dass sie sich gegen eine Person aufgrund ihrer politischen Einstellung, Nationalität, Volkszugehörigkeit, Rasse, Hautfarbe, Religion, Weltanschauung, Herkunft, sexuellen Orientierung, Behinderung, ihres äußeren Erscheinungsbilds oder ihres gesellschaftlichen Status richtet. Auch wenn die Tat nicht unmittelbar gegen eine Person, sondern im oben genannten Zusammenhang gegen eine Institution oder Sache verübt wird, erfolgt ihre Zuordnung zum Themenfeld ‚Hasskriminalität‘. Straftaten mit fremdenfeindlichem und/oder antisemitischem Hintergrund sind Teilmenge der ‚Hasskriminalität‘. (2014: 1f.)
Das beinhaltet im Wesentlichen die Delikte: Vandalismus, Bedrohung, sowie Gewalt. Offensichtlich überlappen die Konzepte Diskriminierung und Hasskriminalität stark. Während jede Hasskriminalität auch eine Form von Diskriminierung darstellt (siehe Dieckmann et al. in diesem Band), ist nicht jede Form von Diskriminierung automatisch Hasskriminalität. Dazu wird sie erst, wenn gegenbestehende Gesetze verstoßen wird (Geschke 2017). Auch hate speech (Hasssprache bzw. Hassrede) wird aktuell gesellschaftlich intensiv als vorurteilsgeleitete, diskriminierende Handlung diskutiert, wird aber hier nicht betrachtet (siehe dazu Rafael et al. in diesem Band). Die obige Definition benennt jene Gruppen von Menschen, die potenziell besonders stark von Hasskriminalität betroffen sind. Jedoch fehlen die Merkmale Geschlecht1 und Alter, welche laut Allgemeinem Gleichbehandlungsgesetz auch als geschützte Merkmale definiert sind und deshalb in dieser Untersuchung ebenfalls als relevant für Hasskriminalität betrachtet werden. Die vorliegende Studie soll erstens sichtbar machen, wer in Thüringen zum Opfer von Hasskriminalität werden kann. Zweitens soll beschrieben werden, welcher Art von Hasskriminalität diese Menschen in den letzten zwei Jahren wie häufig ausgesetzt waren.
Hasskriminalität unterscheidet sich von anderen Formen der Diskriminierung durch die im Allgemeinen stärkeren negativen Auswirkungen einzelner Taten auf die Betroffenen. So zeigen internationale Studien, dass Hasskriminalität schwerwiegendere emotionale und psychologische Folgen hat für die Betroffenen im Vergleich zu anderen Straftaten (Iganski/Lagou 2009). Deshalb werden in dieser Studie drittens die Auswirkungen von Hasskriminalität auf die befragten Thüringer_innen beschrieben. Dabei wird viertens untersucht, ob diese negativen Effekte stärker sind, als bei Befragten, die zwar von Diskriminierung, aber nicht von Hasskriminalität betroffen waren.
Zivilgesellschaftliche Organisationen (z. B. ezra, die Mobile Beratung für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt) dokumentieren seit Jahren entsprechende Vorfälle (Büttner 2017). Für das Jahr 20162 muss konstatiert werden: rechte, rassistische und antisemitische Gewaltstraftaten haben in Thüringen im Vergleich zu den Vorjahren dramatisch zugenommen.3 Während der Fokus der Dokumentation von ezra auf rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt liegt, ist der Fokus der vorliegenden Studie breiter, da auch weitere Merkmale der Betroffenen berücksichtigt (z. B. Geschlecht, Alter, Behinderung) und neben direkten körperlichen Gewalterfahrungen auch andere Formen von Hasskriminalität erfasst wurden (Bedrohung, Vandalismus, sexualisierte Gewalt). Zusätzlich ist der methodische Zugang ein anderer: potenziell Betroffene aus Thüringen konnten anonym und relativ niedrigschwellig an der Online-Umfrage teilnehmen.
Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es, ergänzend zu bestehenden Dokumentationen, das Vorkommen von vorurteilsgeleiteter Hasskriminalität in Thüringen gegenüber Minderheiten sichtbar zu machen – vor allem ihre Folgen für die Betroffenen aus deren Perspektive.
Die leitenden Forschungsfragen lauteten:
I. Wer berichtet in Thüringen, von Hasskriminalität betroffen zu sein?
II. Welcher Art von Hasskriminalität sind die Betroffenen wie häufig ausgesetzt?
III. Welche Auswirkungen hat die berichtete Hasskriminalität auf die Betroffenen?
IV. Sind die Auswirkungen auf Betroffene von Hasskriminalität stärker als die Auswirkungen auf „nur“ von Diskriminierung Betroffene?
Erhebung von Hasskriminalität
Die Methodik und Stichprobe dieser Untersuchung sind im Beitrag von Dieckmann et al. in diesem Band beschrieben. Die Online-Umfrage lief von Juli bis September 2017. Der Fokus für diese Analysen liegt auf den Delikten Vandalismus, Bedrohung sowie körperliche bzw. sexualisierte Gewalt. Die Teilnehmenden wurden im Online-Fragebogen gebeten: „Bitte schätzen Sie ein, wie oft Sie in den LETZTEN 2 JAHREN folgende Situationen erlebt haben. Bitte denken Sie dabei an Situationen, in denen Sie sich diskriminiert gefühlt haben bzw. diskriminiert wurden.“ (Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2017). Danach beantworteten sie anhand der Antwortmöglichkeiten „nie“, „einmal“, „zweimal“, „3–5 mal“, „6–9 mal“, „10 mal oder mehr“ (sowie „keine Angabe“) die folgenden vier Fragen:
- „Mein Eigentum wurde absichtlich beschädigt.“
- „Es wurde gedroht, mir Schmerzen oder körperlichen Schaden zuzufügen.“
- „Ich wurde körperlich angegriffen.“
- „Ich habe körperliche sexualisierte Übergriffe erlebt."
Ergebnisse
In der öffentlichen Diskussion wird häufig die Frage der Repräsentativität von Untersuchungen herangezogen, um die Aussagekraft von Studien infrage zu stellen. Dabei wird unterschlagen, dass unterschiedliche Forschungsfragen nach unterschiedlichen Erhebungsmethoden verlangen. Um die Folgen von Hasskriminalität für Betroffene sichtbar machen zu können, müssen die Betroffenen – und nicht der gesellschaftliche Querschnitt – befragt werden. Die erhobene Stichprobe ist in diesem Sinne nicht repräsentativ für alle Thüringer_innen oder in Thüringen von Hasskriminalität Betroffenen. Die absoluten und relativen Häufigkeiten verschiedener Betroffenengruppen sind auch Ausdruck der Erfolge bei der Gewinnung von Teilnehmenden. Anhand dieser Zahlen lassen sich deshalb keine Schlussfolgerungen über die tatsächlichen Verteilungen von Hasskriminalität oder Betroffenengruppen ziehen, derartige Fehlinterpretationen sind zu vermeiden. Vorsicht ist zudem naturgemäß auch bei der kausalen Interpretation korrelativer Zusammenhänge geboten.
I. Wer berichtet in Thüringen, von Hasskriminalität betroffen zu sein?
Von den insgesamt 167 Personen, die an der Umfrage teilgenommen haben und angaben, in den letzten zwei Jahren von Diskriminierung betroffen gewesen zu sein, haben 103 Personen (62 %) berichtet, in mindestens einem Fall von Hasskriminalität betroffen gewesen zu sein. Demnach waren 64 Personen (38 %) „nur“ von Diskriminierung und nicht von Hasskriminalität betroffen. Die folgenden Analysen beziehen sich, wenn nicht anders angegeben, auf die 103 von Hasskriminalität Betroffenen.
Was charakterisiert die Personen, die an der Umfrage teilgenommen haben und von Hasskriminalität betroffen waren? Die Teilnehmenden waren 17 bis 65 Jahre alt (durchschnittliches Alter 34, SD4 = 11). Seit im Mittel 24 Jahren (SD = 16) wohnten sie in Thüringen, seit weniger als einem Jahr bis zu maximal 63 Jahren. Auf die Frage, welches Geschlecht den Teilnehmenden bei der Geburt zugeteilt wurde, antworteten 64 Befragte mit weiblich5 und 39 mit männlich. Bezüglich der sexuellen Orientierung gaben 70 Personen an, heterosexuell zu sein, 8 Personen homosexuell, 20 Personen bisexuell und 1 Person pansexuell (4 Personen ohne Angabe). Während 75 Personen sich als nicht religiös beschrieben, gaben 19 Personen Christentum als Religion an, 6 Personen den sunnitischen Islam und je eine Person das Judentum bzw. eine andere Religionsgemeinschaft (eine Person ohne Angabe).
Die Untersuchten kamen aus verschiedenen ländlichen und städtischen Regionen Thüringens: 51 Personen, also die Mehrzahl, kommt aus Großstädten mit über 100.000 Einwohner_innen, 8 Personen aus Städten mit 50.000 bis 100.000 Einwohner_innen, 21 Personen aus Städten mit 10.000 bis 50.000 Einwohner_innen, 10 Personen aus Orten mit 1.000 bis 10.000 Einwohner_innen und 6 Personen aus kleinen Orten mit weniger als 1.000 Einwohner_innen (7 Personen ohne Angabe).
Als höchsten Schulabschluss verfügten 2 Personen über einen Hauptschulabschluss, 9 Personen über einen Realschulabschluss, 4 Personen über einen Abschluss der Polytechnischen Oberschule, 62 Personen über Abitur und 24 Personen über die Fachhochschulreife. Eine Person verfügt über keinen Schulabschluss (drei Personen ohne Angabe). Als aktuelle Tätigkeit gaben 42 Personen Angestellte_r an, 21 Personen Studium, 9 Personen Selbstständigkeit. Zudem waren 6 Arbeiter_innen, 3 Schüler_innen, 4 Empfänger_innen sozialer Transferleistungen, 1 Beamt_in, 2 Rentner_innen sowie 1 Person in Mutterschutz/Elternzeit Teil der Stichprobe (14 Personen machten sonstige oder keine Angaben).
93 Personen gaben Deutschland als Geburtsland an und eine die DDR, 8 Personen ein anderes Land: Zwei Personen kamen aus Syrien und je eine aus Italien, Irak, Kirgisien, Polen, Senegal und Tschechien (2 Personen ohne Angabe). Insgesamt 15 Personen haben einen Migrationshintergrund, weil sie selbst oder mindestens ein Elternteil nicht in Deutschland bzw. der DDR geboren sind. Eine Person hat den Fragebogen auf Englisch ausgefüllt, alle anderen auf Deutsch. 87 Personen schätzten ihre Deutschkenntnisse als sehr gut ein, 12 Personen als gut und 4 Personen nur als mittel.
Diese soziodemografischen Daten zeigen: In Thüringen berichten ganz verschiedene Menschen von Hasskriminalität: junge und alte Männer und Frauen aus größeren Städten und kleinen Dörfern, zugehörig zu verschiedenen Religionen (oder keiner), mit und ohne Migrationshintergrund, mit verschiedenen sexuellen Orientierungen, Bildungsniveaus und Tätigkeiten.
II. Welche Art von Hasskriminalität wird wie häufig berichtet?
Als zweite Frage wurde untersucht, wie viel Hasskriminalität diese Menschen jeweils erlebt haben und wie häufig dabei die einzelnen Deliktkategorien geschildert wurden (Tabelle 1). Am häufigsten wurde von 58 Befragten über Bedrohungen berichtet. Am zweithäufigsten wurden von 50 Befragten körperliche Angriffe benannt, sexualisierte Übergriffe betrafen 48 Menschen und am seltensten wurde Vandalismus geschildert (40 Mal).
Diese Zahlen zeigen: Während der Großteil der berichteten Hasskriminalität in den letzten zwei Jahren einmalig auftrat, gab es auch viele Teilnehmende, die entweder verschiedene Formen von Hasskriminalität erlebten oder die ähnliche Vorkommnisse mehrfach erleben mussten. Beispielsweise sind jene 13 Menschen auffällig, die angaben, dass sie „10 mal oder mehr“ mit Gewalt bedroht wurden.
Zusätzlich zur Frage, wie häufig die einzelnen Delikte berichtet wurden, wurde ausgezählt, wie viele unterschiedliche Delikte die Teilnehmenden aus den letzten zwei Jahren berichtet haben. Es zeigt sich: 46 Personen haben genau ein Delikt berichtet, 32 Personen zwei verschiedene entsprechende Erlebnisse, 19 Personen berichteten von drei verschiedenen Vorfällen und 8 Personen berichteten, von allen vier hier erhobenen Formen von Hasskriminalität betroffen gewesen zu sein. Das heißt: Über die Hälfte der Befragten war in den letzten zwei Jahren von mehr als nur einer Art von Hasskriminalität betroffen.
III. Welche Auswirkungen hat Hasskriminalität auf die Betroffenen?
Auswirkungen auf die Lebensqualität
Um die dritte Frage zu beantworten und die Auswirkungen von Hasskriminalität auf die Betroffenen zu untersuchen, wurden zunächst mit verschiedenen Fragen unterschiedliche Indikatoren für deren Allgemeinbefinden erfasst (siehe Dieckmann et al. in diesem Band). Erhoben wurden dazu das aktuelle allgemeine Wohlbefinden sowie psychosomatische (also körperliche) Krankheitssymptome. Die Intensität der berichteten Hasskriminalität wurde als Summe der Häufigkeiten der erlebten vier Kategorien von Hasskriminalität abgebildet, höhere Zahlen bedeuten hier häufigere Betroffenheit von Hasskriminalität (durch Erleben verschiedener Delikte und/oder mehrfaches Erleben des gleichen Deliktes).
Die Zusammenhänge zwischen der Intensität der Hasskriminalität und den beiden Indikatoren für das Allgemeinbefinden der Teilnehmenden wurden als bivariate Korrelationen berechnet. Mehr berichtete Hasskriminalität ging mit signifikant geringerem allgemeinen Wohlbefinden einher (r = -,27, p = ,007). Das bedeutet: Menschen, die mehr Hasskriminalität erleben, fühlen sich insgesamt schlechter in ihrem Leben. Der Zusammenhang mit psychosomatischen Beschwerden war statistisch nicht bedeutsam.
Auswirkungen auf das Vertrauen in politische Institutionen
Zudem wurde betrachtet, welche Auswirkungen das Erleben von Hasskriminalität auf das Vertrauen in politische Institutionen der Bundesrepublik hat. Das Vertrauen wurde mit den folgenden vier Fragen erhoben (Best et al. 2017): „Wieviel Vertrauen haben Sie in folgende öffentliche Einrichtungen? – Bundesregierung, Landesregierung, Gerichte, Polizei“; die Antwortmöglichkeiten bestanden aus: „vertraue gar nicht“, „vertraue eher nicht“, „vertraue teilweise“, „vertraue weitgehend“, „vertraue voll und ganz“ (und „keine Angabe“).
Am höchsten ist das Vertrauen in die Gerichte: 50 Prozent vertrauten diesen „weitgehend“ oder „voll und ganz“, dann folgt die Landesregierung mit 31 Prozent, danach die Polizei mit 30 Prozent, gefolgt von der Bundesregierung mit nur 20 Prozent (vgl. Abbildung 1). Zusammenhangsanalysen zeigen, dass sowohl das Vertrauen in Gerichte (r = -,29, p = ,004) als auch in die Polizei (r = -,36, p < ,001) signifikant abnimmt, je mehr Hasskriminalität in den letzten zwei Jahren erlebt wurde. Das Vertrauen in die Bundes- und Landesregierung blieb unabhängig davon.
Der Thüringen-Monitor ist eine jährliche repräsentative Befragung. Das Institutionenvertrauen wird dort mit den gleichen Fragen erhoben (ebd.: 75). Das ermöglicht es, die Werte der von Hasskriminalität Betroffenen aus der vorliegenden Studie mit den durchschnittlichen Werten aller Thüringer_innen zu vergleichen (Abbildung 1). Die Zahlen belegen: Von Hasskriminalität Betroffene vertrauen im Vergleich zur repräsentativen Stichprobe des Thüringen-Monitors 2016 der Bundesregierung, der Landesregierung und den Gerichten ähnlich stark. Auffällig ist allerdings, dass das Vertrauen in die Polizei weniger als halb so stark ausgeprägt ist (30 % vertrauen der Polizei „voll und ganz“ oder „weitgehend“) als bei den repräsentativ befragten Thüringer_innen (64 %). Somit leidet infolge von Hasskriminalität das Vertrauen in die Polizei massiv. Eine mögliche Ursache dessen ist der Umgang der Thüringer Beamt_innen mit von Hasskriminalität Betroffenen. Wie eine Studie von 2014 zeigt, ist das Handeln der Beamt_innen aus Sicht der von rechtsextremen Gewalttaten Betroffenen häufig sehr problematisch: Viele fühlten sich nicht ernst genommen, als Täter statt als Opfer behandelt, sahen sich mit Vorurteilen konfrontiert und hatten den Eindruck, die Polizei sei nicht an der Aufklärung der politischen Motive der Tat interessiert gewesen (Quent et al. 2014).
IV. Sind die Auswirkungen auf Betroffene von Hasskriminalität stärker als die Auswirkungen auf "nur" von Diskriminierung Betroffene?
Dieckmann et al. (im vorliegenden Band) berichten: Das Erleben von Diskriminierung geht einher mit verringertem Wohlbefinden und verstärkten körperlichen Beschwerden sowie mit verringertem Vertrauen in verschiedene politische Institutionen. In der wissenschaftlichen Fachliteratur wird berichtet, das Erleben von Hasskriminalität beeinflusse die Betroffenen stärker negativ als das Erleben von Diskriminierung (Iganski 2009). Deshalb wurde zur Beantwortung der vierten Forschungsfrage auch in der Thüringer Stichprobe geprüft, inwiefern das Erleben von Hasskriminalität für die Betroffenen stärkere negative Auswirkungen hat als das Erleben von „bloßer“ Diskriminierung.
Um dies zu prüfen, wurde die Gesamtstichprobe (N = 167) in zwei Teile geteilt: einerseits Personen, die in den letzten zwei Jahren Diskriminierung erlebt haben, aber keine Hasskriminalität (von Diskriminierung Betroffene, n = 64; 38 %) und andererseits Personen, die sowohl Diskriminierung als auch Hasskriminalität berichtet haben (von Diskriminierung und Hasskriminalität Betroffene, n = 103; 62 %). In der Stichprobe fanden sich keine Personen, die nur Hasskriminalität und keine Diskriminierung berichtet hatten. Im Folgenden werden Unterschiede zwischen diesen beiden Gruppen analysiert, wobei diese Unterschiede neben dem Erleben von Hasskriminalität theoretisch auch andere, hier nicht erfasste Ursachen haben können. Die Ergebnisse von Mittelwertvergleichen zwischen diesen beiden Teilgruppen zeigen: Jene 103 Personen, die sowohl von Diskriminierung als auch von Hasskriminalität berichtet haben, berichteten von tendenziell mehr psychosomatischen Beschwerden (vgl. Tabelle 2). Zudem war das Vertrauen in die Polizei in dieser Gruppe signifikant geringer. Auch das Sicherheitsgefühl ist für von Hasskriminalität Betroffene signifikant verringert: Sie fühlten sich in Thüringen weniger vor Diskriminierung geschützt und befürchteten stärker, erneut in Situationen zu kommen, in denen sie diskriminiert werden, als Personen, die „nur“ von Diskriminierung betroffen waren. Insgesamt fühlten sie sich in Thüringen signifikant weniger „wohl und geschätzt“. Dies äußert sich auch in dem verstärkten Wunsch, Thüringen aufgrund der Erfahrungen mit Diskriminierung zu verlassen.
Es zeigen sich zudem kollektive Auswirkungen von Hasskriminalität: Die Zustimmung zur Aussage „Mir nahestehende Menschen haben durch meine Erfahrungen mit Diskriminierung Angst, selber Opfer von Diskriminierung zu werden.“ ist in dieser Teilgruppe signifikant erhöht. Dies ist ein Ausdruck von kollektiver Viktimisierung, wobei nicht selbst betroffene Mitglieder der sozialen Gruppe der angegriffenen Personen indirekt auch geschädigt werden. Hasskriminalität ist immer auch ein symbolischer Angriff auf die ganze gesellschaftlich stigmatisierte Gruppe der Betroffenen (Strobl et al. 2003): Sie beschädigt das Vertrauen in geltende soziale Normen und deren Durchsetzung durch den Staat und verbreitet Angst und Schrecken in der angegriffenen Gruppe. Das heißt, auch nicht direkt betroffene Personen, die aber der Gruppe des Opfers angehören, leiden unter diesen Angriffen. In Bezug auf die anderen erhobenen Auswirkungen fanden sich keine bedeutsamen Unterschiede zwischen den beiden Gruppen.
Insgesamt belegt dies, in Übereinstimmung mit bestehender Forschung: Hasskriminalität hat tatsächlich stärkere Auswirkungen auf die Betroffenen als „bloße“ Diskriminierung. Im vorliegenden Fall äußerte sich das in tendenziell stärkeren körperlichen Beschwerden und verringertem Vertrauen in die Polizei. Zudem ist das Sicherheitsgefühl in Thüringen beeinträchtigt – und zwar nicht nur für die direkt Betroffenen, sondern auch für ihnen nahestehende Menschen. Auch der Wunsch, Thüringen aufgrund dieser Erfahrungen zu verlassen, war bei Betroffenen von Hasskriminalität tendenziell stärker ausgeprägt.
Zusammenfassung der Ergebnisse
Insgesamt zeigt diese Studie: In Thüringen sind verschiedene Minderheiten von Hasskriminalität betroffen. Hasskriminalität kann fast jeder oder jedem zustoßen. Es gab zudem viele Teilnehmende, die entweder verschiedene Formen von Hasskriminalität erlebt haben oder die ähnliche Vorkommnisse mehrfach erleben mussten: Über die Hälfte der Befragten war in den letzten zwei Jahren von mehr als einem Delikt betroffen. Am häufigsten wurde dabei von Bedrohungen berichtet, am zweithäufigsten über körperliche Angriffe, dann folgen sexualisierte Übergriffe und Vandalismus. Bezüglich der Auswirkungen auf die Betroffenen ergab sich: Mehr berichtete Hasskriminalität geht einher mit verringertem allgemeinen Wohlbefinden und verringertem Vertrauen in die Polizei. Die Auswirkungen waren für Menschen, die von Diskriminierung und Hasskriminalität betroffen sind, schlimmer im Vergleich zu solchen, die „nur“ von Diskriminierung berichtet haben. Erstere berichteten im Vergleich ein geringeres Vertrauen in die Polizei. Ihr Sicherheitsgefühl in Thüringen war stärker beeinträchtigt. Das gilt zusätzlich auch für Menschen aus ihrem direkten Umfeld. Der Wunsch, Thüringen aufgrund dieser Erfahrungen zu verlassen, war bei Betroffenen von Hasskriminalität stärker ausgeprägt.
Zusammenfassend ergeben diese Befunde, in Übereinstimmung mit früheren internationalen Studien, dass Hasskriminalität die Lebensqualität der Betroffenen stark beeinträchtigt – und das zeitlich weit über die Situation hinaus, in der sie stattfand. Negative Auswirkungen zeigen sich nicht nur für die direkt Betroffenen, sondern auch bei ihnen nahestehenden Menschen.
Methodenreflexion
Die Untersuchungsteilnehmenden ergeben eine sogenannte „selbst selektierte Stichprobe“, das heißt, sie haben freiwillig entschieden, ob sie bei der Online-Umfrage mitmachen. Insofern ist diese Stichprobe nicht repräsentativ, weder für in Thüringen von Diskriminierung und Hasskriminalität Betroffene noch für die Thüringer Allgemeinbevölkerung. Das durchschnittliche Bildungsniveau der Stichprobe ist beispielsweise höher als der thüringische Durchschnitt und Angestellte und Studierende sind in der Stichprobe überrepräsentiert.
Zusätzlich ist zu fragen, welche hier lebenden Menschen trotz Diskriminierungserfahrungen nicht an der Studie teilnehmen konnten. Wessen Erfahrungen konnten – beispielsweise aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse oder fehlender Verfügbarkeit des Internets – hier nicht sichtbar gemacht werden? Die Studie war nur in Deutsch und Englisch verfügbar. Deshalb sind beispielsweise Geflüchtete und Migrant_innen in der Stichprobe unterrepräsentiert, obwohl sie im Vergleich zur einheimischen Bevölkerung mit Sicherheit häufiger von Rassismus und rassistischer Hasskriminalität betroffen sind. Diese Unterrepräsentation in der Stichprobe betrifft nicht nur Migrant_innen, sondern allgemein Menschen mit eingeschränkter gesellschaftlicher Teilhabe (aus ganz verschiedenen Gründen, z. B. Wohnungslosigkeit, Behinderung, Sprachbarriere, soziale Isolation).
Zur Untersuchung dieser besonders vulnerablen Personengruppen sind in Zukunft andere Untersuchungsansätze nötig, z. B. durch aufsuchende Interviews in verschiedenen Fremdsprachen.
Ausblick und Konsequenzen
Welche Schlussfolgerungen lassen sich aus diesen Ergebnissen ziehen? Für die Betroffenen von Hasskriminalität ist erstens stärkere Unterstützung nötig, um die hier dokumentierten langfristigen negativen Auswirkungen zu minimieren. Sie müssen mit ihren Erfahrungen ernst genommen werden und bei Bedarf durch professionelle Opferberatungsstellen psychologische und juristische Unterstützung erhalten können. Die hohe Bedeutung von Opferberatung und -unterstützung impliziert: Opferberatungsstellen wie ezra in Thüringen müssen dauerhaft so gefördert werden, dass sie den (leider zuletzt steigenden) Bedarf weiterhin decken können. Die Selbstorganisation von Betroffenengruppen sollte zweitens gefördert werden, als Empowerment und um ihnen eine gemeinsame Stimme zu ermöglichen, damit sie ihre Forderungen adressieren und gesellschaftliche Wirkmacht entfalten können.
Drittens ist eine verstärkte Implementierung des menschenrechtsorientierten Ansatzes der Hasskriminalität im polizeilichen Definitionssystem sowie in der Praxis der für die innere Sicherheit und die Justiz zuständigen Behörden empfehlenswert: Staatliche Institutionen müssen dem Auftrag des Diskriminierungsschutzes nachkommen und durch ihre Handlungen die Gleichstellung von abgewerteten Gruppen unterstützen. Vorurteilsgeleitete Tatmotive, etwa Rassismus, müssen erkannt und benannt werden (vgl. Beitrag von Quent in diesem Band). Viertens ist ein kontinuierliches und systematisches Monitoring (also Beobachtung und Protokollierung) von Hasskriminalität nötig. Auch europäische Institutionen, etwa die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (2016: 12), fordern dies von den EU-Mitgliedsländern. Dies ist nötig, weil objektive, verlässliche und vergleichbare Daten es ermöglichen, die Größe des Problems einzuschätzen und geeignete Maßnahmen zum Schutz von Minderheiten treffen zu können. Dies ist einerseits Aufgabe von Polizei und Innenministerium. Es müssen Beamt_innen geschult werden, um in der Lage zu sein, Hasskriminalität zu erkennen und zu dokumentieren. Andererseits sollten auch zivilgesellschaftliche Organisationen (wie z. B. in Thüringen ezra: www.ezra.de/chronik/ oder MOBIT: www.mobit.org/chronik-extrem-rechter-aktivitaeten-in-thueringen) Vorfälle dokumentieren und veröffentlichen. Auch Studien, wie die vorliegende, sollten regelmäßig verwirklicht werden – bestenfalls mit größeren Stichproben, mehreren Sprachen und nicht nur online.
Ein weiterer Ansatz zur Dokumentation von Auftreten und Auswirkungen von Hasskriminalität sind repräsentative Dunkelfeldstudien. Dabei wird die Gesamtbevölkerung einer Region repräsentativ zu ihren Erfahrungen mit (Hass-)Kriminalität befragt (LKA Niedersachsen 2017). Dies ermöglicht Aussagen über die tatsächlichen Prävalenzen (Auftretenshäufigkeiten) verschiedener Straftaten (im Gegensatz zu Hellfeldstatistiken, die nur polizeilich Bekanntes berichten). Es ermöglicht auch, die räumliche Verteilung bestimmter Delikte genauer zu beschreiben und, wenn als regelmäßige Untersuchung durchgeführt, Veränderungen über die Zeit zu dokumentieren. Derartige Studien, bei denen zehntausende Bürger_innen anonym und freiwillig befragt werden, um diejenigen erfassen zu können, die Hasskriminalität erlebt haben, sind logistisch und finanziell aufwendig.
Als weitere Maßnahmen gegen Hasskriminalität dienen Aufklärung der Gesellschaft und politische Bildung, die zeigen, wer wie stark betroffen ist und welche Auswirkungen es auf die Betroffenen, ihre Gruppe und die Gesellschaft insgesamt hat. Zusätzlich zu den individuellen Folgen von Hasskriminalität muss auch auf ihre kollektive und gesellschaftliche Dimension hingewiesen werden. Diskriminierung und Hasskriminalität zielen nicht nur und nicht in erster Linie auf das betroffene Individuum. Die Täter_innen meinen eine ganze „Gruppe“ und die Taten haben eine Appellwirkung: „Ihr seid hier nicht erwünscht“ oder „Ihr seid weniger wert als wir“. Darin werden sie bestätigt, wenn aus dem direkten sozialen Umfeld und der Gesellschaft keine Ablehnung der Taten und Solidarität mit den Betroffenen spürbar wird, im schlimmsten Fall dagegen Zustimmung zu den Taten, Täter-Opfer-Umkehr, Ignoranz und Desinteresse. Bei den Betroffenen kommt in solchen Fällen an, dass die Täter_innen Zustimmung erfahren und sie als Opfer keine Unterstützung bekommen. Bei den Täter_innen kommt an, dass andere Menschen ihnen eigentlich zustimmen, sich selbst aber nicht zu handeln trauen. Kommunalpolitisches Verhalten, also das Handeln oder Schweigen von Umfeld und Autoritäten, spielt eine wichtige Rolle für solche Deutungen. Nicht zuletzt deshalb ist politische, mediale und gesellschaftliche Solidarität mit Betroffenen von Hasskriminalität gefragt – da Hasskriminalität immer auch einen Angriff auf die Grundwerte unserer Gesellschaft darstellt. Der oder die Einzelne sollte sich täglich in der Öffentlichkeit konsequent allen Formen von Diskriminierung und Hass entgegenstellen.
1 Hasskriminalität betrifft also nicht nur Minderheiten. Beispielsweise sind Frauen in Deutschland in der Mehrheit.
2 Die aktuellen Zahlen für 2017 liegen noch nicht vor.
3 Vielen Dank an Christina Büttner von ezra für die Unterstützung bei der Erstellung dieses Textes.
4 SD = standard deviation, Standardabweichung des Mittelwerts.
5 Wir verzichten auf Prozentangaben, da diese bei n = 103 jeweils mit der absoluten Anzahl fast identisch sind.
Literatur
Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (2016)
: Hasskriminalität in der Europäischen Union sichtbar machen: die Rechte der Opfer anerkennen. Online: fra.europa.eu/sites/default/files/fra-2012_hate-crime-de.pdf [09.10.2017].
Antidiskriminierungsstelle des Bundes (2017):
Diskriminierung in Deutschland – Dritter Gemeinsamer Bericht der Antidiskriminierungsstelle des Bundes und der in ihrem Zuständigkeitsbereich betroffenen Beauftragten der Bundesregierung und des Deutschen Bundestages. Online: www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/Downloads/DE/publikationen/BT_Bericht/Gemeinsamer_Bericht_dritter_2017.html [08.11.2017].
Best, Heinrich/Niehoff, Steffen/Salheiser, Axel/Vogel, Lars (2017)
: Politische Kultur im Freistaat Thüringen. Gemischte Gefühle: Thüringen nach der „Flüchtlingskrise“. Ergebnisse des Thüringen-Monitors 2016. Online: www.thueringen.de/mam/th1/tsk/thuringen-monitor_2016_mit_anhang.pdf [24.07.2017].
Bundesregierung (2014)
: Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Stephan Mayer (Altötting) u.a. – Drucksache 18/1207 – Politisch motivierte Straftaten in Deutschland im März 2014. Online: dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/013/1801344.pdf [14.11.2017].
Büttner, Christina (2017): Rechte, rassistische und antisemitische Gewalt in Thüringen – Entwicklungen, Analysen und Handlungsfelder für die Unterstützung Betroffener. In: Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft [Hrsg.]: Wissen schafft Demokratie 2017/01. Amadeu Antonio Stiftung: Berlin.
Iganski, Paul (2009): Hate Crimes. The Consequences of Hate Crimes. Praeger.
Iganski, Paul/Lagou, Spiridoula (2009): How hate crimes hurt more: evidence from the British crime survey. In: Perry, Barbara/Levin, Brian [Hrsg.]: Hate crimes. Volume 2. Greenwood Publishing Group: Westport, S. 1–13.
Geschke, Daniel (2017): Alle reden von Hass. Was steckt dahinter? Eine Einführung. In: Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft [Hrsg.]: Wissen schafft Demokratie 2017/01. Amadeu Antonio Stiftung: Berlin.
LKA Niedersachsen (2017)
: LKA-NI: Dunkelfeldstudie – Dritte Befragung zu Sicherheit und Kriminalität in Niedersachsen startet. Online: www.presseportal.de/blaulicht/pm/105578/3573379 [09.10.2017].
Quent, Matthias/Geschke, Daniel/Peinelt, Eric (2014): Die haben uns nicht ernst genommen. Eine Studie zu Erfahrungen von Betroffenen rechter Gewalt mit der Polizei. Online: www.ezra.de/fileadmin/projekte/Opferberatung/download/EzraStudie_klein.pdf [06.10.2017].
Strobl, Rainer/Lobermeier, Olaf/Böttger, Andreas (2003): Verunsicherung und Vertrauensverlust bei Minderheiten durch stellvertretende und kollektive Viktimisierungen. In: Journal für Konflikt- und Gewaltforschung/Journal of Conflict and Violence Research, 5, Heft 1, S. 29–48.